EIN THAI-CURRY UND
EIN IDIOTENSANDWICH
KÖLN, 18. OKTOBER
RECHTSWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT
»Na, heute wird’s ernst, oder?« Mel ist neben mir im Audimax der Uni aufgetaucht.
»Heeey«, sage ich erfreut, weil sie den Weg durch die Hunderten von Jurastudierenden zu mir gefunden hat. Nach unserer gemeinsamen Einführungswoche würde ich niemanden lieber an diesem ersten richtigen Unitag an meiner Seite wissen wollen. Ich ziehe meine durchsichtige Tasche von dem freien Platz neben mir und tippe einladend mit den Fingernägeln darauf.
Am Freitag haben Mel und ich zusammen unseren Stundenplan erstellt und uns für sämtliche Seminare und Vorlesungen unseres ersten Semesters eingetragen. Dass die erste Vorlesung der Woche, meine erste Vorlesung jemals, ausgerechnet Grundrechte I ist, finde ich besonders passend. Es legt die richtige Stimmung für die Jahre, die vor uns liegen.
Es ist gerade einmal acht Uhr, was weniger schön ist – Konrad zufolge legt man sich montags um acht nur eine Vorlesung, wenn man sie nicht mehr alle hat –, allerdings will auch niemand diese Pflichtveranstaltung erst im nächsten Jahr belegen. Und so platzt das Audimax nun aus allen Nähten.
Mel hat sich mittlerweile neben mir niedergelassen. Heute trägt sie einen weiten Pullover, der ein bisschen aussieht, als sei er aus Scherzartikelspinnweben gefertigt worden. Große Risse zerklüften den Stoff, lose Fäden hängen daran herunter. Passend dazu hat sie einen Lippenstift aufgetragen, dessen dunkler Rotton fast schwarz schimmert.
»Wie war dein Wochenende? Mal wieder irgendwelche Hütten von Serienkillern besichtigt?«
»Oh!«, mache ich und haue ihr bei meiner Erkenntnis sacht auf die Schulter. »Das habe ich dir am Freitag komplett vergessen zu erzählen! Ich kann bei Jonas wohnen bleiben!« Was ich auch vergesse, ihr zu erzählen: Dass mein Wochenende die Hölle war und aus vorwurfsvollem Anschweigen und aggressiven Blicken bestand, bis die beiden Jagoda-Brüder zum Möbelpacken bei mir aufgetaucht sind, wobei meine Mutter sie angeschmachtet hat wie einen leckeren Snack.
Mel schauspielert einen Schockzustand und schiebt sich in Zeitlupe die Hand vor den geöffneten Mund. »Wer hätte das nur gedacht?«
»Come on!«, mahne ich sie mit erhobenem Zeigefinger. »Sein eigentlicher Mitbewohner hat eine Spanierin kennengelernt und kommt deswegen erst mal nicht zurück. Das konnte vorher keiner wissen.«
Mel antwortet nicht. Sie wiederholt nur ein weiteres Mal die gekünstelte Das-gibt-es-ja-nicht!-Geste und kichert sich dann einen über meinen genervten Gesichtsausdruck.
»Freu dich doch einfach darüber, dass ich jetzt ein Zuhause habe und es in naher Zukunft keine ZEIT-Verbrechen-Folge über mich geben wird.«
»Glaub mir, das freut mich sehr. Aber ich freue mich noch mehr auf den Tag, an dem du vor mir zu Kreuze kriechen und mir gestehen wirst, dass du mit ihm im Bett warst.«
»Mit wem?«, frage ich.
