EIN WALROSS
MIT SEEIGELBLUT
KÖLN, 9. NOVEMBER
GAYLEWAY & GABEL
Nachdem ich Mantel, Tasche und die Papiertüte aus dem Karnevalsladen in einem in der Wand versteckten Kleiderschrank verstaut habe, finde ich mich in der Teeküche von Gayleway & Gabel ein. Der E-Mail mit dem Protokoll von heute Morgen konnte ich entnehmen, dass ich diese Woche in allen Konferenzräumen eine Art Inventur durchführen und sie anschließend entsprechend ausstatten soll. Alle Konfis verfügen über kleine Kühlschränke, die immer mit Getränken und Snacks bestückt sein müssen. Außerdem sollen Kabel und Adapter für alle möglichen Laptop- und Handyanschlüsse vorhanden sein sowie Laserpointer und anderer Technikkram, den man für Präsentationen gebrauchen kann.
Ich winke Benisha auf dem Weg zum ersten Konferenzraum in der dreizehnten Etage im Vorbeigehen zu. Sie ist gerade am Telefon und kann deshalb nicht antworten, schenkt mir aber ein freundliches Lächeln. Ich laufe den großzügigen Flur entlang, vorbei an seltsamen Statuen, die zu jener Art moderner Kunst gehören, die ich noch nie verstanden habe, und gläsernen Büros, in denen fast überall mit der cleveren Knopfdrucktechnik für Privatsphäre gesorgt wurde.
Noch immer sehe ich viele Mitarbeiter der Kanzlei zum ersten Mal. Egal, wann ich hier bin, es tauchen jedes Mal neue Gesichter auf: internationale Kollegen, Klienten, eine nicht enden wollende Schar an studentischen Aushilfen. Die meisten von ihnen nehmen mich gar nicht wahr. Und wenn ich ehrlich bin, ist es mir sowieso lieber, übersehen zu werden, anstatt mich unter den Blicken von Patrick und Sarina überpräsent zu fühlen. Wenn mich meine Vorgesetzte abscannt mit ihren perfekt geschminkten Augen mit bissigem Ausdruck, fühle ich mich, als wäre ich mehr als eine Person. Hundertfünfzig Prozent Frau, sozusagen.
Es ist kein gutes Gefühl.
Konfi 1 ist ein imposanter Raum, der zur Straße rausgeht. Die Front ist vollständig verglast, davor stehen steif wirkende graue Designersofas mit halbmondförmigen Lehnen. Die Möbel scheinen eher ein unbequemes Statement und nicht wirklich dafür gemacht zu sein, sich auf ihnen niederzulassen. Sollte man es trotzdem wagen, würde einem der Dom, der über den Häusern im Hintergrund emporragt, zwei schwarze Teufelshörner verpassen.
Ich kichere ein wenig über diese ironische Beobachtung und mache mich dann daran, die weißen USM Haller Sideboards zu inspizieren. Schon hinter der ersten Klapptür verbirgt sich ein einziges Chaos. In einem alten Schuhkarton liegen verknotete Verbindungskabel aus vier Jahrzehnten. Ich erkenne USB- und HDMI-Kabel sowie unzählige veraltete Stecker, deren dazugehörige Medien längst ausgestorben sind. Ich mache eine Notiz auf dem iPad, das Sarina mir unter Androhung meiner Kündigung – zumindest konnte ich das in ihrem Blick lesen – anvertraut hat, dass man die alten Teile mal aussortieren könnte. Doch dann beschließe ich, Eigeninitiative zu zeigen, und bereite diese Aufgabe direkt vor. Ich gehe vor dem Sideboard auf die Knie und beginne, den Kabelsalat zu entwirren.
Als ich eine halbe Stunde später das letzte USB-C-Kabel von einem uralten Laptopnetzteil trenne, tun mir allmählich die Knie weh. Dennoch krabble ich eine Tür weiter, um mir auch diesen Schrank vorzuknöpfen. Darin befindet sich Verschiedenstes zur Bewirtung von Kunden. Ich finde eine Tasse mit Sprung, die ausrangiert werden muss, eine angebrochene Packung Kekse, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hat, und bemerke, dass die Zuckertütchen neu aufgefüllt werden müssen. Ich raffe die Packung Kekse und die kaputte Tasse zusammen, klemme beides unter meinen Arm und rapple mich auf, um meine Bestandsaufnahme auf dem Tablet zu notieren.
Während ich die Inventurliste aufrufe und die ersten Buchstaben eingebe, fällt mein Blick auf die Feine Auswahl Deluxe – wie sich die bunte Mischung aus Buttergebäck schimpft. Ich habe mir irgendwann einmal vorgenommen, niemals heimlich zu essen. Ich sollte mich nicht verstecken müssen, wenn ich einen Keks esse, nur weil ich mich wegen meines Gewichts dabei kritisch beobachtet fühle. Trotzdem werfe ich in diesem Moment zur Sicherheit einen Blick über jede Schulter, ehe ich in die Schachtel greife und zwei kleine Waffelröllchen herausziehe. Mein einziger Zeuge ist der Kölner Dom. Und es wäre doch wirklich zu schade, die Nascherei zu entsorgen, nur weil sie erst kürzlich abgelaufen ist.
