EINE FRAGE
DER ROMANTIK
LANSBERG AN DER WUPPER, 13. OKTOBER
HAUS DER MÜHLFORDS
Am nächsten Morgen nehme ich Annas Angebot vom Vortag dankbar an. Ich bin extra noch ein paar Minuten eher aufgestanden, um nicht wieder meiner Mutter am Frühstückstisch zu begegnen, und warte nun in der Auffahrt auf sie. Dummerweise steht eine getunte Protzkarre genau vor unserem Haus, sodass ich die Straße nicht besonders gut einsehen kann. Während ich mich frage, wie meine Mutter mit dem Dildomobil zur Arbeit fahren soll, wenn dieser tiefergelegte VW den Weg versperrt, quietscht hinter mir die Haustür. Ich verdrehe die Augen. Na toll. Mama hat mich erwischt.
Gegen meinen Willen gehe ich gedanklich all meine sogenannten Problemzonen durch und überlege, was ihr wohl heute dazu einfällt: Ist dieser Rollkragenpullover nicht ein bisschen zu eng? An den Seiten sieht man deutlich, dass dein BH einschneidet. Im Internet kann man sich Verlängerungen für den Verschluss kaufen, wusstest du das? Dass High Waist Jeans momentan so in sind, ist echt ein Fluch für dich. Lass den Pulli doch lieber locker drüberfallen, statt ihn reinzustecken, das macht den Unterbauch schlanker. Und apropos schlanker: Ich habe gelesen, Ponyfrisuren drücken das Gesicht und lassen es runder wirken.
Vielleicht sind diese Gedanken masochistisch. Aber es kommt mir vor, als hätte ich die Situation besser im Griff, wenn ich ihr diese Kommentare vorwegnehme. Es ist wie eine Wette, die ich gegen mich selbst abschließe: Für welchen gut gemeinten Ratschlag wird sie sich heute entscheiden?
»Morgen«, brummelt eine Stimme hinter mir. Ähm … dieser Bariton gehört ganz sicher nicht meiner Mutter!
Mit einer bösen Vorahnung drehe ich mich in Zeitlupe zur Eingangstür um. Ein Typ, der maximal sieben- oder achtundzwanzig sein mag, schlurft über die Schwelle, dahinter meine Mutter in einem seidenen, viel zu locker geknoteten Kimono, unter dem sie kokett die Beine überkreuzt.
»Gregor, das ist meine Tochter Apolonia.«
Noch bevor sie bei meinem Namen ankommt, hat mein Gehirn beschlossen, keinen Speicherplatz für seinen frei zu machen. Wenigstens kann ich jetzt die Karre zuordnen, die uns zugeparkt hat.
»Wow.« Wie-hieß-er-noch-gleich? fixiert abwechselnd mich und die Frau, mit der er heute Nacht … Puh. Nein, für dieses Kopfkino werde ich ganz sicher ebenfalls keinen Speicherplatz verschwenden. »Ihr … Mutter und Tochter also?«
»Was?«, frage ich genervt. »Geschockt, weil du dachtest, sie wäre Ende zwanzig, oder weil du dich fragst, wie mein Vater wohl aussehen muss?«
»Polly!«, zischt meine Mutter. Komischerweise benutzt sie meinen Kosenamen, um mich zu tadeln, und die lange Version, wenn sie normal mit mir redet. Weil diese Frau einfach nichts auf konventionelle Weise tun kann. »Was machst du überhaupt hier draußen?«
»Anna holt mich ab«, knurre ich.
»Ach Anna …« Anna ist für meine Mutter so etwas wie die Tochter, die sie nie hatte. Eine Sehnsucht, die zum Großteil darauf fußt, dass sie immer davon geträumt hat, mit ihrer Tochter Klamotten tauschen zu können. Wahrscheinlich würde Anna lieber sterben, als in die glitzernden Nicki-Anzüge meiner Mum zu schlüpfen, aber wenigstens würden sie ihr rein theoretisch passen.
