Kapitel

EIN EXTENDED CUT

KÖLN, 20. UND 21. NOVEMBER
WG

Kapitel

Ganz kurz bin ich verleitet, seine Frage mit Nein zu beantworten. Doch da ihm Konrad das gerade höchstpersönlich an der Gegensprechanlage gesteckt haben muss, ist die Beweislage erdrückend.

»Ja.« Ich zucke mit den Schultern, als sei das keine große Sache und – wegen des Kusses – irgendwo auch selbstverständlich.

»Und er … holt dich ab?« Eine Geste zur Tür.

»Ja.«

»Und dafür der … Look?« Eine Geste zu mir.

»Ja!«

»Und du hast das nicht erzählt, weil …?« Eine Geste gen Himmel. Vielleicht zum lieben Gott oder so.

Mein Herz klopft derart schnell, dass es fast aus dem V-Ausschnitt stolpert. »Weil wir kein Abkommen darüber haben, uns von unseren Dates zu erzählen?«

»Ich habe dich in meinen Tinder-Account gelassen.« Obwohl ich da keinen Zusammenhang zu dieser Situation erkennen kann, wirkt Jonas wie vor den Kopf gestoßen. Mein eigener Gedanke kommt mir in den Sinn: Freunde erzählen sich von ihren Dates …

»Entschuldige, ich hätte es dir sagen sollen, ich …« Meine Hände kneten verlegen die Luft zwischen uns.

»Ach was, ich …«, platzt Jonas sehr schnell und sehr deutlich heraus. »Ich dachte nur. Weil wir … wir sind doch Kumpels.«

Kumpels? KUMPELS? Mitbewohner – okay. Freunde – von mir aus. Aber Kumpels? Ich habe noch nie ein anderes Lebewesen als meinen Kumpel bezeichnet. Das ist so Fußballumkleide der Lansberger C-Jugend! Kumpels ist definitiv kein Codewort für: Darf ich deinen Reißverschluss öffnen? Shit, ey … Kumpels gehen gemeinsam Saufen – und zwar nicht Kakao unterm Sternenhimmel.

Aber wieso beschwere ich mich überhaupt? Ich bin schließlich diejenige mit dem Date. »Alles klar, Kumpel, ich schwöre, dir nie wieder ein Date zu verschweigen.« Mit diesen schnippischen Worten hole ich die Tasse aus dem Spülbecken und knalle das unschuldige Ding doch noch in die Maschine. Kumpels …

»Wo bleibt er denn jetzt?«, frage ich anschließend energisch.

»Oh«, macht Jonas. »Ich glaube, ich hab vergessen aufzudrücken.«

»JONAS!«

»Was? Meinst du, er verklagt mich dafür? Oder stranguliert mich mit seinem kleinen Schal?«

Ich lache schnaubend und werfe das Erstbeste, das ich erreichen kann, nach ihm. Das Küchenhandtuch verfehlt Jonas natürlich um mehrere Meter, aber er duckt sich trotzdem symbolhaft darunter weg. Erschöpft hebt er den Arm, wünscht mir nüchtern »Viel Spaß« und betritt das Badezimmer. Ich höre das Schloss leise klicken, als er verriegelt.

Für ihn ist das alles ein großer Witz.

Weil wir in seinen Augen Kumpels sind.

Kumpels …

Nachdem ich endlich den Türöffner gedrückt habe, betritt Konrad kurz darauf die Wohnung. Zur Begrüßung beugt er sich zu mir vor und haucht französische Küsschen auf meine Wangen. Grundsätzlich mag ich das Konzept dieser Tradition, habe mich aber nie an die tatsächliche Praxis gewöhnen können. Es ist so awkward, jemanden mit Lippenkontakt zu begrüßen, mit dem man nicht in einer Beziehung oder ersten Grades verwandt ist. Doch irgendwie passt es zu Konrad und seinem restlichen aristokratischen Auftreten, das er an den Tag legt, wenn er nicht gerade Pizzen in einem Wärmerucksack ausfährt.