Ich beende meine Einträge und zerkaue die buttrigen Teilchen, da wird die Tür zum Konfi plötzlich aufgestoßen. Ich zucke so heftig zusammen, als hätte mich der Eindringling dabei erwischt, wie ich eine Leiche verbuddle. Meine Kaumuskeln gefrieren zu Eis, während die Muskulatur in meinem Unterarm eine Art Spastik erleidet, die dafür sorgt, dass ich die verräterische Kekspackung im hohen Bogen von mir schleudere. Sie segelt über die Kante des Luxussideboards und verschandelt den Luxusteppichboden mit einer Salve von Luxuskrümeln.
»Was machst du denn da?«
Scheiße, scheiße, scheiße.
Ich begegne Sarinas Blick, die halb im Türrahmen steht und mich voller Entsetzen ansieht.
»Ich … ich mache die Inventur.« Ich hasse es, wie meine Stimme bricht, ich hasse mein Zögern, ich hasse, dass ich ihre Bissigkeit nicht mit Selbstbewusstsein kontere.
»Und wo genau habe ich erwähnt, dass du das Inventar in dich reinstopfen darfst?«
In dich reinstopfen … Diese Formulierung triggert Erinnerungen an all die unzähligen Male, die meine Mutter auf diese Weise mein Essverhalten kommentiert hat. Wenn du mehr wiegst, als irgendeine beschissene BMI-Skala es empfiehlt, ändert sich nämlich auch das Vokabular. Du isst Kekse nicht mehr wie ein zivilisierter Mensch, nein, du stopfst sie in dich hinein. Auch dann noch, wenn es nur zwei waren …
»Ich habe nur zwei Stück gegessen. Sie sind abgelaufen und müssten sonst ent…«
Sarina stemmt die Hände in ihre Wespentaille und macht ein Gesicht größter Abscheu. »Wieso isst du abgelaufene Kekse?« Sie schüttelt den Kopf.
»Es ist doch …« Ich gebe es auf. Warum sollte ich ihr erklären, dass Lebensmittel sich zwei Wochen nach Ablauf ihres Mindesthaltbarkeitsdatums nicht automatisch in Biowaffen verwandeln? Sarina weiß das mit Sicherheit sehr gut. Hier geht es um etwas anderes.
»Ich erinnere dich jetzt nicht daran, dass auch abgelaufene Kekse Firmeneigentum sind. Und Firmeneigentum hat in deinem Magen nichts zu suchen. Das mag schockierend für dich klingen, aber es ist so!«
Jedes Wort sitzt. Und jedes Wort sticht. Es ist ein bekannter Schmerz und dennoch bin ich vollkommen überfordert damit, ihn in diesem Moment zu empfinden. Ich wurde schon oft geradeheraus beleidigt, aber diese messerscharfen Provokationen, die so klein sind, dass sie durch die winzigen Ritzen meines Selbstbewusstseins passen, sind sonst meiner Mutter vorbehalten. Sarinas erhobene Augenbraue und die Hände in ihrer Taille wirken jedoch auf so subtile Art bedrohlich, dass ich es nicht wage, sie auf ihre Grenzüberschreitung hinzuweisen. Ich will diesen Job nicht verlieren. Ich darf nicht scheitern. Scheitern ist nicht mein Ding.
Ein Klopfen am Rahmen der offen stehenden Tür unterbricht die unangenehme Atmosphäre. Jedoch nur kurz. Denn dann sehe ich, dass es Patrick und ein Kollege sind, und mein ohnehin schon rasender Puls beschleunigt noch mehr. Sein Kollege, kleiner und kräftiger als Patrick, hat ein süffisantes Grinsen auf den schwülstigen Lippen und schiebt die Zunge vor, als er Sarina und mich sieht.
Patrick hingegen wirkt angepisst. »Hey!«, zetert er. »Wir haben den Raum gebucht! Was macht ihr noch hier?«
»Gute Frage.« Sarina wendet sich an mich. »Wenn du in jedem Konfi eine Stunde brauchst, weil du die Kekse essen musst, wirst du dieses Jahr nicht mehr fertig.«
»Ich habe … die Kabel …« Doch meine Erklärung geht in einem bissigen Lachen des kleineren Anwalts unter.
Patrick selbst scheint zu gestresst zu sein, um sich über die dicke Polly lustig zu machen. »Raus hier! Wir haben ein Meeting mit den Partnern.« Er macht eine unmissverständliche Geste gen Flur.
Fuck. Ich hatte keine Ahnung von dem Meeting. Aber was hätte ich tun sollen? Weniger sorgfältig arbeiten? Den Kabelsalat zu einem noch größeren Knödel werden lassen?