»Trainiert Anna noch so oft mit ihren Eltern? Vielleicht kannst du ja mal mitmachen? Ich habe eine Bekannte, die mit dem Programm der Jagodas fünfzehn Kilo abgenommen hat. Fünfzehn Kilo! In zehn Wochen! Kannst du dir das vorstellen?«
Ich liebe es, um halb acht am Morgen schon über solche Themen diskutieren zu müssen. Dem Typ mit der Tuningkarre scheint es ähnlich zu gehen. Er sieht aus, als suche er nach einem Weg, sich der Situation möglichst schnell entziehen zu können. Tja, Gregor, meine Mutter schafft es immer, dass sich alle Beteiligten – und Nichtbeteiligten – unwohl fühlen.
Verdammt … Ich wollte seinen Namen doch überhaupt nicht speichern!
Dass Mama nicht mal vor ihren Lovern die Schnauze über mein Gewicht halten kann, legt einen Schalter in mir um. Ich will hier weg. Koste es, was es wolle. Also … im metaphorischen Sinne. Es sollte idealerweise nur so viel kosten, wie ich zur Verfügung habe, aber ich bin nun bereit, Abstriche zu machen. Sobald ich bei Anna im Auto sitze, werde ich meine Suchanfragen auf den Immobilienportalen ändern und auch WGs zulassen. Alles ist besser als das hier.
Plötzlich fällt mir Jonas’ Angebot wieder ein. Wieso um alles in der Welt habe ich es ausgeschlagen? So könnte ich wenigstens die nächsten Tage meinen Traum leben und müsste nicht mehr Abend um Abend in das Haus der unterschwelligen Vorwürfe zurückkehren.
»Ist das Anna?« Meine Mutter deutet an mir vorbei zur Straße. Ich folge dem Fingerzeig und erkenne tatsächlich das babyblaue Auto, das in zweiter Reihe neben dem VW von Wie-hieß-er-noch-gleich? anhält.
Statt direkt zu Anna zu eilen, mache ich etwas, das sehr untypisch für mich ist: Ich gebe einem Impuls nach. »Ich muss noch mal kurz rein.«
»Findest du die Uni nach zwei Tagen schon so geil, dass du direkt einziehen willst?« Anna mustert den Trolley, den ich hinter meinen Sitz gestopft habe, kritisch im Rückspiegel.
»Auch keine schlechte Idee. Ich wette, es gibt ein paar Reihen in der Bibliothek, in denen ich mein Lager aufschlagen könnte, ohne dass mich je irgendwer zu Gesicht bekäme.«
»Und was hast du wirklich vor?«
Ich stelle eine Gegenfrage: »Gibst du mir Jonas’ Nummer?«
»Jonas wie in mein Bruder Jonas?«
»Yes.«
»Ähm. Klar. Nimm sie dir.« Sie deutet auf ihr Handy, das auf der Ablage in der Mittelkonsole ruht. Ich entsperre das zartlila iPhone, indem ich es kurz vor Annas Gesicht halte, und scrolle mich dann durchs Telefonbuch.
»Du hast deinen Bruder unter Jonas Jagoda eingespeichert?«
»So heißt er nun mal.« Sie zuckt mit der Schulter, über die sie gerade blickt, um sich gefahrlos in den Autobahnverkehr einfädeln zu können.
»Ich pack’s nicht. Du hast sogar Fynn mit Vor- und Nachnamen eingespeichert. Wie unromantisch bist du denn?«
Anna lacht. Die Haut an ihren Wangen wirft symmetrische, grübchenartige Fältchen, die rein gar nichts mit dem Alter zu tun haben, sondern genauso aussehen wie … wie die von Jonas. Wenn meine Eltern länger als drei Jahre verheiratet geblieben wären, hätte ich dann auch ein Geschwisterchen bekommen, mit dem ich solche kleinen Details teilen würde? Oder wäre ich mit einer perfekten Schwester gesegnet worden, in deren Schatten ich vor mich hin vegetieren müsste?
»Was ist, wenn ich mal einen Unfall oder so etwas habe und die Polizei in meinen Kontakten nach ihm suchen muss?« Anna fuchtelt diplomatisch mit den Händen.
»Du hast die Nummer von deinem Lover eingespeichert und dir dabei ausgemalt, wie du einen Unfall hast? Wie entzückend.« Ich scrolle weiter durch ihr Telefonbuch. »Puh, immerhin hast du mich nicht unter Apolonia drin, ich bin erleichtert.«
»Nimm dir einfach Jonas’ Nummer und halt die Klappe. Wofür brauchst du die überhaupt?«
Mein Herzschlag beschleunigt sich aus mir unerfindlichen Gründen. Ich bin doch sonst nie um Worte verlegen? Wieso habe ich jetzt plötzlich ein ungutes Gefühl dabei, Anna meinen Plan darzulegen?