Heute trägt er ein weißes Hemd mit drei geöffneten Knöpfen, dazu Chinos und Lederschuhe. Darüber einen camelfarbenen Wollmantel und einen elegant aussehenden Schal. Auch wenn mich der Anblick des Schals an die Genugtuung auf Jonas’ schönem Gesicht erinnert, mag ich den Look. Das Ensemble entspricht genau dem Outfit, das ich dem Mann an meiner Seite in meiner Fantasie anziehen würde. Allerdings stelle ich nun fest, dass es nicht das Outfit ist, das ich dem Mann an meiner Seite ausziehen möchte.

Meine Fingerspitzen kribbeln nicht, wenn ich Konrad ansehe. Die Härchen auf meinem Rücken machen keine La-Ola-Welle für ihn. Und ich sehne mich schon gar nicht danach, mit ihm in den Kölner Sternenhimmel zu blicken.

Ich will ihn nicht.

Doch die Person, die ich will, erwidert diese Gefühle nicht.

In meinem Kopf wird eine Stimme laut, die gehörig nach meiner Mutter klingt und mir sagt, dass das auch für immer so bleiben wird. Aus Gründen, die mir doch eigentlich klar sein müssten.

Ich puste in meinen Pony, um ihn einerseits zu richten und um andererseits in meinem Oberstübchen durchzulüften. Es scheint zu wirken, denn ich finde meine Sprache wieder. »Hey! Du bist hier!« Fantastische Feststellung, Polly.

»Ja. Sorry, dass es so lange gedauert hat. Ich glaube, irgendetwas stimmt mit eurem Summer nicht.« Konrad sieht sich ohne Scheu in der Wohnung um, mustert die Jackenauswahl an der Garderobe, die Sporttasche am Boden und die Einrichtung des Wohnbereichs.

»Ähm. Nein. Irgendetwas stimmt mit meinem Mitbewohner nicht. Er hat … Ach, nicht so wichtig.« Die verschlossene Badezimmertür erinnert mich mit aller Deutlichkeit daran, dass ich den Abend mit dem falschen Mann verbringen werde. Ich möchte Jonas’ echtes Lachen hören. Oder wie er mich Pollyschmolly nennt.

Das Brausen der Dusche befördert noch dazu eine andere Erkenntnis in mein Bewusstsein: Jonas ist dort, nur zwei Meter neben uns, nackt. Er hat sich den Schweiß abgewaschen und die Muskeln eingeseift. Hat seinen Bauch und das Muskel-V an seinen Leisten berührt.

Oh Gott … Ich habe Jonas schon auf Fotos ohne Shirt gesehen. Anna hat früher gern Bilder von sich und ihrer Familie am Strand gepostet. Damals habe ich darauf nur die sportlichen Körper von fünf attraktiven Menschen gesehen. Jetzt kann sich Jonas nicht einmal durch eine Wand getrennt in meiner Nähe aufhalten, ohne dass ich ihn begehre. Und das liegt gar nicht so sehr an seiner Nacktheit. Sondern an seiner rundum perfekten Jonashaftigkeit.

»Ah! Ja, dein Mitbewohner.« Konrad plustert sich regelrecht auf, imitiert breite Schultern, indem er die Arme ein wenig anwinkelt, und deutet das Heben von Hanteln an. Da er selbst kein besonders schmaler Mann ist, wirkt die Pose über den beabsichtigten Effekt hinaus albern.

»Genau der«, sage ich dennoch, weil ich gerade nicht in der Stimmung bin, Jonas zu verteidigen. Vielleicht hilft es meiner komplett außer Kontrolle geratenen Fantasie, ihn ein wenig ins Lächerliche zu ziehen.

Nope, Girl, gibt mein Gehirn durch, hier oben läuft immer noch der Extended Cut von 50 Shades of Jagoda.

Shit.

»Wollen wir los?«, schlage ich vor, um wieder in die Spur zu kommen. Jedoch verstummt neben uns genau in diesem Augenblick die Dusche, weswegen mein Gehirn eine Szene von Jonas, der sich abtrocknet, in den Extended Cut mit hineinschneidet.

Doppel-Shit.