Beschämt nehme ich die Tasse, hebe die Plätzchenpackung auf und eile mit glühendem Kopf und einem medizinballgroßen Kloß im Hals an Sarina, Patrick und seinem Kollegen vorbei. Auf dem Gang mache ich mich klein, versuche, jeder Person, die mir entgegenkommt, auszuweichen – oder besser noch: zu verschwinden. Doch etwas in meinem Inneren versichert mir, dass mir drei Augenpaare folgen und die dazugehörigen Köpfe sich das Maul über mich zerreißen.
Erst als ich wieder bei Benisha bin und einen gänzlich unbetroffenen, gänzlich falschen Gesichtsausdruck aufsetzen will, fällt mir auf, dass ich das verflixte iPad liegen gelassen habe. So eine Scheiße …
Benishas Lächeln erlischt, als ich wie von der Tarantel gestochen die kaputte Tasse und die vollgekrümelte Schachtel vor ihr ablade und kehrtmache.
»Alles okay?«, ruft sie mir noch hinterher, aber ich jage schon in die entgegengesetzte Richtung davon. Der Medizinball in meinem Hals hat Feuer gefangen.
»Ich hab’s euch doch gesagt: Ich habe dieses Walross nicht angestellt.« Augenblicklich erstarre ich hinter der Tür zum Konfi, unsicher, ob ich froh darüber sein soll, dass dieser Raum nicht zum Gang hin verglast ist oder nicht. Wäre ich lieber gesehen worden, sodass Sarina sich diese Worte noch rechtzeitig hätte verkneifen können? Oder ist es besser, dass ich jetzt weiß, wie sie über mich denkt? »HR hat mir die einfach vor die Nase gesetzt! Haben ihr zugesagt, ohne ein fucking Bewerbungsgespräch zu führen.«
»Na, da war das Bewerbungsfoto bestimmt ordentlich gephotoshopt.« Das ist Patrick. Gott, wie eklig ich diesen Typen finde.
»Lagen wahrscheinlich diverse Filter drüber.« Eine dritte Stimme. Das muss Patricks Kollege sein. Bisher habe ich ihn fast nur dumm grinsen sehen, ohne dass Geräusche hinter seinen kräftigen Lippen hervorkamen. War vielleicht besser so.
Mein Gehirn übersteuert. Witze machen. Einfach Witze machen, Polly. Witze regeln.
Ein Kichern und das schallende Geräusch einer Ohrfeige ertönen und ich vermute, dass Sarina einen der beiden Männer – vielleicht auch beide – sarkastisch für ihre Kommentare gescholten hat. Mir rauscht längst kein Blut mehr durch die Adern. Sämtliche Erythrozyten haben sich in Seeigel oder etwas ähnlich Stacheliges verwandelt. Anders kann ich mir nicht erklären, warum mein ganzer Körper in Aufruhr ist.
Ich will wegrennen. Heulen. Nie mehr hierher zurückkommen.
Das Schlimme an Lästereien wie diesen ist nicht ihr Inhalt. Es überrascht mich nicht, dass man mich mit einem schweren Tier vergleicht – diese Vergleiche habe ich alle schon gehört und ich hab’s verstanden: Ich bin dick.
Die Erniedrigung. Die ist das Schlimme.
Ich schlucke schwer und hoffe, dass sich der kurze Anfall von Schwäche damit erledigt hat. Ich gehe da jetzt rein und hole das iPad, lasse sie wissen, dass ich jedes Wort mit angehört habe, bin die moralisch Überlegene, ein Walross mit Integrität sozusagen. Am besten ich pfeife dazu noch I Am The Walrus von den Beatles. Doch dummerweise … will mir die Melodie nicht einfallen. Und auch mein Fuß will sich nicht vorwärtsbewegen. Ich bin erstarrt.
Erstarrt.
Er…
Sarina kommt aus dem Konferenzraum und stößt dabei fast mit mir zusammen. Ihr Gesicht verwandelt sich in ein Pokerface, die Augen weit und matt, ihre Arme wirken plötzlich steif. Das ist meine Chance, sie wissen zu lassen, dass ich alles mit angehört habe. Meine Chance, sie so sehr zu beschämen, wie sie es eben mit mir getan hat.
Doch was, wenn sie mich feuert? Sie steht mir ganz offensichtlich schon feindlich genug gegenüber, weil jemand bei HR sie übergangen hat. Wenn ich sie jetzt auch noch blamiere …
»Polly …«, fängt sie an.
Doch ich schaffe es gerade rechtzeitig, das falsche Gesicht, das ich Benisha eben zeigen wollte, hervorzukramen. Ich habe entschieden. Und nehme Sarina die Peinlichkeit ab.
»Ich habe nur das iPad vergessen«, sage ich in einem Tonfall, der gute Laune suggeriert. Wenn mich nicht alles täuscht, ist da sogar ein Grinsen auf meinen Lippen.
Der Stein fällt Sarina fast hörbar vom Herzen. Sie zeigt ein seltenes Lächeln, räuspert sich und weist dann wieder streng an: »Beeil dich. Das Partnermeeting wartet nicht auf dich.«