»Er hat angeboten, dass ich die Woche bei ihm pennen kann. Bis sein Kumpel das freie Zimmer bezieht.«
Anna wirft einen kurzen Blick zu mir. »Ich wusste gar nicht, wie nett Jonas sein kann.«
Wieso bin ich so erleichtert, dass das ihre Reaktion ist? Egal. I’ll take it.
»Du findest es also nicht weird?«
»Wieso sollte ich?« Während ich mir selbst Jonas’ Kontakt über Annas WhatsApp-Account zuschicke, zieht diese so schnell an einer Reihe anderer Fahrer vorbei, als ginge es um die Poleposition in der Formel 1. »Du schläfst ja nicht in seinem Bett.«
»Nein!« Ich lache und puste meinen Pony zurecht. »Ich trinke nur seinen Kaffee.«
»Verständlich. Unter Geschwistern gesteht man sich ja ungern Talente zu, aber Jonas ist echt ein Pro an der Kaffeemaschine.« Anna lässt den nächsten hochmotorisierten Audi rechts neben sich wie eine Schnecke wirken. Wenn sie so weitermacht, sind wir in zehn Minuten an der Uni. »Außerdem«, sie lacht auf, weil sie sich innerlich wohl schon über das amüsiert, was sie gleich sagen wird, »wenn sich die Lage über den Sommer nicht drastisch verändert hat, ist Jonas’ Bett eh keine drei Nächte am Stück frei.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Ich wusste es doch: Das echte Leben und Tinder sind zu viel des Guten bei einem Jagoda’schen Prachtexemplar.
Anna interpretiert meine Miene als Frage und erklärt sich: »Er und Isabella haben vor ein paar Monaten Schluss gemacht und seitdem ist er wie ausgewechselt. Er trifft sich aber noch ständig mit ihr und denkt, dass es keiner weiß.« Sie schüttelt sich übertrieben. »Iiih. Sex mit dem Ex ist ja so gar nicht mein Ding …«
»Wer ist Isabella?«, frage ich nur und übergehe die Sache mit dem Sex und dem Ex. Ich werde ganz sicher niemals mit meinem Ex ins Bett gehen. Die Bezeichnung Ex ist sowieso viel zu schmeichelhaft für Laurenz. Sie sollte Menschen vorbehalten sein, die sich öffentlich zu dir bekannt haben …
»Kennst du sie nicht? Ich könnte schwören, dass sie mal auf meinem Geburtstag dabei war.« Meine Augenbraue kriecht noch weiter meine Stirn empor, weil ich keine Ahnung habe, von wem Anna spricht. »Jonas’ große Liebe«, sagt sie und klingt dabei fast ein wenig abfällig. Anna scheint kurzzeitig vergessen zu haben, dass sie jetzt auch einer dieser ekelhaften Menschen ist, die an die große Liebe glauben. »Sie waren zwei oder drei Jahre zusammen und wollten Anfang des Jahres in eine gemeinsame Wohnung ziehen, aber dann hat es gekracht und es wurde nichts daraus. Keiner weiß, wieso.«
»Aha«, entgegne ich nüchtern und darauf bedacht, nicht allzu neugierig über das Liebesleben praktisch fremder Menschen zu gossipen. Doch ich muss gar nicht nachbohren, um weitere Details zu erfahren. Anna redet unaufgefordert weiter: »Er war total down. Also wirklich wie ausgewechselt. Er ist kaum noch zum Sport, hat zugenommen – das ganze Programm.«
»Muss eine richtige Traumfrau gewesen sein«, kommentiere ich trocken.
»Jonas ist eben ein echter Romantiker. Er würde seine Liebste nie mit Vor- und Nachnamen im Handy einspeichern.«
»Du hängst die Latte für Romantik wirklich hoch. Fynn ist ein Glückspilz.«
Anna lacht laut und setzt den Blinker, um die Autobahn zu wechseln. »Fynn ist romantisch genug für uns beide. Heute Abend macht er mir Pommes.«
»Wow. Also echt mal. POMMES!«
Ich sehe von der Seite, wie sie die Augen verdreht. »Du bist doch nur neidisch.« Anna streckt mir die Zunge raus. »Wir haben bei unserem ersten Date Pommes gegessen.«
»Ja. An einem Atlantikstrand. Wenn er dir zwei Tonnen Sand in seinem Wohnzimmer aufschütten und dort die Pommes servieren würde, bestünde eine kleine Chance, dass ich neidisch werden würde.«
Anna macht ein neckendes Schnalzgeräusch mit der Zunge und nennt mich eine Spinnerin.