»Mit deinem Hottie von Mitbewohner natürlich.«
»Mit Jonas? Na, da warte mal schön drauf. Eher komme ich jeden Montag nackt in diese Vorlesung, als noch einmal was mit einem Typen anzufangen, der nach allgemeiner Ansicht in die Kategorie Hottie fällt. Das ist eine absolute Red Flag für mich.«
Mels falsche Überraschungsmiene verwandelt sich in einen Ausdruck echten Mitgefühls mit einem Hauch von Neugier. »Oh. Wittere ich da ein Trauma?«
»Pff«, schnaube ich laut und werfe einen Blick auf meine Handyuhr. Zehn nach acht, die Veranstaltung beginnt c.t., also bleiben uns noch fünf Minuten, um zu quatschen. Das ist eindeutig zu wenig, um das Kapitel Laurenz abzuhandeln. Obwohl dieser Typ mir nicht mal zwei Minuten meiner Zeit wert sein sollte. »Kein Trauma. Nur eine Lektion. Ich bin mir selbst zu gut für Fuckboys.«
»Nur weil er gut aussieht, ist er ein Fuckboy?«
Ich drehe mich auf meinem unbequemen Klappstuhl zu ihr und stemme vorwurfsvoll eine Hand in die Taille. »Mel! Ich hätte dich echt nicht für eine Frau gehalten, die Männer verteidigt.«
»Uff«, macht sie, »keine Sorge, das bin ich auch nicht. Aber Jonas ist so …« Sie greift mit gespreizten Fingern in die Luft, durchsiebt sie nach einem geeigneten Adjektiv.
»Das Wort, das du suchst, ist nett. Er ist saumäßig nett.«
»Und weil er nett ist, erinnert er dich an einen Verflossenen?«
»Nein.« Ich drehe mich wieder nach vorn und beginne anschließend geistesabwesend, auf dem Trackpad meines aufgeklappten Notebooks herumzuwischen, wobei ich aus Versehen den Browser öffne, der noch immer die Startseite von Gayleway& Gabel anzeigt. Bevor es morgen losgeht, wollte ich mir noch einmal die Statements zur Unternehmenskultur durchlesen und einige Namen auswendig lernen.
»Weil er heiß ist, erinnert er dich an einen Verflossenen?«
»Er erinnert mich an niemanden«, sage ich bestimmt, um dieses Thema endlich abzuschließen.
Doch Mel scheint eine zu interessante Geschichte zu wittern und bohrt weiter nach. »Na, dann steht der Sache doch nichts mehr im Wege. Also, ich shippe euch. Ihr habt irgendwie eine Ross-und-Rachel-Energie.«
»Ist Ross nicht total scheiße, toxisch eifersüchtig und besitzergreifend?«
»Na gut. Ihr habt Ross-und-Rachel-Energie, wenn man all die Momente außen vor lässt, in denen Ross durchdreht.«
»Und wenn man sich vorstellt, dass Rachel so viel wiegen würde wie zwei Jennifer Anistons.« Noch bevor die Worte aus meinem Mund sind, möchte ich mich selbst dafür schlagen. Die Person, die ich sein möchte – die Person, die ich bin –, sagt solche Dinge nicht über sich selbst. Ich beurteile mich nicht danach, wie viele Jennifer Anistons ich auf die Waage bringe, weil mein Wert komplett unabhängig davon ist. Irgendetwas ist in den letzten Tagen vorgefallen, das mich ins Wanken gebracht hat. Irgendetwas namens Silke.
»Wow. Stopp.« Mel macht eine abwehrende Geste mit den Händen. »Du erzählst mir jetzt nicht im Ernst, dass du glaubst, nicht gut genug für diesen Schönling zu sein, weil du mehr wiegst als er?«
Ich mag es, wie nonchalant Mel sich ausdrückt. Weil du mehr wiegst als er – genauso ist es. Ganz einfach. Die meisten Menschen werden verkrampft, wenn es um meine Figur geht. Sie drucksen mit Formulierungen wie kurvig oder Plus Size herum – selbst Anna und Anouk können mich diesbezüglich nicht verstehen. Mel hingegen spricht mit der Erfahrung einer Person, die Menschen ebenfalls satthat, die vermeintlich schmeichelnde Umschreibungen für die simple Tatsache finden wollen, dass du ein höheres Gewicht hast.
»Nein!«, rufe ich aus. So laut, dass die Studierenden über und unter uns auf mich aufmerksam werden und neugierig die Köpfe recken. »Nein«, wiederhole ich etwas leiser und merke, dass mit meiner Lautstärke auch meine eigene Überzeugung abgenommen hat. Noch einmal sehe ich auf die Uhr. Die Professorin verspätet sich, doch da es inzwischen jeden Moment losgehen kann, sage ich bloß hastig: »Ich will lediglich sichergehen, mit Männern in Zukunft auf derselben Wellenlänge zu sein.«
In diesem Moment geht ein Ruck durch die Studierendenschar. Alle drehen wie auf Zuruf den Hals und beobachten die Professorin dabei, wie sie die Tür zum Audimax hinter sich zufallen lässt und die Stufen hinab zum Pult tritt.
