24. KAPITEL

Antonio fand sie im Wintergarten. Es war später Nachmit tag, die Singvögel flogen zwitschernd von Ast zu Ast, der Jasmin verströmte seinen schweren Duft, und die Rosen hatten in der warmen Treibhausluft zu knospen begonnen. Das späte Licht fiel durch die Wedel von Riesenfarnen und Palmen, die sie in Saint Louis gekauft hatte. Die Fenster waren von der Feuchtigkeit beschlagen. Orchideen sprossen in chinesischen Töpfen. Sie nähte, und in ihrem Schoß lag die feine dunkelblaue, fast schwarze Wolle übereinandergeschichtet, so dass sie ihn fast bedeckte, und ergoss sich auf den roten Marmorfußboden.

Er saß ihr wie ein Hund zu Füßen, geduldig, fügsam, nach Liebe lechzend. Seine Bereitschaft, sich demütigen zu lassen, beschämte ihn selbst. Sie zeigte ihm auf einer Zeichnung, wie das fertige Kleid aussehen würde. Es war fast so weit, ein schlichtes Kleid von elegantem Schnitt, vom Saum bis zum Kragen geknöpft und mit weißer Gaze aus Seide an Ärmeln und am Kragen. Vorne hatte es Falten bis zur Taille, Ziernähte, so klein, dass man sie praktisch gar nicht sah, sorgten für den Halt der Falten. Die Wolle war dünn und teuer, wie Flüssigkeit in ihren Händen. Sie ließ den dunklen Stoff geschickt durch ihre schmalen weißen Finger gleiten, die Nadel stach blitzschnell hinein und fuhr wieder heraus, und man hörte das leise Klicken der Stahlnadel auf dem silbernen Fingerhut, den sie trug.

Geschickt drehte sie das Kleid um und zog die ellenlange Wolle zu sich heran, um weiter am Saum zu arbeiten. Antonios Knie streifte den Stoff, und er war elektrisiert. Unter dem Dunkelblau waren ihr Schuh, ihre weißen Strümpfe und darunter ihre elastische Haut, die Landkarte ihres ganzen Körpers. Und wiederum darunter waren ihre süßen Gerüche, waren ihre geheimen Stellen, zu denen er gelangt war und in denen er geschwelgt hatte.

»Hattie Reno«, sagte sie leise. »Du hast einen Brief von ihr bekommen. Ich habe die Handschrift erkannt.«

»Ich habe es ihnen erzählt. Ich musste ihnen etwas sagen. Ich habe den Brief verbrannt.«

»Es geht ihr gut.«

»Es geht ihnen allen gut. Sie vermissen dich. Sie schreibt, das Theater sei voller langweiliger Leute. Sie schreibt, seit du fort bist, ist das Bier schal geworden, es sprudelt nicht mehr. Du hast sie amüsiert. Sie vermisst dich.«

»Erzähl ihr nichts von mir. Das war ein anderes Leben.«

»War das so, Mrs. Truitt?«

»Menschen verändern sich, Antonio. Menschen entwickeln sich weiter.«

»Ich nicht. Ich entwickle mich nicht weiter.«

»Hattie Reno war meine beste Freundin. Jetzt denke ich kaum noch an sie. Nicht aus Herzenskälte, es ist nur so, dass sich alles so verändert hat.«

»Du tust doch nur so.«

Für einen Moment ließ sie ihre Handarbeit sinken. »Nein, das glaube ich nicht. Ich war es leid, so schrecklich zu sein, so schrecklich zu den Leuten.«

»Du warst nie schrecklich zu mir.«

»Wir waren schrecklich zueinander. Es waren andere Zeiten. Es war wie eine Art Wahn. Antonio, das ist jetzt vorbei. Du musst deinen Frieden damit machen. Du musst deinen Frieden mit deinem Vater machen.« Sie nahm ihre Näharbeit wieder auf, schnelle Stiche durch den Saum.

