4. KAPITEL

Alles war voller Blut. Es war im Stoff ihres Kleides gefroren, steif und schwarz. Es war auf seinem Kopf und auf seinem Gesicht und an seinen Kleidern und unter ihren kalten Fingernägeln. Sie blieb trotzdem immer noch ruhig und war entschlossen, ihn nicht sterben zu lassen. Und dann erblickte sie das Haus und ein Gesicht am Fenster.

Es gab einen Augenblick völliger Stille, in dem sie jede Einzelheit wahrnahm, das Gewicht Ralphs in ihren Armen, das Haus, das Gesicht am Fenster – angsterfüllt –, das Pferd, sein gebrochenes Bein, und jetzt erst begann sie zu begreifen, dass das knackende Geräusch auf dem Eis der Knochen gewesen war und nicht das Eis. Sie sah sich selbst, ihre verwüstete Frisur, ihre Hände, die kalt und rau waren, ihren leichten Rock, aus dessen Saum ihr Schmuck in den Schnee fiel. Sie sah, wie sie im Hof standen, der Schnee reichte bis hoch zu den eisernen Radnaben, die Pferde ließen erschöpft und schmerzerfüllt die Köpfe hängen, und sie sah das Haus. Das Haus.

Es wirkt wie ein sauberes weißes Hemd, dachte sie. Ein sauberes, weißes Hemd, das an der Rückseite einer Tür hängt.

Eine hübsche, mit Säulen versehene Vorderveranda, ein warmes rostbraunes Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge fiel, ein umgedrehter Stuhl, der, obwohl der Sommer längst vorüber war, immer noch draußen lag. Einzelheiten. Sie konnte nicht alles erkennen, konnte den Punkt nicht ausmachen, an dem die Wände des Satteldaches aufeinandertrafen. Aber es wirkte warm. Es sah nett aus.

Die Pferde blieben stehen, die braune Stute stampfte mit den Hufen auf, der schwarze Wallach konnte keinen Schritt mehr laufen, er hatte sein rechtes Vorderbein gehoben, und der Huf hing gefährlich herab. Das Licht, das von der Veranda fiel, beleuchtete den Schweiß auf den bebenden Flanken der Tiere und verwandelte den Atem, der aus ihren geweiteten Nüstern strömte, in helle Federbüschel.

Es war schmuck, das Haus, schlicht, ohne dabei streng zu wirken, und es war hell erleuchtet und überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es stand robust inmitten eines Rasens, eine Treppe führte zu einer breiten Veranda hoch. Sie hatte sich etwas Verfalleneres vorgestellt, etwas, das durch jahrelange Vernachlässigung schmutzig geworden war. Sie hatte sich ein Haus vorgestellt, das trostlos wirkte, einen ungeliebten Bau in einer öden Gegend. Dies war eine Überraschung, wie eine knisternde Verpackung, lauter weißes Papier mit blauen Schleifen.

Der Augenblick verging, und die Zeit setzte wieder ein, alles ganz plötzlich. Das Gesicht heulte auf, verschwand vom Fenster, und die Tür flog auf. Eine Frau stand sprachlos im Eingang.

Ralph Truitt blutete schlimm und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht an Catherine. Sein Atem ging flach, seine Augen waren geöffnet, starrten aber richtungslos und verschwommen ins Leere, und die Veranda, die glitzernde Tür und ihr Schutz schienen kilometerweit entfernt.

»Truitt?«, der graue Kopf schob sich vor, die Augen spähten in den wirbelnden Schnee hinaus, die Stimme drang an Catherines Ohren. »Sind Sie das, Mr. Truitt?«

»Hilfe! Hier sind wir!« Catherine schrie in den Wind, und plötzlich wurde sie hysterisch. »Bitte kommen Sie! Wir brauchen Hilfe.«

Ein Mann und eine Frau kamen aus dem Haus gerannt, und ihre Haare und Kleider wurden vom Wind gepackt und wild durcheinandergewirbelt. Der Mann lief direkt zu dem taumelnden, stöhnenden Wallach und begann zu untersuchen, wie sehr das Tier verletzt war, wobei er ruhig auf den Wallach einsprach und die Hand an die Flanke des Pferdes legte, während er den Kopf wegen des armen Beins schüttelte. Catherine konnte sehen, wie sich der gebrochene Knochen durch das Fleisch gebohrt hatte, konnte an der Art, wie sein Brustkorb vor Schmerzen schimmerte, die Niederlage des Tieres erkennen.