»Also suchst du was Festes?«, zischt Mel mir zu.
Ich runzle die Stirn und mache ein angewidertes Gesicht. »Gott, nein. Die einzige feste Bindung, die ich einzugehen gedenke, ist diese da.« Damit deute ich auf die Website auf meinem Laptop-Bildschirm, auf der das Chromlogo von G&G prangt.
»Tust du mir trotzdem einen Gefallen?«, flüstert Mel. »Wenn zwischen dir und Jonas doch etwas läuft, dann schreib mir. Ich liebe es, recht zu haben.«
»Wird nicht passieren.«
»Ich sag ja nur. Du schickst mir dann …« Sie beißt sich nachdenklich auf die Gothic-rote Unterlippe. »… ein Hummer-Emoji.«
»Ein Hummer-Emoji?«
Die Professorin ruft nun eine PowerPoint-Präsentation auf und räuspert sich in ein Mikro hinein.
»Na, wegen Ross und Rachel. He is her lobster und so?« Sie verdreht die Augen über meine planlose Miene. »Schick mir einfach ein Hummer-Emoji, falls du irgendwann morgens in seinem Bett aufwachst statt in deinem.«
Ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und atme den Geruch der Wohnung ein, die sich noch nicht wirklich nach meiner eigenen anfühlt. Es riecht nur nach Jonas. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich unsere Düfte vermischen? Wie lange, bis ich gar nichts Auffälliges mehr wahrnehme, wenn ich eintrete?
Den Auszug bei Mama habe ich mir in den vergangenen Jahren feierlicher ausgemalt, als er letztendlich war. In meiner Vorstellung bin ich nicht im Bösen bei ihr ausgezogen. Klar, wir waren nie die besten Freundinnen. Aber eine gewisse Distanz und das gegenseitige Einverständnis, dass wir einfach zu verschieden sind, hat sich für mich okay angefühlt. Doch die jetzige Stimmung verdirbt mir den Start in mein new life.
Während ich meinen Mantel und die Klarsichttasche an der Garderobe aufhänge, denke ich an sie in ihrem Tennissockenoutfit. Beim Inspizieren des leeren Wohnzimmers höre ich das imaginäre Quietschen eines uralten Crosstrainers. Als ich feststelle, dass ich allein bin, suchen mich Flashbacks an meine Schulzeit heim. Nach Hause kommen und allein sein … Das habe ich doch immer gewollt, oder? War es nicht der Wunsch nach dem Alleinsein, der mich zuvor davon abgehalten hat, in eine WG zu ziehen? Wollte ich nicht weniger von meiner Mutter mitbekommen? Wieso wirken das Alleinsein in Jonas’ Wohnung und die Tatsache, dass sie sich seit dem Streit nicht mehr gemeldet hat, plötzlich wie Einsamkeit?
Es ist vier Uhr am Nachmittag und Jonas arbeitet heute in der Werbeagentur. Keine Ahnung, wie seine Arbeitszeiten sind, aber vor sieben wird er sicher nicht hier sein. Ich gehe in die Küche und begutachte die polierte Kaffeemaschine, stelle mir vor, wie ich versuche, damit einen Cappuccino zu kochen. Das Gerät zerfällt praktisch schon in seine Einzelteile, wenn ich mich ihm nur auf weniger als einen Meter nähere. Ich bin derart unbegabt in allem, was sich in der Küche abspielt, dass ich es gerade so schaffe, ein Kaffeepad in eine Senseo-Maschine einzulegen.