»Ich bin zu müde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie müde ich bin.«

Sie sah ihn an. »Ich weiß, wie schwer es ist. Ich weiß, dass er dir Schreckliches angetan hat. Du musst ihm jetzt verzeihen. Wenn du es nicht tust, kann er sich selbst nicht verzeihen.«

»Du hast versucht, ihn zu töten.«

»Und dann habe ich damit aufgehört. Ich konnte es einfach nicht. Etwas in mir hat sich verändert. Ich könnte keiner Fliege mehr etwas zuleide tun.«

»Einst hättest du alles für mich getan. Du hast mir ein Versprechen gegeben.«

»Da war ich ein anderer Mensch. Dieses Versprechen hat dir ein anderer Mensch gegeben.«

»Und das war’s dann also?«

Ihre Augen blitzten auf. »Was brauchst du denn noch, was du nicht längst schon hast? Du hast seine Liebe. Du hast sein Geld. Du hast seine Aufmerksamkeit. Mach was daraus. Mach daraus ein eigenes Leben.«

Er berührte den Saum ihres Kleides. In seinen Fingern und seinen Arm hoch brannte es wie Feuer. Er berührte ihren Schuh.

»Lass das sein.«

»Es bedeutet dir nichts? Rein gar nichts?«

»Es bedeutet mir nichts. Lass es sein.«

Er stand auf und ging weg, und seine Absätze hallten auf dem Marmorfußboden. Er wusste nicht, wohin er lief oder was er tun würde.

Das konnte sie doch nicht meinen. So leicht konnte sie ihre lange Vergangenheit doch nicht von ihrer Gegenwart abspalten. Sie konnte doch nicht verleugnen, was sie füreinander gewesen waren, all die Sachen, die sie miteinander gemacht, all die Pläne, die sie gemeinsam geschmiedet hatten.

Er saß in seinem Zimmer und trank Brandy. Wenn er schon den Tod seines Vaters nicht erreichen konnte, dann wollte er wenigstens sein altes Leben zurück. So einfach konnte sie den Freuden des lasterhaften Lebens nicht den Rücken zukehren. Er wollte sie. Der Gedanke kam ihm wie ein Schuss ins Gehirn, und danach wusste er gar nichts mehr. Alles war nur noch Dunkelheit danach.

Er eilte zurück durch den Flur und die lange Treppe hinunter. Er lief unter den venezianischen Kronleuchtern entlang durch die große Halle in den Wintergarten. Sie saß immer noch da, aber sie wusste schon, dass er kam, sie musste es schon gewusst haben, weil sie ihr Nähzeug weggelegt hatte. Sie saß still und ruhig da, wartete auf ihn, ihre Augen waren riesig, die gemischten Gefühle, die sie empfand, standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Er packte ihre Hände. Sie entzog sie ihm. Er packte ihre Arme und zog sie zu sich heran. Er presste sich mit der ganzen Länge seines Körpers an ihren Körper, presste seinen Mund auf ihren Mund, er legte die Arme um sie, ließ die Hände über ihre Schultern und unter den Stoff ihres Kleides gleiten. Sie zitterte.

Sie entzog sich ihm. »Antonio. Lass das sein. Ich flehe dich an.«

»Ich muss es einfach tun. Es tut mir leid. Ich muss es einfach tun.«

Er küsste sie noch einmal. Er strich ihr mit der Hand übers Gesicht, während er sie mit der anderen an sich zog. Er griff ihr unters Kleid, spürte ihre Haut, ihre warme, weiche Haut, in ihm brannte das Feuer, und er wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Sie wollte es doch auch. Sie musste sich doch wieder erinnern, und dann musste sie es auch wollen. Das sagte er sich immer und immer wieder.

Dann konnte er nichts mehr denken, verlor die Fähigkeit zu denken, und war nur noch Bewegung, während sein Mund und seine Hände sie wieder zu den Tagen und Nächten in seinem Zimmer in Saint Louis zurückbrachten, zu den Tagen, als sie noch jemand anders gewesen war, jemand, der für seinen Körper und dessen Freuden lebte, jemand, der sich hingab, weil es völlig egal war, wer oder was sie war. Damals hatte sie gelacht, damals hatte sie die gewöhnliche Welt mit ihren gewöhnlichen moralischen Skrupeln verachtet, und er war ein Teil davon gewesen. In ihrer Lust waren sie wie Zwillinge gewesen, mit den Atemzügen des anderen gestiegen und gefallen, er hatte ihren Körper mit Küssen bedeckt, und es gab keinen Teil von ihr, der nicht auch ihm gehörte.