»Alter!« Ah, gut. Konrad hat mir also aufmerksam zugehört. Er reckt den Hals noch immer nach unserer Einrichtung und deutet nun auf Jonas’ Allerheiligstes. »Nice Espressomaschine!«

»Die gehört Jonas.« Seinen Namen in Konrads Gegenwart auszusprechen, fühlt sich unendlich falsch an.

»Ziemlich gut betucht, dein Mitbewohner, oder?«

Kurz trifft mich der Schlag, weil meine Ohren mir vorflunkern wollen, dass Konrad ihn soeben gut bestückt genannt hat. Doch mit leichter Zeitverzögerung kommt die wahre Aussage bei mir an, die ich nicht weniger irritierend finde. Wenn auch aus anderen Gründen. Es liegt nahe, dass Konrad Geld wichtig ist. Und auch ich habe viele Jahre nicht damit hinterm Berg gehalten, dass ich mit meinem Job später mal gut verdienen will. Aber dass er Jonas’ Kaffeeleidenschaft so materialistisch betrachtet, stört mich.

»Kaffee ist bloß sein Hobby«, spiele ich die Sache herunter und nehme dann demonstrativ Handtasche und Mantel vom Haken. »Hobby? Blasphemie!«, höre ich Jonas’ Stimme in meinem Ohr.

»Nicht nur Kaffee, wenn ich mir die Einrichtung hier so anschaue.« Erneut lässt Konrad seinen Blick durch die Wohnung schweifen und stößt dabei sogar einen kleinen Pfiff aus.

Ich mache ein Geräusch irgendwo zwischen Mhm und Mir doch egal, können wir endlich los? und schlüpfe dabei in meinen Mantel. Zugegeben – wir harmonieren wirklich ungemein in unseren ungeplant zueinanderpassenden Outfits. Sein doppelreihiger Wollmantel und mein taillierter Coat mit Bindegürtel. Seine Lederschuhe und meine Ankle Boots. Seine drei offenen Hemdknöpfe und mein Dekolleté. Und da wir beide ganz sicher keine V-förmigen Bauchmuskeln haben, würde vermutlich nicht einmal meine Mutter widersprechen, dass wir ein match made in heaven sind.

Doch an diesem Himmel tauchen unerwartet Regenwolken auf, als die Badezimmertür auf einmal mit Schwung aufgezogen wird.

Jonas kommt heraus. Jonas, dessen Körper von nichts bedeckt wird als den Haaren auf seinem Kopf und dem Handtuch um seine Hüften. Der Cappuccino, den ich eben getrunken habe, scheint sich in hochprozentigen Alkohol zu verwandeln, ich fühle mich berauscht, benebelt und unsicher auf den Füßen. Man könnte meinen, dass sich meine Erinnerung an Annas alte Familienbilder vor meinen Augen manifestiert hat. Doch der reale, ziemlich unverhüllte Jonas vor uns scheint sich in den letzten Jahren, in denen keine Oben-ohne-Fotos von ihm mehr im Netz kursierten, verändert zu haben. Da sind keine Waschbrett-Abs mehr, keine tiefe Einkerbung neben seinen Hüftknochen. Stattdessen präsentiert er einen athletischen Rumpf, hollywoodreife Brustmuskeln und Schultern, von denen ich die nächsten hundert Jahre träumen werde.

Scheiße … wie konnte ein Sixpack je das Schönheitsideal für Männer werden – in einer Welt, in der solche Körper existieren? Er sieht so … stark aus. Stark mit einer Spur von Sanftheit.

Ich fühle mich unendlich zu ihm hingezogen. Nicht zu seinen Schultern oder zu seiner definierten Brust. Sondern weil er mir gezeigt hat, wie es unter seinen Muskeln aussieht. Weil er es mir erzählt hat. Mir!

Jonas hingegen geht vollkommen ungerührt an uns vorbei, tippt sich mit der Hand an die Stirn und grüßt trocken: »Tach!«

Er durchquert das Wohnzimmer, wobei sich das graue Handtuch viel zu eng um seinen Hintern schmiegt, und verschwindet schließlich in seinem Zimmer.