Gedankenverloren drehe ich mich zu dem großen Edelstahlkühlschrank um und öffne die obere Tür. Wie alles andere in Jonas’ Lifestyle entspricht auch sein Kühlschrank nicht dem Klischee eines schlecht ausgestatteten, am Hungertuch nagenden Studenten. Die Fächer sind gut gefüllt mit Fisch und Fleisch von der Theke, die sorgsam in Frischhaltedosen einsortiert wurden und je nach Kühltemperatur weiter oben oder unten positioniert sind. Auf dem Getränkegitter liegt fast nur Wasser, das Gemüsefach quillt über vor Zucchini, Gurken und Salat. In der Tür stehen Milch, fettreduzierte Sahne und ein paar Dips. Bei dem Anblick fällt mir die Sriracha ein, die seit Samstag ungekühlt in meinem Koffer vor sich hin gärt. Das kann nicht gesund sein.
Also gehe ich in mein Zimmer – in mein Zimmer –, das bis auf das Bett aus meinem alten Kinderzimmer und meine Kleidung, die ich bisher mangels Mobiliar an der Wand entlang aufgestapelt habe, fast leer ist. Ich krame die rote Flasche aus dem Trolley, stelle sie in den Kühlschrank und fühle mich auf einmal sehr viel eingezogener. Kurz entschlossen nehme ich meinen Laptop aus der Bibliothekstasche, setze mich damit an die Theke und beginne, auf eBay Kleinanzeigen nach Möbeln zu suchen. Die gut organisierte Polly, die ihr Leben im Griff hat und es nicht mit Heulattacken verschwendet, ist zurück.
Um kurz vor acht werde ich von der zufallenden Wohnungstür hinter mir überrascht. Ich zucke zusammen und wirble auf dem Barhocker herum, dessen Drehgewinde so gut geschmiert zu sein scheint, dass ich fast herunterpurzle.
»Sorry!« Jonas hält die Handflächen ausgestreckt vor sich. »Ich bin’s nur.«
Ich greife mir scherzhaft aus der Puste ans Herz. »Hättest du mich, wie verlangt, mit Hallo, Mitbewohnerin begrüßt, wäre das nicht passiert.«
Jonas lässt seine Sporttasche zu Boden gleiten und erst da fällt mir auf, dass er unter seiner Lederjacke eng anliegende Sweatpants und ein Fitnessshirt trägt. Nachdem er die Jacke ausgezogen und direkt neben meinen Mantel gehängt hat, stellt sich heraus, dass die Ärmel des T-Shirts großzügig abgeschnitten wurden, sodass Jonas’ Arme und Flanken nackt sind. In diesem Moment sieht er aus wie das Paradeabziehbildchen eines Fitnessinfluencers. Seine Oberarme sind so definiert, dass sie gedrehten Luftballontieren gleichen, und schräg unterhalb seiner Achsel kann man – eingepfercht zwischen Rücken- und Brustmuskulatur – diese seitlichen Muskelstränge hervortreten sehen, wie sie nur besonders fitte Menschen vorweisen können. Jonas sieht aus wie Michelangelos David. Wenn Michelangelo seinem David ein sehr proletenhaftes Shirt angemeißelt hätte.
Wenn es so proletenhaft ist … dann kann ich doch auch einfach wieder wegschauen. Oder? ODER?
Weil mir nichts Besseres einfällt, drehe ich die Pupillen gen Decke, was Jonas dazu verleitet, erwartungsvoll in dieselbe Richtung zu blicken. Nach einer Sekunde, in der er dort oben nichts Spektakuläres entdeckt, scheint er sich jedoch damit abzufinden, dass ich nur Probleme mit den Augen habe, und fährt fort, Kleidungsstücke abzulegen. Seine Schuhe wandern auf die dafür vorgesehene Ablage unter der Garderobe, bevor er zu meinem Schreck auch noch die Hose runterzieht!
»Entschuldige den etwas stinkigen Auftritt«, sagt er dabei.
Ich halte den Atem an. Was zum Teufel tut er da? Oh … er trägt Workout-Shorts unter den Jogging-Pants. Na klar. Das wäre sonst auch echt weird gewesen.
»Kein Problem«, bringe ich heraus und wie durch ein Wunder klingt meine Stimme sogar so, als hätte ich gerade wirklich kein Problem.
»Die hatten kein heißes Wasser im Fitnessstudio«, erklärt Jonas, während er auf mich zukommt, den Tresen umrundet und sich eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank schnappt.