Polly
Steht dein Angebot noch?
Ich klicke auf Senden, bevor ich es mir anders überlegen kann, und jage schnell ein Foto hinterher, das meine kryptische Nachricht erklären soll: mein Koffer, dramatisch aus der Froschperspektive aufgenommen, sodass er sich überlebensgroß vor der Uni im Hintergrund erhebt. Der Vorplatz zum Gebäude der Rechtswissenschaftlichen Fakultät ist wie ausgestorben. Schließlich ist immer noch Ersti-Woche und darüber hinaus ist es erst kurz vor neun.
Ein wenig nervös starre ich auf die Kopfzeile des neuen Chatfensters, in der Jonas’ Name und sein Avatar zu sehen sind. Er hat sein WhatsApp-Profil so eingestellt, dass jeder, der seine Nummer besitzt, das kleine Bildchen sehen kann. Während ich also neben meinem Koffer auf seine Antwort warte und dabei die neueste Folge meines liebsten Podcasts My Favorite Murder anhöre, stalke ich ein bisschen das Foto. Es zeigt Jonas im Halbdunkel, beleuchtet von Hunderten verschwommenen Lichtpünktchen irgendeiner Stadt bei Nacht. Er hat eine Hand in den Haaren, den Kopf leicht schief gelegt. Auf seinen Lippen liegt ein atemberaubendes Lächeln. So ein Lächeln bringt man nur zustande, wenn hinter der Kamera jemand ganz Besonderes steht.
Jesus … Wenn er dieses Bild auch auf seinem Tinder-Profil benutzt, bekommt die App bestimmt jedes Mal Serverprobleme, sobald er sich einloggt. Was ist es nur, das viele Frauen dazu bringt, Typen wie Jonas zu mögen? Ja, er sieht gut aus. Ja, er ist verdammt nett. Und ja, Anna zufolge glaubt er an die große Liebe. Aber es ist so verdammt leicht, jemanden zu lieben, der schön, freundlich und romantisch ist. Ich mag es irgendwie weniger … offensichtlich. Ich mag Männer, die wissen, was sie wollen. Die sich neben mir nicht klein fühlen. Die etwas richtig gut können, ihren Job zum Beispiel. Und eine Leidenschaft dafür haben. Die mir Freiraum geben und mich einfangen, wenn ich durchbrenne. Die kein Problem damit haben, wenn ich einmal mehr Geld nach Hause bringen werde als sie, diese Tatsache aber nie dazu missbrauchen, sich vor ihren Freunden wie die großen Feministen aufzuführen. Ich möchte niemanden, der sich dafür feiert, dass er mit einer starken Frau zusammen ist. Oder, Gott bewahre, jemanden, der vor seinen Kumpels grölt, er habe mich gewählt, denn: Richtige Männer stehen auf Kurven, nur Hunde spielen mit Knochen. Wuaaah. Es schüttelt mich schon bei dem Gedanken. Ich will nicht geliebt werden, weil ich bin, wie ich bin, und auch nicht, obwohl ich bin, wie ich bin. Ich will, dass Liebe kein bewusster Denkprozess ist, sondern einfach passiert.
Tja.
Und weil ich nicht bescheuert bin, sondern über ein ziemlich rationales Gehirn verfüge, weiß ich, dass es das alles nicht gibt. Es gibt keine schnulzige Superliebe, die all diese Voraussetzungen erfüllt. Es gibt lediglich Menschen, die irgendwann beschließen, zusammen zu sein und das Beste daraus zu machen.
Ich bin wirklich eine Heuchlerin … Ausgerechnet ich habe Anna vorgeworfen, nicht romantisch zu sein.