»Ja, äh, Tach auch«, erwidert Konrad verlegen, ungeachtet der Tatsache, dass Jonas uns schon längst nicht mehr hören kann.

Ich puste noch einmal in meinen Pony, obwohl jetzt mindestens ein Hochdruckreiniger nötig wäre, um meinen Kopf sauber zu kriegen, und sage ein weiteres Mal: »Gehen wir dann jetzt?«

Dreifach-Shit. Mindestens.

abs

Konrad lässt den Eiswürfel in seinem Whiskey-Tumbler klirren, als hätte er vergessen, dass er nicht mehr als Don Draper verkleidet ist. Wir sind in einer sehr schicken Bar, in der dieses Getränk geschlagene zehn Euro kostet. Der Weißwein vor mir wird heute also mein einziger Drink bleiben, sonst sprenge ich mein Budget. Niemals würde ich damit kalkulieren, dass Konrad mich einlädt. Erstens lasse ich mich ungern einladen und zweitens kann ich es nicht verantworten, sein hart erstrampeltes Lieferando-Geld in meine durstige Kehle zu schütten.

Seine Arbeit erscheint mir als guter Anhaltspunkt, um aus dem Kommunikationstief herauszukommen, das sich zwischen uns eingeschlichen hat, sobald wir ein banales »Und wie geht’s dir heute?« ausgetauscht hatten. Ich finde es wirklich interessant, dass er sich bei Wind und Wetter auf ein Rad schwingt, statt auf einen bequemen Bürostuhl, und dafür sicherlich auch noch grausig bezahlt wird. Es bricht mit seinem Look, seinem Auftreten und Fragen wie Gut betucht, dein Mitbewohner?

»Wie gefällt dir das Essenausliefern?«

Konrad weicht meinem Blick aus, tippt mit dem Finger an den goldgelben Whiskey. »Ist nicht wirklich mein Traumjob.«

»Na ja«, sage ich und versuche, eine verständnisvolle, aber amüsierte Miene aufzusetzen, um ihn – und mich – entspannter zu machen. »Wer hat schon einen traumhaften Nebenjob im Studium?«

»Du. Dachte ich.« Die Ironie dieser Annahme entgeht mir nicht. Ja, das dachte ich auch, würde ich gern antworten. Doch ich werde Konrad sicher nicht in mein Dilemma einweihen. Das ist kein Thema fürs erste Date. Es ist kein Thema für … jemals. Nicht mit ihm.

Der Abfall meiner eigenen Stimmung versetzt mich in Alarmbereitschaft. Sofort beginnt es, in meinem Kopf zu rattern: Welchen Witz muss ich reißen, um das zu ändern? Welcher Schwank aus meinem Leben könnte diesen Abend retten? Doch will ich das überhaupt?

»Ich weiß nicht, wie du dir meine Stelle bei Gayleway & Gabel vorstellst. Aber sie hat reichlich wenig mit Juristerei zu tun.«

Konrad macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das kümmert niemanden, solange es in deinem Lebenslauf steht.«

»Das habe ich auch gesagt!«, rufe ich und bin einen Moment lang ehrlich erfreut darüber, dass Konrad es genauso sieht. Seine spontane Einschätzung ist ein Reminder, wieso ich mir das alles antue. Doch dann erkenne ich den Neid in seiner Stimme.

Er hat ja keine Ahnung, worauf er da neidisch ist. Das dunkle Funkeln in Konrads Augen wirkt missgünstig und sehnsüchtig. Als würde er selbst Mobbing nur zu gern in Kauf nehmen, wenn er im Gegenzug meinen Job – und meinen Lebenslauf – bekäme.

»Wieso suchst du dir nicht etwas anderes?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass mein Ton leicht passiv-aggressiv wird.

Konrad lehnt sich zurück. Die Bar ist mit niedrigen Sofas ausgestattet, in denen man mehr liegt als sitzt. Im Hintergrund läuft ein Electrobeat, der eigentlich eine Spur zu laut ist, um sich angenehm unterhalten zu können. Bestimmt machen sie das mit Absicht, damit man mehr trinkt und weniger quatscht. Ein Konzept, das fast schon zu symbolhaft für Konrad und meine Beziehung zu stehen scheint.