»Ich dachte, du warst auf der Arbeit?«
»War ich auch. Aber nur bis halb sechs. Danach war ich mit Adem trainieren.«
»Ah.« Ah … Wie eloquent.
»Und du? Wie war der erste Tag? Machst du schon fleißig Hausaufgaben?« Er schielt über den Flaschenrand hinweg auf meinen Laptop. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Ich würde mir gern einreden, dass das nur an seinem entblößten Körper liegt. Aber das tut es nicht. Es liegt an dem ehrlichen Interesse, das seinen Fragen innewohnt. Daran, dass er nach dem Heimkommen zuerst wissen will, wie es mir geht, bevor er von seinem Tag berichtet.
»Konrad hat gesagt, an der Uni nennt man es Nachbearbeitung.«
»Wooow, Konrad, der weiß ja richtig Bescheid.« Jonas zieht eine sarkastische Schnute, bevor er die Wasserflasche ansetzt und sie in einem Zug halb austrinkt. Sein Adamsapfel macht dabei viele kleine Hüpfer, die mich einen Augenblick lang all meiner Konzentrationsfähigkeit berauben.
Ich beschließe, nicht auf seine Spitze einzugehen. »Außerdem mache ich nichts für die Uni. Ich bin auf der Jagd nach Möbeln.« Ich drehe ihm den Screen zu und deute auf das vergrößerte Foto eines gebrauchten Schreibtischs. »Mögen wir den?«
Jonas lacht auf. »Wir?«
»Ja. Wir. Ich als Mensch, der einen Schreibtisch benötigt, und du als jemand, der mehr Einrichtungstalent im kleinen Finger hat als ich im gesamten Arm.«
»Ach, Schmolly.« Jonas kommt mit seiner Wasserflasche um die Theke herum. »Du musst dich wirklich immer niedermachen, oder?«
»Niedermachen? Ich? Mich? Quatsch. Man sagt mir eher nach, ich wäre zu sehr von mir selbst überzeugt.« Ich drehe den Laptop wieder zu mir und mustere noch einmal das Inserat auf eBay Kleinanzeigen.
»In akademischen Dingen vielleicht.« Jonas stützt den freien Arm neben mir auf und beugt sich ein wenig zu mir herüber, um den gebrauchten Ikea-Schreibtisch genauer zu betrachten. Man kann wirklich nicht leugnen, dass er gerade vom Sport kommt. Er ist verschwitzt, sein Shirt trotz der großzügig ausgeschnittenen Achseln an einigen Stellen noch feucht. Aber erschreckenderweise riecht er auch diesmal überhaupt nicht unangenehm. Eher … maskulin. Sexy. Oder besser gesagt: nach Sex.
Ich atme lang und hörbar ein, will den Duft so tief in mich aufnehmen, dass er sich in meinem Gehirn einnisten kann. Doch als mir bewusst wird, was ich da tue, mache ich schnell eine wedelnde Geste mit der Hand. Verscheuche den Geruch, verscheuche Jonas, verscheuche die Flausen in meinem Kopf.
»Hey! Dein Moschus und du können gern in deinem Tanzbereich bleiben.«
Er lacht auf. »Sorry. Ich sollte echt duschen.« Mit der flachen Hand klopft er entschieden auf die Theke und schlägt dann vor: »Bock auf Thai danach?«
»Ja, wieso nicht?«, antworte ich überrascht.
»Nice. Dann sehen wir uns in einer halben Stunde in der Küche. Mitbewohnerin.« Das letzte Wort ergänzt er mit einem Grinsen. Und vielleicht ruft mein Gehirn dabei bereits die gespeicherte Duftprobe seines Körpergeruchs auf.
Die Zeit, in der Jonas duscht, verbringe ich damit, mein Zimmer auszumessen und einen maßstabsgetreuen Plan davon zu zeichnen. In den skizziere ich dann die Möbel, die ich bei eBay Kleinanzeigen angefragt habe, sowie ein paar Ikea-Funde, die ich mir mit meinem knappen Budget leisten kann. Auf Schnickschnack wie Vorhänge, Pflanzen und Deko werde ich noch einige Monate verzichten müssen. Aber mit dem Gehalt von Gayleway & Gabel werde ich mir nach und nach ein paar schöne Dinge zulegen können. Immerhin habe ich schon meine liebste Bergamotte-Duftkerze hier, die während meiner Planungsaktion vor sich hin flackert.