Erst als der zwischenzeitlich schwarz gewordene Bildschirm meines Handys aufleuchtet und eine neue Nachricht anzeigt, kann ich mich aus der Gedankengrube, die ich mir geschaufelt habe, befreien. Ich schenke dem weißen Kasten auf dem Screen nur beiläufig Beachtung, doch als ich sehe, dass es tatsächlich eine Antwort von Jonas ist, siegt die Neugier.
Jonas Jagoda
Ich wusste doch, dass dir der Kaffee nicht mehr aus dem Kopf gehen wird.
Polly
Es war die Luftmatratze. Die konnte ich einfach nicht vergessen.
Jonas Jagoda
Verständlich. Bis Samstag hast du hier ein Zimmer.
Mi casa es tu casa.
Polly
Du meinst wohl: Mi Luftmatratza es tu Luftmatratza.
Jonas Jagoda
So sei es. Ich bin heute ab halb sieben zu Hause. Findest du her?
Polly
Wie kann ich dir danken?
Jonas Jagoda
Wir werden sehen.
Ich verdrehe die Augen, bekomme aber gleichzeitig das Strahlen nicht aus dem Gesicht. Bis Samstag kann ich so tun, als wäre die Welt in Ordnung und mein dreistufiger Plan von Uni, Job und eigener Wohnung intakt.
»Na? Auch schon hier?«
Mel! Mein Gehirn erkennt ihre Stimme erstaunlich schnell, obwohl wir uns erst seit so kurzer Zeit kennen.
»Morgen«, grüße ich sie und versuche, mein Handy diskret in die Tasche meines Rocks zu schieben, den ich genau aus diesem Grund abgöttisch liebe. Ein moosgrüner Glockenrock, der mir das Gefühl gibt, gut und stark auszusehen, und noch dazu über Taschen verfügt – das perfekte Kleidungsstück.
»Wen hast du angebaggert?«, fragt Mel ohne Umschweife und zeigt auf die handyförmige Ausbeulung in meiner geliebten Tasche.
»Ich baggere nie vor neun Uhr«, erkläre ich. »Ist so ’ne Lebensregel von mir.«
»Natürlich.« Mel spitzt sarkastisch die Lippen und zwinkert mir dann mit einem stark mit Eyeliner betonten Auge zu. Die schwarze Linie ist gut einen halben Zentimeter dick und so lang gezogen, dass sie fast die Spitze ihrer buschigen Augenbrauen küsst. Auch mit ihrem Outfit setzt sie nicht auf Understatement. Die hoch geschnürten Dr. Martens haben einen dreimal so dicken Absatz wie das Standardmodell, das übergroße T-Shirt mit Harley-Davidson-Aufdruck reicht nur knapp bis zu der Tätowierung eines Hirsches auf ihrem rechten Oberschenkel.
»Du solltest dir übrigens die Lebensregel zulegen, vor neun nicht schon so unverschämt gut auszusehen«, stelle ich anerkennend fest. »Was hast du vor? Ein Covershooting mit dem Rolling Stone?«
»Sagt ausgerechnet die Dame, die sich heute für ihre Homestory in Harper’s Bazaar rausgeputzt hat?«
»Du meinst die Homestory, die wir in meinem Schuppen aufnehmen werden?«
Mel beginnt, schallend zu lachen. »Hahahaha, ich hatte es gerade vergessen. Diese Geschichte ist einfach pures Gold.«
In stiller Übereinstimmung setzen wir zum Gehen an. Ich greife nach meinem Trolley und ziehe ihn hinter mir her, während wir auf das Gebäude zusteuern, in dem unser heutiger Treffpunkt ist.
»Was ist in dem Koffer? Dein Wechseloutfit für Harper’s Bazaar?«
»Wenn ich es dir erzähle, versprichst du mir, dir jeden Kommentar zu verkneifen?«
Mel sieht mich ernst an. »Nee, sorry, ist nicht mein Stil. Kommentare müssen raus.« Mel gibt mir einen guten Eindruck davon, wie es sein muss, mit mir befreundet zu sein. Anna und Anouk tun mir fast ein bisschen leid. »Jetzt sag!«
»Ich kann die nächsten drei Nächte bei Jonas schlafen, um nicht pendeln zu müssen.«
Ihrer eigenen Aussage zum Trotz schafft es Mel, nicht darauf zu antworten. Zumindest nicht mit Worten. Ihr breites, süffisantes Schmunzeln ist jedoch Aussage genug.