Die Frau rannte direkt zu Truitt. »Du lieber Gott!«, schrie sie. »Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?« Mit ihren spröden, hellen Augen sah sie Catherine an und hielt vorwurfsvoll ihren Blicken stand.

»Die Pferde sind durchgegangen. Ein Hirsch … sie sind durchgegangen und haben ihn aus der Kutsche geschleudert. Ich glaube, er ist mit dem Kopf gegen das Rad gestoßen. Es war nicht meine Schuld«, fügte sie überflüssigerweise hinzu. »Es war ein Hirsch. Es ging alles so schnell.«

»Nach drinnen! Larsen!« Der Kopf des alten Mannes zuckte vom Pferd hoch, das langsam zu Boden sank. »Truitt ist schlimm verletzt. Bringt ihn ins Haus.«

Also trugen sie zu dritt Truitt ins Haus, und jeder packte ihn irgendwo. Er konnte sich jetzt nicht mehr halten, ganz verrückt vor Schmerzen und dem Blutverlust, und sie brauchten zu dritt all ihre Kräfte, um ihn die Verandatreppe hoch und ins Haus zu bugsieren. Sie legten ihn auf ein Samtsofa und schoben ihm ein Kissen unter den Kopf.

Die Frau sagte: »Er wird verbluten.«

»Er braucht einen Arzt. Gewiss …«

Mrs. Larsen, das musste sie sein, wandte sich an Catherine. »Bei diesem Wetter? Nicht mal für Ralph Truitt. In beide Richtungen sind es viele Kilometer, und in jedem Fall ist es zu spät, bis der Arzt kommt. Falls man ihn überhaupt findet. Besoffen. Falls er überhaupt kommt. Besoffen und zu nichts zu gebrauchen.«

»Holen Sie mir meinen Koffer, bitte«, sagte Catherine. Sie war vollkommen ruhig. »Aus der Kutsche. Ein grauer Koffer. Und heißes Wasser. Und Handtücher und Jod, wenn Sie etwas dahaben.«

Das alte Paar starrte sie unsicher an. Truitt lag auf dem Sofa, seine Augen blickten starr geradeaus.

»Hol ihr den Koffer«, sagte die alte Dame. »Und schnapp dir deine Waffe. Für den Wallach.«

Plötzlich bewegte sich Larsen und verließ das Zimmer. Die alte Frau, seine Frau, wie Catherine annahm, bewegte sich ebenfalls. Truitt wurde plötzlich wach, die Augen waren vor Schmerz gerötet, und in der plötzlichen Stille starrten Ralph und Catherine sich an.

»Sie werden nicht sterben«, sagte sie.

»Das hoffe ich auch.«

Als Larsen in die Nacht hinaustrat, wehte ein heftiger Windstoß in die Eingangshalle. Catherine und Truitt warteten. Sie meinte, sie könnte vielleicht seine Hand nehmen, tat es dann aber doch nicht.

Sie hörten den Schuss aus dem Hof. Catherine zuckte zusammen und rannte ans Fenster, zog die schweren Samtvorhänge zur Seite, um zu sehen, dass das riesige Pferd, dessen Kopf nur noch ein Loch voller Blut war, mit einem Schuss niedergestreckt worden war.

Nach langer Zeit kam Larsen aus dem Schnee zurück, trug Catherines Koffer in der einen Hand, an der anderen baumelte die Pistole. Er stellte ihr den Koffer vor die Füße. Hasserfüllt sah er sie an, als wäre das alles ihre Schuld und außerdem unverzeihlich.

Sie ließ die verrosteten billigen Schlösser aufschnappen und öffnete den Koffer und wühlte auf der Suche nach ihrem Nähzeug zwischen ihren schwarzen Kleidern und der schlichten Unterwäsche herum. Als sie sich umdrehte, trat sie auf den Rocksaum und riss ihn noch weiter auf … verdammter Mist, dachte sie, der Schmuck. Sie kniete sich schnell hin und tastete nach dem Saum. Nichts. Mist, verdammter.

Mrs. Larsen kehrte zurück, in den Händen eine Schüssel mit dampfendem Wasser, die Arme voller Handtücher. Sie starrte Catherine an, beäugte ihren Saum.

Catherine erhob sich. »Das ist … das ist nichts. Es ist aufgerissen. Ich habe etwas verloren. Bei dem Unfall.«

»Na ja, dann ist es weg. Weg bis zum Frühling.«

»Es ist nicht wichtig.« Verloren, ja, dachte Catherine. Hab meinen Schmuck verloren und außerdem jede Chance, hier wieder rauszukommen.