Sie war die Freude und die Qual seiner Jugend gewesen, und dennoch war es gar nicht um sie gegangen, das wurde ihm plötzlich klar. Sie war nur das Tor zu seinem Gefühl der Losgelöstheit gewesen, dem Gefühl, hoch über der Erde haltlos im Raum zu schweben, und dieses Gefühl wollte er wiederhaben. Näher konnte er dem Tode nicht kommen.

Sie war anders. Sie war eine Fremde. Es war, als ob sie sich ihm in Verkleidung genähert hätte, als wären das Kleid, die Haare und das reine Gesicht ihres neuen Lebens ein Kostüm, das sie angelegt hatte, um ihn zu amüsieren.

Sie wehrte sich gegen ihn. Sie kämpfte, und das trieb ihn noch zusätzlich an, ließ ihn völlig haltlos werden. Er konnte sie haben, auch wenn sie ihn nicht wollte. Er hatte das schon früher getan. Selbst wenn sie wütend auf ihn gewesen war, hatte er sie trotzdem haben können. Wenn er zu frech, zu betrunken gewesen oder zu spät nach Hause gekommen war, war sie trotzdem, während er schlief, in sein Zimmer geschlichen, hatte sich neben ihn gelegt und sich von ihm nehmen lassen, weil sie nirgendwo sonst hinkonnte, weil sie glaubte, dass ihr Leben in der Gosse war und er die Gosse war, in der sie lebte.

Er zerrte an seinem Hemd, und ihre Hände zerkratzten seinen Körper, sie riss seine Haut mit ihren Nägeln blutig, sie begann zu schreien und rief nach Mrs. Larsen. Er hielt ihr mit der Hand den Mund zu und hob ihren Rock, zog an ihren Strümpfen und an ihrer Unterwäsche herum, bis er mit seiner Hand an ihr Fleisch gelangt war. Da wurde auf einmal alles ruhiger. Er atmete nicht mehr so heftig. Eine Sekunde lang war, während sich seine Hand ihrem Geschlecht näherte, während er ihr den Mund zuhielt und sie keinen Laut von sich gab, außer dem Zwitschern der Vögel kein Geräusch zu hören.

Er ließ seine Hand wieder von ihrem Mund sinken und küsste sie, quälte ihren Mund mit seiner Zunge und biss ihr auf die Lippen, und sie gab trotzdem keinen Laut von sich, stand nur da und zuckte in seinen Armen, aber lautlos, und nur das Knistern ihres Rocks auf dem Fußboden, nur das Flattern der Flügel und das Rascheln der Palmwedel, wenn die Vögel aufflogen, waren zu hören. Er küsste sie auf die Augen, auf die Haut an ihrer Stirn. Er leckte ihr Gesicht ab und biss ihr in die Ohrläppchen. Er hatte das Gefühl, als würde er brennen.

Er brauchte einfach das Gefühl, dass sie ihn wollte Er brauchte das Gefühl, dass sie nie fortgegangen war, dass sie ihn nie mit diesem irrsinnigen Plan, den sie ausgeheckt hatten, fallen gelassen und dass sie nie mit seinem Vater geschlafen hatte. Sie war seine Geliebte. Seine. Sie war die Sehnsucht seiner Kindheit, die Frau in der Tram, das junge Mädchen im Restaurant, die Hure am Ende der dunklen Straße.

Er zerrte an ihrem Kleid, und es zerriss unter seinen Händen, zwei schnelle Bewegungen, und es war offen. Er zerrte an ihrem dünnen Mieder herum, bis er ihre Brüste, deren dunkle, volle Brustwarzen sich aufgerichtet hatten, sehen konnte. Er sank auf die Knie und zog sie zu sich herab, hatte ihre Brüste in den Mund genommen und biss in ihre Brustwarzen. Er wusste, dass er sie vergewaltigte. Er wusste, dass dies nicht ihr Wunsch war, nicht das, was sie wollte, und auch das fand er erotisch.

Er riss weiter am Stoff herum, und dann sah er das dunkle haarige Dreieck. Sie stand immer noch, ihre Hände lagen auf seinem Kopf. Sein Haar war zerwühlt und angeklatscht, die Anstrengung, das zu tun, was er gar nicht tun wollte, das zu tun, was er tun musste, um seinem Tod noch einen Schritt näher zu kommen, hatte ihn ins Schwitzen gebracht.