»Dein Mitbewohner … was ist das für ein Typ? Lauft ihr bei euch immer nackt durch die Wohnung?« Mir entgeht nicht, dass meine Frage unbeantwortet bleibt. Aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass er weniger befangen wäre, über seinen Job zu sprechen, wenn ich bei McDonald’s Pommes würzen oder einem Fünftklässler Englischnachhilfe geben würde.

»Klar. Wir baden auch einmal die Woche zusammen und geben uns Gutenachtküsse.« Mein eigener bittersüßer Humor spielt mir Streiche. Denn jetzt stelle ich mir das Gesagte bildlich vor und sitze gedanklich nicht mehr länger mit Konrad in der zu lauten, zu dunklen Bar. Wie ferngesteuert nehme ich mein Handy in die Hand und verpasse diesem Abend damit den Todesstoß. Kein Date – jemals – verlief noch gut, nachdem einer der Anwesenden nach gerade einmal fünfzehn Minuten auf sein Smartphone geschaut hat.

Ich weiß nicht genau, was ich mir erhoffe. Vielleicht eine Nachricht von Jonas, der mich bittet, nach Hause zu kommen. Doch stattdessen entdecke ich eine Nachricht von Anna in unserem Chat, in der sie mich um ein Minutenprotokoll der Nacht mit Konrad bittet. Puh. Das wird kurz ausfallen: Es war ein Reinfall. Ich habe jede einzelne Sekunde nur daran gedacht, wie viel schöner alles wäre, wenn mein Weißwein ein Kakao und Konrad dein Bruder wäre.

abs

Am nächsten Morgen fühlt sich mein Kopf an, als hätte er die ganze Nacht in Konrads Whiskeyglas gelegen und sich bis in die Haarspitzen mit Alkohol vollgesogen. Ich kann es ihm gar nicht verübeln. Er musste sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden ja auch wirklich mit einer Menge Bullshit auseinandersetzen. Angefangen bei der Sache mit Patrick über den Streit mit meiner Mutter bis hin zu meinem Date mit dem falschen Mann.

Ich wälze mich stöhnend von der rechten auf die linke Seite und greife neben meinem Bett nach dem Handy. Kurz nach zehn. Wenigstens habe ich ausgeschlafen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, weil ich bereits vor Mitternacht wieder zu Hause war. Da Konrad nicht darauf zu vertrauen schien, dass ich den kurzen Weg zwischen Bar und Wohnung eigenständig zurücklegen kann, hat er mich auf dem Heimweg begleitet. Vielleicht hat er sich auch mehr erhofft. Sich ausgemalt, wie wir unseren Kuss vom 11.11. wiederholen oder ihn auf die nächste Stufe befördern würden. Ich wollte mich gestern allerdings nur noch ins Bett befördern. Und zwar allein.

Ach Mist … Dieser ganze Abend hätte überhaupt nicht stattfinden dürfen. Es war unfair von mir. Gegenüber Konrad und gegenüber mir selbst. Ich kann nicht mit jemandem auf ein Date gehen, nur weil ich die Idee von uns mag. Oder besser gesagt: weil ich die Idee unserer zusammenpassenden Mäntel mag.

Das WhatsApp-Icon ist noch immer mit einer rot umkreisten Eins versehen, ein unumstößlicher Beweis dafür, dass ich Anna gestern erst on read gelassen und ihre zweite Rückfrage dann ganz ignoriert habe. Doch jetzt öffne ich den Chat.

Anna
Keine Antwort. Oha.

Anna
Ohaohaohaohaohaoha, Polly hat Sex mit Jura-Konrad.

Vielleicht hätte ich es tun sollen. Vielleicht hätte ich Konrad mit raufnehmen sollen. Er hat gezögert vor dem Abschiedskuss auf die Wange. Es wäre bestimmt ein Leichtes gewesen, ihn auf meine Lippen umzulenken und ihn dann wild knutschend wie letzte Woche die Treppe hochzuschleifen. Aber … aber Jonas.