Dabei fällt mir auf, wie viele Aromen mein olfaktorisches Gedächtnis nun schon mit Jonas assoziiert: sein Parfüm, sein Eau de Workout, den Geruch seiner Wohnung … Aber so ist das wahrscheinlich, wenn man zusammenwohnt und sein Leben auf so intime Weise mit einem anderen Menschen verbringt. Zusammenwohnen ist scheißintim.
Ich gehe zurück in den Wohnbereich, nachdem ich von dort aus gedämpfte Rockmusik hören kann. Zuvor habe ich noch einmal meinen Kontostand gecheckt und festgestellt, dass ich mir beim Thai maximal gebratenen Reis ohne alles leisten kann, wenn ich mir noch Möbel kaufen will. Aber das ist okay. Morgen ist bereits mein erster Arbeitstag und dann dauert es nicht mehr lange bis zum ersten Gehalt. Ein paar Tage mit trockenem Toast werde ich schon überleben.
Doch direkt nachdem ich die Tür zum Flur aufgestoßen habe, begrüßen mich das aufgeregte Brutzeln von Öl in einer Pfanne und der unverwechselbare Duft von Reis. Ich schaue um die Ecke und sehe Jonas am Herd stehen. Sein Kopf inklusive nassem Shawn-Mendes-Haar und seine in grauen Sweatpants steckenden Hüften wiegen sich im Takt der Musik, während er in einem Wok rührt.
»Äh … ich dachte, wir bestellen beim Thai?«
Jonas sieht sich zu mir um, schaut verdutzt und grinst dann atemberaubend. »Ach so. Ich meinte eigentlich, dass ich kochen will. Ähm … passt Rotes Curry oder hattest du dich auf was anderes gefreut?«
»Ob das passt? Ich hatte mich auf trockenen Reis eingestellt, so pleite bin ich.«
Jonas zwinkert, zeigt mit dem Kochlöffel auf mich und sagt nach einem Zungenschnalzen: »I got you!«
Und … irgendwie … hat er das wirklich.
»Et voilà.« Jonas schiebt einen Teller vor mich, auf dem er das Gericht perfekt drapiert hat: eine Kugel Reis ragt aus einem See rötlich schimmernder Kokosmilch hervor, in dem Bambus, Brokkoli und Karottenscheiben schwimmen. Es sieht himmlisch aus und meine Nase informiert meine Speicheldrüsen sofort darüber, dass sie für ordentlich Wasser im Mund sorgen sollen. »Passt nicht wirklich zum Essen, aber mein Thailändisch ist … eingerostet.«
»Na, solange dein Französisch noch fließend ist.« Gierig nehme ich mein Besteck auf.
»Wow, du hast zu viel Zeit mit Adem verbracht.«
»Mit Adem …?« Doch dann fällt der Groschen. »Oh! So war das nicht gemeint. Aber hey, klar, ich freu mich für dich, wenn dein Oralsex gut ist, herzlichen Glückwunsch.«
Wieso genau rede ich jetzt über Oralsex? Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich bemerkt habe, dass der After-Fitness-Jonas auffallende olfaktorische Ähnlichkeiten mit einem After-Sex-Jonas hat. Nicht, dass ich wüsste, wie Letzterer riecht. So stelle ich es mir nur vor. Nicht, dass ich es mir vorgestellt hätte. Arrrg, oh Mann!
»Gut, dass wir das klären konnten«, höre ich Jonas sagen und bin mir nicht sicher, ob er es ironisch meint oder ob ihm das Thema nun doch zu unangenehm geworden ist. »Bist du schon nervös wegen morgen?« Er setzt sich neben mich und beginnt, seinen Reis mit der Currysoße zu vermengen.