Sie weinte jetzt, und er konnte hören, wie sie atmete, während sie weinte, und er stand auf und leckte ihr die Tränen vom Gesicht, während er ihr die Unterhose herunterzog und gegen ihren Willen in sie eindrang, was ihm bewusst und vollkommen egal war. Sie war nicht mehr Catherine. Sie war jemand, den er nicht kannte, und es war ihm völlig egal, ob er sie verletzte, sie schändete oder sie beschämte. Sie war die Letzte, und dies war das letzte Mal. Er würde sie nie wiedersehen.

Sie stach zweimal auf ihn ein. Sie stach mit der Nähschere aus ihrem Nähkorb, der auf der Sessellehne stand, auf ihn ein. Sie stach ihm in den Rücken und dann in die Schulter, als er schockiert zurücktorkelte. Ihr Kleid war völlig zerrissen, und ihre Haut war entblößt. An ihrem nackten Bauch, der sich gerade erst zu runden begann, hing ihr Mieder in Fetzen. Ihr Körper bäumte sich auf, als sie vor Schmerz, Wut und Verzweiflung heulte.

»Warum?«, das war alles, was sie schrie. »Warum?« Wieder und wieder.

Nun begann er zu weinen. Von seiner Schulter und seinem Rücken tropfte das Blut, und er heulte vor Schmerz über alles, das verloren und jetzt für immer zerbrochen war, alles, das er nie wiederhaben könnte. Er hatte etwas gewollt, aber jetzt konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war.

»Er hat meine Mutter umgebracht! Ich habe es gesehen!«

»Das hat er nicht, Antonio. Das ist nie geschehen.« Sie raffte ihr zerrissenes Kleid um sich, versuchte, es mit einer Hand zuzuhalten und sich mit der anderen das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Ihre Augen waren jetzt wieder trocken, ihr Mund war hart und unnachgiebig, und auch ihre Stimme klang hart, sie war hart und von der Wahrheit durchdrungen.

»Er hat sie sterben lassen. Sie war krank, Antonio. Das hast du geträumt. Du hast dir soviel eingebildet, aus Hass, aus … ich weiß es nicht, aus irgendwelchen Gründen, und du dachtest, es sei wahr, aber das ist es nicht. Sie war krank. Sie war allein und lag im Sterben, und er hat dich mit zu ihr genommen, und sie wusste nicht einmal mehr deinen Namen, und da hat er ihr den Rücken zugekehrt und ist weggegangen, und auf diese Weise hat er sie getötet, ja, aber nicht so, wie du meinst.«

»Nein!«

»Doch. Und er hat es sein ganzes Leben lang bereut, er wünschte sich, er hätte anders gefühlt, aber das hat er nicht, er hat sie sterben gelassen, und du musst sie auch sterben lassen, du musst sie in Frieden sterben lassen und nicht mehr nach ihr suchen und dich nicht fragen, wo sie ist. Sie ist fort, das ist alles. Sie war immer schon fort. Lange vor ihrem Tod.«

Er blutete stark. Er hatte Schmerzen. Es war ihm egal. Er fiel auf die Knie, vergrub seinen Kopf in ihrem zerfetzten Rock und weinte, er weinte um sich selbst. Und dann hörten sie das Geräusch an der Tür. Sie hörten Truitts Schritte in der Eingangshalle, aber es war zu spät. Ihr Kleid war ruiniert, Antonios Blut tropfte auf den Marmorfußboden, und Truitt würde wissen, was passiert war, und er würde auch wissen, dass er schließlich über jedes erträgliche Maß hinaus betrogen worden war.

Dann stand er in der Tür. Und wusste alles.

Antonio drehte sich zu ihm um, seine Hände waren von seinem eigenen Blut befleckt, und sein Gesicht war eine Maske des Schmerzes. »Ja! Ich habe sie vergewaltigt. Ich war mit ihr zusammen, ich war tausend Mal in ihr. Weißt du eigentlich, was sie ist? Weißt du, wer sie ist?«

Aus Truitts Gesicht wich alle Farbe. Er stand stocksteif da. Er sah alles, jede Einzelheit wie eingefroren, das zerrissene Kleid, das Blut auf seinem Jungen, die Vögel, die Palmen. Er roch den Jasmin, die Orangenblüten, und er sah das Kleid und das Blut, und er verstand, und er wusste, dass er seinen Sohn töten würde.