Catherine starrte Truitt an. »Das wird wehtun.«

»Es tut jetzt schon weh.« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande.

»Ist etwas zu trinken da?«

»Ich rühre keinen Alkohol an.«

»Es wird noch mehr wehtun.«

»Ich weiß.«

»Können Sie sich aufrichten? Ein bisschen?«

Er stöhnte, als sie ihn auf dem Sofa so weit aufrichteten, dass Catherine sich setzen und seinen Kopf in ihren Schoß betten konnte. Das Blut tropfte stetig auf ihren Rock. Sie konnte beinahe sofort spüren, wie ihre Beine feucht wurden.

Während Mrs. Larsen die Schüssel hielt, tunkte Catherine ein Handtuch in das dampfende Wasser und begann vorsichtig, die Wunde zu reinigen. Sie wusste, dass es schmerzte, aber unter ihrer Hand entspannten sich seine Gesichtszüge und sein Atem verlangsamte sich. Er schloss nicht die Augen und gab keinen Laut von sich, obwohl ihm Tränen die Wangen herunterliefen.

»Ich weine«, sagte er. »Wie ein Baby.«

»Das würde ich nicht meinen. Ma’am? Das Jod.« Sie ergriff das Fläschchen, das Mrs. Larsen aus der Schürzentasche holte, kippte es so weit, bis ein schmales Rinnsal entstand, das sie auf die Wunde tropfen ließ, die von der Augenbraue bis zum Haaransatz verlief. Sie tupfte sie ab, und Truitt schloss die Augen, zuckte dann zusammen, als der stechende Schmerz den Knochen erreichte, den Catherine sehen konnte, während der scharfe Geruch jedem von ihnen vermittelte, wie dringend das war, was sie da gerade tat.

Das arme Pferd, dachte sie, zieht uns die ganze Strecke bis hierher, und jetzt liegt es im Schnee. Morgen, vermutete sie, wenn das hier vorbei war, würde Larsen dann das überlebende Pferd nehmen, um das tote außer Sichtweite zu schleifen.

»Mein Nähzeug, und ich brauche Sie, Mrs …«

»Larsen, Miss.«

»Mrs. Larsen. Ich brauche Ihre Hilfe, bitte drücken Sie ganz vorsichtig die Ränder zusammen, so wie hier.«

Catherine zeigte es ihr, so wie man Teig an den Schüsselrand drückte, wobei ihre Daumen glätteten, die Haut glätteten, bis sich deren Ränder beinahe berührten. Der Schnitt war nicht sauber. Es würde eine Narbe geben, da führte kein Weg dran vorbei.

Catherine wählte den festesten Zwirn, tauchte die Nadel in das Jod und blies dann vorsichtig auf die Nadel und die Wunde, die jetzt stärker blutete.

Sie fädelte das Garn ein. Sie sah, wie sich Larsen abwandte und sich mit etwas anderem beschäftigte, während sie den ersten Stich machte.

»Ich fahr mal die Kutsche weg. Es sei denn …«

»Nein. Wir kommen zurecht.« Die Nadel stieß ins Fleisch und hindurch, und Catherines Hand blieb ungerührt und ruhig. Die Tür öffnete und schloss sich wieder, während Larsen in die Nacht hinausging.

Langsam begann sich die Wunde zu schließen und der Blutfluss sich zu verringern. »Sind Sie Krankenschwester, Miss?«

»Mein Vater war Arzt. Ich habe ihm zugesehen.«

Das war eine Lüge, auch wenn sie das so leichthin sagte. Ihr Vater war ein Säufer und ein Lügner. Er hatte überhaupt keinen Beruf gehabt. Catherine wusste nicht mehr als die schlichte Tatsache, dass sie nicht den ganzen Weg hierhergekommen war, um dabei zuzusehen, wie Ralph Truitt in ihren Armen starb. Wenn man eine Wunde zunähen musste, dachte sie, dann gab es nicht allzu viele Arten, das zu tun.