»Wenn ich nicht drüber nachdenke, geht es.«
»Du wirst es rocken.«
»Ja, vermutlich.« Jonas blickt mich an und sucht wahrscheinlich nach einer Spur Sarkasmus in meinem Gesicht. »Was?« Ich zucke mit den Schultern und tauche meinen Löffel in das Curry. »Ich hab doch gesagt, man wirft mir immer zu viel Selbstüberzeugung vor.«
»Und ich hatte recht damit«, Jonas lässt seinen Löffel über dem Essen kreisen, »dass diese Annahme nur in Bezug auf Akademisches zutrifft.«
»Das stimmt nicht«, dementiere ich und schiebe mir den ersten Bissen in den Mund. Kaum hat meine Zunge näheren Kontakt mit dem Gericht gemacht, stoße ich ein lang gezogenes »Fuuuck« aus.
»Was? Zu heiß? Zu scharf?«
»Zu geil!«, korrigiere ich. »Ich wusste nicht, dass ich bei Gordon Ramsay einziehe.«
»Gordon Ramsay?« Jonas sieht ernsthaft beleidigt aus. »Womit habe ich denn den Vergleich verdient? Kein einziges Mal in den letzten Tagen habe ich deinen Kopf zwischen zwei Scheiben Toast gepackt und dich ein Idiot Sandwich genannt.«
»Hast du nicht«, bestätige ich, schiebe meinen Barhocker nach hinten und stehe zu Jonas’ Verwunderung auf, um zum Kühlschrank zu gehen. »Aber du wirst es tun, wenn du irgendwann von mir verlangst, den Gefallen zu erwidern und für dich zu kochen.«
Jonas lacht laut auf, wirft den Kopf ein wenig in den Nacken und zeigt mir schon wieder seinen viel zu schönen Kehlkopf. Du weißt, dass die Scheiße ernst ist, wenn selbst ein Kehlkopf plötzlich attraktiver auf dich wirkt als alle anderen Kehlköpfe, die die Menschheit je hervorgebracht hat.
»Wieso?«, will er wissen.
»Weil ich die schlechteste Köchin der Welt bin.«
»Du machst es schon wieder!« Er wirft gespielt verzweifelt die rechte Hand mitsamt Gabel in die Luft und schleudert dabei einige Reiskörner durch die Gegend.
»Nope. Keine falsche Bescheidenheit, kein fishing for compliments.« Ich hole die Sriracha aus dem Türfach, in dem ich sie vor wenigen Stunden verstaut habe, und setze mich damit zurück neben ihn. »Nicht mein Stil.« Mit einem Schulterzucken stelle ich die Flasche über meinem Teller auf den Kopf. Doch bevor ich etwas von der Chilipampe herausdrücken kann, halte ich inne, weil Jonas mich anstarrt, als hätte ich soeben ein lebendiges Huhn aus der Gemüseschublade geholt.
»Das tust du jetzt nicht im Ernst?« Seine blauen Augen fixieren die rote Flasche wie einen Erzfeind.
»Ich … doch?!« Seine Augen weiten sich noch mehr, also ergänze ich: »Dachte ich eigentlich, aber jetzt habe ich Angst, dass du mich dann wieder vor die Tür setzt?«
»Zumindest glaube ich dir das mit dem mangelnden Kochtalent jetzt.«
»Sriracha und ich – wir lieben uns«, rechtfertige ich mich und umarme die Flasche.
»Das freut mich für euch beide, aber … mein armes Curry!« Er zieht eine beleidigte Flunsch und erinnert mich dabei so sehr an ein trauriges Kleinkind, dass ich die Sriracha unbenutzt auf dem Tresen abstelle.
»Tut mir leid, Gordon.«
»Schon okay … Idiot Sandwich.«
Wir brechen in Gelächter aus und zanken uns, bis unsere Teller leer sind, um die Relevanz meiner liebsten Würzsoße, die man – laut Jonas – nur auf sehr schlechten Bratnudeln verwenden darf.
Nach dem Essen räume ich als Gegenleistung und zur Wiedergutmachung des Sriracha-Zwischenfalls die Spülmaschine ein und mache mich anschließend mit einem Schwamm an die Töpfe.