Scheiße … ich kann nicht in Jonas verliebt sein!

Ich muss den Kopf frei kriegen, am besten mit einer eiskalten Dusche, um die nicht mehr abflauen wollende Hitze in meinem Körper zu regulieren. Ich puhle mir die lockere Zahnspange aus dem Mund und verstaue sie in der Box neben meinem Bett. Sie balanciert dort zusammen mit meiner Brille und einem Wasserglas auf einer Ausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das Ganze sieht aus wie ein nicht sehr unfallsicheres Mahnmal der Tatsache, dass ich mir ganz dringend einen Nachttisch besorgen sollte.

Ohne Spange, dafür mit Brille auf der Nase und einem gigantischen Haarknödel auf dem Kopf, verlasse ich das Zimmer. Der Duft, der von der Küchenzeile zu mir herüberströmt, verheißt eindeutig, dass Jonas mal wieder seine göttlichen French Toasts macht. Oder besser gesagt: gemacht hat. Denn er sitzt bereits mit einem Teller vor sich am Tresen, den Blick auf sein iPhone gerichtet und an einer Tasse Kaffee nippend.

»Morgen«, grüße ich ihn. Und mit einem Mal fühle ich mich underdressed. Mein Schlafanzug besteht aus einer Jogginghose und einem ausgeleierten T-Shirt – eine Kombi, in der ich, anders als Jonas, nicht aussehe wie ein sexy Betthäschen. Das flatterige Gefühl, das ich bei seinem Anblick verspüre, weitet sich von meinem Magen auf den gesamten Organismus aus. Mir kommt es vor, als hätte es sich auch in meinen Nieren, der Leber und in der Gallenblase breitgemacht. Selbst meinem Blinddarm wird ganz anders, weil Jonas diese viel zu heiße graue Sweathose trägt, die kein Geheimnis daraus macht, wie ihr Träger so bestückt ist. Und Jonas’ bestes Stück ist in diesem Moment wirklich das Allerletzte, worüber ich mir Gedanken machen sollte.

»Hey«, erwidert er knapp und ohne aufzusehen. Die Schmetterlingsflotte in meinen Organen fällt einer Massenkarambolage zum Opfer. Was ist los mit ihm?

Ich gehe zur Kaffeemaschine und tue so, als wäre mir seine negative Stimmung nicht aufgefallen. »Gut geschlafen?«

Er gibt lediglich ein Brummen von sich und schneidet dann eine Ecke seines Toasts ab, ohne sie zu essen.

»Das heißt dann wohl Nein.« Die gecrashten Schmetterlinge gehen in Flammen auf. Was habe ich Jonas getan? Ist er nur mit dem falschen Fuß aufgestanden oder nimmt er es mir wirklich übel, dass ich ihn, meinen neuen besten Kumpel, nicht in jedes meiner Vorhaben einweihe? Verunsichert tampere ich Kaffeepulver ins Sieb und lasse mir einen Espresso durchlaufen. Da Jonas sich weigert, von seinem Telefon aufzusehen, und ich die Stille nicht ertrage, versuche ich es mit einem Scherz: »Wurden die Nudes von Scarlett Johansson geleakt oder was ist so interessant?«

Kurz sieht er auf und blendet mich dabei regelrecht mit seinen klarblauen Augen. »Die ist nicht wirklich mein Typ.«

»Was? Wie kann das sein? Die ist selbst mein Typ!« Ich schütte einen Rest aufgeschäumter Milch, den Jonas im Kännchen zurückgelassen haben muss, in meine Tasse und sehe mich dann unauffällig nach einer zweiten Portion von dem Frühstück um. Doch heute scheint Jonas mich nicht mit einkalkuliert zu haben. Und obwohl er natürlich nicht dazu verpflichtet ist, mich jeden Sonntag mit Süßspeisen zu verwöhnen, bin ich enttäuscht. Das Wochenende fühlt sich dadurch weniger komplett an, ein bisschen wie ein Jahr ohne Weihnachten. Weil ich nicht weiß, wie ich diesen Gedanken ansprechen soll, ohne wie ein fordernder Vielfraß zu klingen, kippe ich mir eine Portion Müsli in eine Schale, lasse Milch darüberlaufen und setze mich zu ihm.