»Dann haben Sie noch nie …«

»Nein, nie. Aber ich habe ihm oft dabei zugesehen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

An einem bestimmten Punkt merkte sie, wie Truitt ihr entglitt und das Bewusstsein verlor. Seine blassen Augen, starr und weiß vor Schmerz, schlossen sich schließlich, und zum ersten Mal, als sie die Blicke von der Wunde hob, betrachtete sie seine Haut, so nah, als würde sie sie durch ein Vergrößerungsglas mustern. Sein Bartwuchs sah aus wie schwarze Weizenstoppeln auf einem trockenen Feld. Seine Haut war blass, und auch wenn er aus der Entfernung jünger aussah, als er – wie sie wusste – in Wirklichkeit war, konnte sie aus der Nähe die unzähligen kleinen Falten in seiner Haut sehen. Sie konnte die Zukunft ihres eigenen Gesichts darin sehen, und sie konnte noch etwas anderes erkennen, als seine Muskeln erschlafften und seine Haut von den starken großen Knochen sackte. Sie konnte sehen, was für eine Anstrengung es ihn kostete, sein Gesicht so gefasst und hoffnungsvoll erscheinen zu lassen, und sie konnte die Trauer sehen, die unter dieser stählernen Maske lag, und wie leblos er war.

Ihre kleinen Finger arbeiteten geschickt und folgten Mrs. Larsens Händen an der Wunde entlang, und schließlich war sie fertig. Gar nicht schlecht.

Er öffnete die Augen.

»Fertig.« Sie lächelte ihn an, ihre Hände lagen noch auf seinem Gesicht und sein Kopf in ihrem Schoß.

»Danke.«

»Wir müssen Sie ins Bett bringen. Könnten Sie … es wäre besser, wenn Sie noch eine Weile wach blieben. Ihr Kopf ist vielleicht verletzt. So lange, wie Sie können.« Sie streckte schüchtern die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren, aber da erschien Larsen, stapfte herbei und unterbrach sie.

»Jetzt übernehmen wir ihn, Miss. Ich bringe ihn nach oben. Gehe mit ihm. Wir brauchen Ihre Hilfe dabei nicht, und Mrs. hält das Essen für Sie bereit. Ich kümmere mich um ihn.«

Larsen fasste ihn unter und zog ihn auf die Füße. Ralph schwankte, hielt sich aber aufrecht, und Catherine blieb sitzen, während sie zusah, wie die beiden nach oben stolperten. Mrs. Larsen folgte ihnen, wobei sie nutzlos herumfuchtelte.

Dann waren sie fort, und zum ersten Mal musterte Catherine das Zimmer, in dem sie saß, und war überrascht. Es war hübsch und überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte: sehr schlicht, sehr sauber, ja makellos. Es war ein gewöhnlicher quadratischer Raum, und doch fanden sich hier und da Möbelstücke, die seltsam unpassend wirkten, als stammten sie aus einem anderen Haus an einem anderen Ort. Leuchtende Farben. Teures Material. Elegant und kunstvoll gebaute Möbel, nur ein paar Stücke, die neben den eher banalen Bauernmöbeln standen, dem Porzellanschrank, der schlichten Standuhr aus Kiefer.

Das Sofa, auf dem sie saß, war eines dieser versprengten Möbelstücke, hatte vergoldete Lehnen und geschnitzte Schwäne und einen Damastbezug in den Farben des Sonnenuntergangs, auf dem jetzt Truitts Blutflecken zu sehen waren. Aus ihrer Sicht wirkte es wie eines dieser Zimmer, in denen niemand wusste, wo er sich hinsetzen sollte, ein Raum, der immer perfekt aufgeräumt war, obwohl er nie benutzt wurde.

Einen Sessel gab es, einfache, robuste Eiche, der ganz gewiss der Platz war, an dem Truitt an den Abenden saß und eine Zigarre rauchte. Ein Aschenbecher und ein Humidor standen auf dem niedrigen schlichten Tisch daneben, auf dem außerdem landwirtschaftliche Zeitschriften, Almanache und Hauptbücher lagen. Daneben brannte eine Lampe mit einem bunten gläsernen Lampenschirm in lauter leuchtenden Farben, in Rot und Lila, auf dem Trauben, herbstliche Blätter und kleine Vögel, die aufflatterten, zu sehen waren. Es war die Art von Lampe, die sie nur aus Hotels kannte. Sie hatte sich nie vorstellen können, dass ein normaler Mensch solch eine Lampe besitzen könnte, doch Ralph Truitt besaß eine.

Er muss sehr reich sein, dachte sie. Der Gedanke wärmte sie und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Er wird nicht sterben. Jetzt fängt es an. Ihr Herz raste, als ob sie gerade drauf und dran wäre, ein Paar Ziegenleder-Handschuhe aus einem Laden zu stehlen.