»Noch Bock auf ein bisschen Netflix?«, fragt Jonas, der mir dabei zusieht. »Oder musst du dich seelisch und moralisch auf deinen ersten Arbeitstag bei den Superanwälten vorbereiten?«
»Netflix klingt gut.«
Jonas steht auf und schwingt seinen joggingbehosten Stahlhintern vor den Fernseher, der so groß ist, dass man beinahe schon ein Kinoticket kaufen müsste. Sekunden später erklingt der epische Startton des Streamingdienstes – zwei Töne, die vermutlich fast jeder Mensch auf der Erde erkennt. »Was schaust du gerade?«
»Ich rewatche zum siebten Mal Suits. Und nebenbei schaue ich immer Riverdale mit Anna – um Anouk in den Wahnsinn zu treiben.«
»Mhm. Ja. Ergibt Sinn. Anouk scheint mir nicht der typische Archie-Andrews-Fan zu sein.«
»Na, sieh an«, sage ich, schleudere das Geschirrtuch über meine Schulter und stemme mir kokett eine Hand in die Taille. »Da kennt sich aber jemand erschreckend gut mit Teen-Drama-Serien aus.«
»Hallo?« Jonas streckt verteidigend die Hände von sich. »Er ist ein gut aussehender Typ! Klar ist der bei mir hängen geblieben. Und die erste Staffel war echt gut, ehe sie … alles ein bisschen …«
»Ehe sie sich darauf spezialisiert haben, den gut aussehenden Typen möglichst oft oben ohne zu zeigen?« Mit hochgezogenen Brauen und einem Dauerschmunzeln auf den Lippen beende ich meine Spülsession und gehe auf Jonas zu. Er tätschelt auf den freien Platz neben sich und ich folge der Einladung. Der Bergamotteduft, der zuvor vermutlich von den starken Gewürzen des Currys überdeckt wurde, ist jetzt wieder omnipräsent. Hat er … zum Kochen Parfüm aufgetragen? Oder ist er so ein verrückter Mensch, der das passende Designerduschgel zu seinem Eau de Toilette besitzt?
»Also … wenn ich so aussähe wie Archie, würde ich auch ständig blankziehen.« Ohne die geringste Regung im Gesicht, die verraten würde, dass er es ironisch meint, legt Jonas die Füße auf dem Couchtisch ab, zeigt mit der Fernbedienung auf den Bildschirm und fragt beiläufig: »Welche Folge Suits darf’s sein?«
»Boooah, machst du Witze?«, platzt es aus mir heraus. »Wer betreibt denn jetzt fishing for compliments?« Sofort habe ich einen Flashback von Laurenz, der ebenfalls gar nicht oft genug hören konnte, dass er einen Traumkörper besitzt. Ich kann es nicht leiden, wenn sich alles immer ums Aussehen dreht. Kann man nicht wenigstens nach Komplimenten für sein Gehirn fischen?
Der fragende Blick, den Jonas mir daraufhin zuwirft, ist jedoch durch und durch ehrlich.
»Du siehst aus wie fucking Archie Andrews.«
Jonas hebt eine Augenbraue und lacht dann, als könne er das nicht glauben. »Der Typ ist so shredded, der ernährt sich wahrscheinlich das ganze Jahr über nur von Hüttenkäse.«
Ich mache ein beinahe angeekeltes Gesicht. Nicht wegen des Hüttenkäses. Sondern wegen seiner Wortwahl. Shredded.
Erst als die plötzliche Stille zwischen uns mehrere Sekunden anhält, wird Jonas stutzig. »Das … sorry, da hat eben der Typ aus mir gesprochen, der sonst nur in der Umkleidekabine zu Wort kommt.«
»Und dieser Typ realisiert nicht, dass er …« Ich mache eine ungeplante Pause, weil ich unsicher bin, welches Adjektiv in diesem Moment am unverfänglichsten ist. Schließlich entscheide ich mich für: »… dass er recht gut gebaut ist?«
Jonas schlägt die Augenlider nieder und sein Gesicht wird zu einer Maske, die ich nicht eindeutig lesen kann. Ist er peinlich berührt? Oder geschmeichelt? Vielleicht ein bisschen. Aber … da ist noch etwas anderes. Die Andeutung von etwas, das größer ist als falsche Bescheidenheit. Hinter Jonas’ absoluter Fehleinschätzung seiner eigenen Präsenz scheint etwas zu stecken, das ich nicht einmal erahnen kann.