»Keine Sriracha dazu?« Ein leises Schmunzeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Dieser Insider macht mir Hoffnung, dass Jonas tatsächlich nur ein bisschen morgenmuffelig ist.

»Mein Leben verträgt nicht noch mehr Schärfe«, witzle ich zurück und beginne, das Müsli zu löffeln.

»Du meinst … noch mehr als den Schal tragenden FDP-Wähler?«

»FDP-Wähler?« Ich schnaube so heftig, dass ein paar milchgetränkte Haferflocken durch die Küche fliegen.

»Komm schon. Er hat dir gestern Abend doch bestimmt gepredigt, dass man privat mit Aktien vorsorgen sollte oder so ähnlich.«

»Nein?« Auch wenn er eventuell erwähnt hat, dass er einen Sparfonds oder etwas dergleichen hat. Aber das werde ich Jonas garantiert nicht erzählen. »Und wen er wählt, hat er auch nicht erwähnt. Außerdem … schon mal von Artikel 38 im Grundgesetz gehört?«

»Was steht da drin? Dass man braune Mäntel nie mit schwarzen Schuhen kombinieren darf?« Ich warte auf sein schelmisches Grinsen, von dem mein Herz jedes Mal fast ein Schleudertrauma bekommt. Doch es bleibt aus.

»Nein. In Absatz 1 heißt es, dass man seiner Mitbewohnerin niemals allein Süßspeisen vorkauen darf, sondern verpflichtet ist, ihr ebenfalls etwas anzubieten.« Ich ziehe eine Augenbraue hoch, verharre kurz mit dem gehäuften Löffel vor meinem Mund und versenke ihn schließlich mit Nachdruck darin.

Unbeeindruckt spießt er die bereits abgeschnittene Toastecke auf und hält sie mir hin. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich schlucke schnell das Müsli runter und schnappe zu. Jonas zieht die Gabel so ruckartig zurück, dass ich mit ihm falle. Intuitiv stütze ich meine Hand auf seinem Oberschenkel ab … nur wenige Fingerbreit von der Stelle, an der – das wird mir in diesem Moment viel zu klar – seine Boxershorts anfangen müssen. In meinem Kopf setzt die Fanfare von 20th Century Studios ein, der ein heißer Film mit einem oberkörperfreien Jonas in der Hauptrolle folgt.

Ich rapple mich auf, durchpuste meinen Pony und sage schließlich: »Artikel 38, Absatz 1 ist übrigens das Recht auf eine geheime Wahl. Unter anderem. Wegen … FDP und so.«

»Verstehe«, entgegnet Jonas leise und schielt hinab auf seinen Oberschenkel. Wo noch immer meine Hand liegt.

Fuck.

Ich räuspere mich und ziehe sie zurück. Die Stille zwischen uns wird laut und drückend. »Also … jedenfalls …« Es gelingt mir nicht, meine Stimme sarkastisch genug klingen zu lassen, um von der Hand-Boxershorts-Situation abzulenken. »Ähm … echt frech mit dem French Toast.«

»Du kannst es haben, wenn du magst. Mir … ist heute nicht so danach.«

»Ist … ist alles okay?« Ich mustere ihn genauer, um nach einem offensichtlichen Grund für seinen mangelnden Appetit zu suchen.

Jonas wirkt tatsächlich etwas matt, sein Gesicht überschattet. »Ja klar …« Er müht sich mit einem Lächeln ab und stemmt sich hoch. »Ich muss dann mal.«

»Wohin?«, frage ich reflexartig.

»Ich … äh … gehe einen Kaffee trinken.«

Er hat doch gerade erst einen Kaffee getrunken?

»Mit wem?« Wieso kann mein Mund nicht einfach die Klappe halten?

»Mit Isabella.«

»Oh«, macht mein vorschneller Mund. Das hätte mein Kopf lieber nicht gewusst.

Jonas lächelt müde und geht dann mit einem ausgestreckten Daumen in sein Zimmer.