Er machte einen Schritt vor und zog Antonio an den Schultern hoch, hielt ihn in den Armen. Das Blut des Sohnes befleckte das Hemd seines Vaters, und die Feuchtigkeit drang ihm bis auf die Haut.

Und dann kam Bewegung in Truitts Hände. Er schlug seinem Sohn mit der Faust auf den Kopf, so dass er sich krümmte. Während sein Vater ihm mit den Fäusten ins Gesicht und auf den Leib schlug, wehrte er sich nicht, er versuchte nicht, sich zu schützen. Es war wie ein Traum aus der Vergangenheit, die Erinnerung an seine Kindheit. Er dachte bloß und sagte es zu sich selbst, dies ist es, dies ist der Moment, und dann hast du Ruhe. Wenn wir nur erst einmal hiermit durch sind, dann kannst du endlich nach Hause gehen, zu Hause sein und dich ausruhen.

Schließlich rannte er davon. Er entwand sich dem Griff seines Vaters, wandte sich von Catherine ab, sah ihren Schrei, hörte ihn aber nicht, sah den letzten Ausdruck auf ihrem Gesicht, während sie schrie, weil sie ihn gleichzeitig liebte und hasste, sah, wie sie seinen Namen rief, hörte sie aber nicht, die Stimme, die er geliebt hatte, er rannte aus dem Wintergarten, und die winzigen Vögel flatterten in alle Richtungen davon, er rannte weg, und Ralph folgte ihm, und seine Fäuste schlugen immer noch auf den blutenden Rücken seines Sohnes ein.

Antonio rannte in den großen Flur, den Flur mit den venezianischen Spiegeln, den langen Korridor entlang, der sich stark absenkte und in dem er keinen Halt bekam, weil seine Schuhe von seinem eigenen Blut durchtränkt waren, er rannte zum Kamin und griff nach dem eisernen Schürhaken, und als Ralph zu ihm gelaufen kam, schlug er ihm mit dem Schürhaken ins Gesicht, so dass sein Blut zu fließen begann, sein Vater zurücktaumelte und dann mit dem Kopf auf den Steinfußboden krachte. Catherine kam in die Halle gelaufen, sie packte ihn und versuchte, ihn aufzuhalten, als er an ihr vorbei und durch die Tür in den Garten lief.

Catherine lief zu Ralph. Sie nahm seinen Kopf und hob ihn vorsichtig an. Sie sah, dass seine Augen vor Wut weit aufgerissen waren, und wusste, dass sie ihn nicht mehr aufhalten könnte, dass sich nun alles bis zum bitteren Ende, das sie nicht wollte und sich nicht hätte vorstellen können, abspulen würde. Ralph rappelte sich auf, Catherine flehte ihn an, aufzuhören, sofort aufzuhören, bevor es zu spät wäre, aber er hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören, sondern folgte Antonio in den Garten und weiter, erwischte und schlug ihn. Antonio gab keinen einzigen Laut von sich. Er blieb stehen, rannte dann wieder weg, wurde von seinem Vater eingeholt und so geschlagen, wie er als Junge geschlagen worden war, nur dass er diesmal schuldig und verworfen und erfüllt von Schrecken war und dass beide es wussten.

Sie liefen miteinander kämpfend die ganze Wiese hinunter, Antonio griff nach allem, was er gerade zu fassen bekam, und schlug damit zurück – Stöcke, Steine – und verletzte Ralph, so dass der am Kopf zu bluten begann. Aber Ralph war jetzt nicht mehr zu bremsen, als er seine Fäuste einsetzte, um die Erinnerung an die Frau, die ihn ausgenutzt hatte, an das Kind, das weggelaufen war, an die Tage, die er triebhaft und zügellos vergeudet hatte, während sein Vater im Sterben lag, an die Mutter, die ihm die Nadel in die Hand getrieben hatte, mit seinen Schlägen auszumerzen. In diesem wilden Zorn ergoss sich die ganze Wut all dieser Jahre.

Catherine stand auf der breiten Steinterrasse und fürchtete sich davor, weiterzugehen, sie fürchtete sich davor, sich einzumischen, und wusste, dass, was auch immer jetzt geschähe, das Ende bereits feststand. Mrs. Larsen stand nun, lauter Mehl im Haar, neben ihr. Catherine konnte ganz genau sehen, was dort geschah und was auf der Wiese vor sich ging, den Araberhengst, der mit gesenktem Kopf im kurzen Gras stand und dann erschrocken den Kopf hob, als die beiden Männer schreiend und aufeinander einschlagend an ihm vorüberrannten.

Sie erreichten den Teich, Antonio schlitterte aufs Eis hinaus und stand dann da wie ein Bulle im Ring, verletzt und blutend, und die Tränen liefen ihm nach wie vor das Gesicht hinab. Er hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Er war am Ende seiner Kräfte, am Ende seines Hasses, am Ende seiner Reue, und er stand jetzt auf dem schwarzen Eis in der Mitte des Teichs und wartete darauf, getötet zu werden. Er dachte an die Tage im Himmel, er dachte an die Wiedervereinigung mit seiner Mutter, er dachte an den unvorstellbaren Schmerz des Sterbens, an den physischen Schmerz, den ein Körper aushalten konnte, bevor er aufgab, bis der unwiderrufliche Schlag gnädigerweise kam und damit die Dunkelheit.

Ralph blieb am Rande des Teiches stehen. Auch er blutete aus einem Schnitt am Kopf, seine Hände waren gebrochen, und der Schmerz schoss ihm bis in die Arme hoch. Auch er merkte, dass seine Wut verraucht war und dass er es, obwohl das Unverzeihliche immer noch unverzeihlich und der Schrecken immer noch schrecklich blieben, einfach nicht fertigbrachte. Er dachte an die Berichte in der Zeitung, an die Selbstmorde, die Morde und die Leichen, und er fand, dass die Lebenden schöner waren als die Toten und dass am Ende etwas gerettet werden musste, auch wenn das gleichbedeutend damit war, es auch ertragen zu müssen. Antonio würde gehen. Sie würden Antonio nie wiedersehen, und er würde mit seiner Schuld, seiner Scham und seinen Erinnerungen allein sterben, aber es würde keine Leiche geben, die man auf den Friedhof tragen müsste, heute nicht. In seinem Haus würde es kein totenbleiches Fleisch mehr geben, nie mehr. Er würde um seinen Verlust trauern, aber er würde seinen Sohn heimlich immer noch lieben und ihm Geld schicken, und wenn er starb, würde man nach dem Sohn schicken, und er würde am Grab des Vaters stehen und sich wieder an diesen Tag erinnern, als wäre der vor sehr langer Zeit jemand anderem widerfahren.

Dann hörten sie das Krachen. Eine weiße, gezackte Linie fuhr durch das schwarze Eis, und Antonio brach ein, tauchte ins eisige Wasser und unter das Eis. Unterm Eis kam er noch einmal hoch, bekam keine Luft, schlug mit dem Kopf an, und sein Blut vermischte sich mit dem schwarzen Wasser.

Antonio kämpfte, aber er fand den Ausweg nicht, er versank in Bewusstlosigkeit, versank in der friedlichen Kälte des schwarzen Wassers, und sein Körper war nur noch vage unter der vereisten Oberfläche zu sehen.

Ralph Truitt heulte vor Schmerz auf und versuchte, zu seinem Jungen zu gelangen, aber das Eis gab unter ihm nach, und er strampelte in dem eisigen Wasser herum. Er rannte zur Scheune, wo er eine Stange und ein Seil entdeckte, und raste zum Teich zurück, versuchte, ihn zu retten, versuchte, all die Jahre und Tage zu retten, begriff nicht oder wollte nicht begreifen, dass Antonio bereits tot und fort war. Unter dem Eis sah man Wolken von Blut, die seinen toten Körper umgaben, der mit ausgebreiteten Armen dahintrieb, als würde er fliegen, mit gesenktem Kopf, als würde er aus großer Höhe auf die kleine Erde unter sich blicken.

Die Stange und das Seil waren nutzlos, und während sein Sohn die ganze Nacht unterm Eis lag, war Ralph untröstlich. Er schlief allein. Er wollte nicht sprechen. Er aß nichts.

Catherine konnte nicht schlafen. Sie lief durch die Flure des riesigen Hauses, betrachtete die Bilder, strich mit der Hand über die Möbel, ging schließlich in Antonios Zimmer und packte seine Sachen in Koffer. Sie zog sein Bett ab, die Laken dünsteten noch den kräftigen Geruch ihres früheren Liebhabers aus, und sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Dann ging sie schließlich in das perfekte Kinderzimmer, legte sich auf das schmale Bett und schlief ein.

Am nächsten Morgen mussten sie Männer aus der Stadt kommen lassen, um Antonio aus dem Wasser zu ziehen, dessen makelloses Hemd immer noch erstaunlich weiß auf seiner Brust klebte. Er war groß, schmal und leicht wie ein kleiner Junge. Sein schwarzes Haar ergoss sich auf den Karren, als sie ihn wegbrachten, und im Morgenlicht und dem Wind fror es an seiner Kopfhaut fest.

Ralph hätte ihm verziehen. Er hätte seinen Sohn in die Arme genommen und gesagt, ist ja gut, ist ja gut jetzt, es ist jetzt vorbei. Mehr wird nicht mehr passieren, mehr kann nicht mehr passieren. Die Geschichte, diese alte Geschichte, ist zu Ende. Er hätte seinen Mund auf den seines Sohnes gepresst und geatmet und noch mal geatmet, bis sein warmer Atem dem Sohn die Lungen gefüllt, bis sein Sohn die Augen geöffnet, ihn angesehen und ihm vertraut hätte.

Aber es hatte keinen Sinn. Es war nutzlos. Es war bloß eine Geschichte. Es war bloß eine Geschichte von Menschen, von Ralph, Emilia, Antonio, Catherine und den Müttern und Vätern, die zu früh oder zu spät gestorben waren, von Menschen, die einander so sehr verletzt hatten, wie Menschen es überhaupt nur vermögen, die selbstsüchtig und unklug gewesen waren und sich im Gefängnis ihrer bitteren Erinnerungen, von denen sie wünschten, sie hätten sie nie gehabt, eingesperrt hatten.

Es war bloß eine Geschichte darüber, wie die eisige Kälte einem in die Knochen dringt und nie wieder rausgeht, darüber, wie die Erinnerungen sich einem ins Herz fressen und einen nie mehr loslassen, eine Geschichte über den Schmerz und die Bitterkeit über das, was einem widerfährt, wenn man klein ist und sich nicht wehren kann, aber dennoch das Böse erkennt, wenn es geschieht, über Geheimnisse über das Böse, die man niemandem anvertrauen kann, eine Geschichte über das Leben, das man im Geheimen führt, bei dem man den eigenen Schmerz und den der anderen erkennt, aber aus lauter Hilflosigkeit nur das tun kann, was man eben tut, und vom Ende, auf das das alles hinausläuft.

Es war eine Geschichte über einen Sohn, der fand, es sei sein einziges echtes und angestammtes Recht, seinen eigenen Vater zu töten. Es war die Geschichte des Vaters, der keine einzige Handlung seines Lebens mehr ungeschehen machen konnte, ganz gleich, was er im Herzen davon hielt. Es war eine Geschichte über Gift, über ein Gift, das einen dazu bringt, im Schlaf zu weinen, und das sich zuerst wie ein Vorgeschmack der Ekstase anfühlte. Es war eine Geschichte über Menschen, die das Leben nicht mehr liebten als den Tod, bis es zu spät dafür war, den Unterschied zu erkennen, Menschen, deren Güte vergessen und im Stich gelassen wurde, wie ein Spielzeug in einem staubigen Kinderzimmer, Menschen, die so vieles sahen, sich nur an eine Handvoll davon erinnerten und noch weniger davon lernten, Menschen, die sich selbst verletzten, ihr eigenes Leben ruinierten und dann damit fortfuhren, auch die Leben der anderen um sie herum zu ruinieren, Menschen, denen man nicht helfen konnte, die weder durch Liebe noch Güte, noch durch Glück oder Charme zu besänftigen waren, die die Güte vergaßen, die doch selbst das schlimmste und misslungenste Leben vor der Verzweiflung retten kann.

Es war bloß eine Geschichte über Verzweiflung.