Sie konnte das schwere Poltern der drei hören, die oben hin und her liefen, einen Stiefel, der zu Boden fiel, dann einen weiteren. Aha, sie ziehen ihn aus, wurde ihr jetzt klar. Sie hatte gedacht, man hätte sie ausgeschlossen, weil sie nicht wollten, dass sie ihn in seiner Schwäche sah, aber in Wirklichkeit wollten sie nicht, dass sie seinen Körper erblickte.

Die Uhr tickte gleichmäßig. Der Wind heulte, ohne nachzulassen. Catherine saß allein da und fragte sich, ob irgendjemand auf dieser Welt wusste, wo sie war, und sich vorstellen konnte, wie sie dasaß, die Hände still in ihrem Schoß, die Finger blutverschmiert, mit ihrem zerrissenen Saum, dem verlorenen Schmuck.

Sie wollte eine Zigarette. Eine Zigarette in ihrer kleinen silbernen Spitze. Und ein Glas Whiskey, ein Glas, um das Frösteln zu verscheuchen. Aber das war in einem anderen Leben an einem anderen Ort, und hier, in Ralph Truitts Haus, saß Catherine einfach nur da, die Hände in ihrem Schoß.

Hier waren sie nun, vier Menschen, und jeder bewegte sich getrennt durch die Zimmer im selben Haus. Sie hatte seinen Kopf in ihrem Schoß gehalten, und ihre Kleider waren feucht von seinem Blut, und doch war sie allein. Allein, wie sie es schon immer gewesen war.

Manchmal saß sie nur da und ließ ihren Kopf ganz leer werden und ihre Blicke ins Nichts gehen, so dass sie das langsame Zucken der Partikel in ihren Pupillen sah. Als Kind hatte sie das erstaunt. Jetzt sah sie darin ein Spiegelbild ihrer eigenen Bewegungen, wie sie träge durch die Welt trieb, gelegentlich auf einen anderen Körper stieß, ohne dass man sich wirklich kennen lernte, und dann wieder weitertrieb, frei und allein.

Sie kannte keine andere Daseinsform. Ihre Pläne, das sah sie jetzt, waren träge Phantasien, oberflächlich ausgedacht und nachlässig ausgeführt und somit wieder und wieder zum Scheitern verurteilt. Sie stand auf und wanderte durch die Zimmer in Truitts Haus. Es gab nicht viele, und sie sahen alle gleich aus, genauso makellos und mit der gleichen merkwürdigen Mischung aus Rustikalem und Erlesenem möbliert. Das Esszimmer war winzig, aber der Tisch war aufwendig für ein Abendessen zu zweit gedeckt. Sie nahm eine verzierte Gabel in die Hand. Sie war fast so lang wie ihr Unterarm und erstaunlich schwer. Sie war glänzend poliert, so dass sich das Licht darin fing, als sie sie umdrehte, um den Herstellernamen zu lesen: Tiffany & Co., New York City. Sie hatte das Gefühl, in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.

»Larsen ist bei ihm.« Catherine legte die Gabel wieder hin, als Mrs. Larsen ins Zimmer kam. »Ich habe Essen gemacht. Es ist vielleicht noch nicht ganz kalt, und Sie können jetzt genauso gut auch essen.« Sie schob die Gabel an ihren Platz, die Catherine wieder abgelegt hatte, so dass sie mit dem übrigen, gleichermaßen massiven Besteck perfekt abgestimmt dalag.

»Ich habe sie mir bloß …«

»Angeschaut. Ich hab’s gesehen. Es dauert nur einen kleinen Augenblick. Sie müssen Hunger haben.«

Catherine setzte sich an den Tisch. Sie hatte das Gefühl, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, einfach weil der Weg zurück so weit und sie allein war. Sie versuchte, ihr Haar festzustecken, und ließ es dann bleiben.

Die Suppe war klar und heiß und das Lamm in einer Soße gekocht, die gleichzeitig köstlich und exotisch schmeckte, und alles war vollendet und auf eine Weise vornehm, die man in jedem Restaurant in jeder Stadt, in der sie je gewesen war, bewundert hätte, und Mrs. Larsen servierte alles mit einer Schlichtheit und Gewandtheit, die sie überraschte und erfreute. Sie hatte gar nicht gedacht, dass sie hungrig war, aber sie aß alles auf, einschließlich des Nachtischs aus leichten Baisers, die in einem glänzenden Pudding schwammen.

Die wunderschönen Teller kamen und gingen, das Besteck wurde benutzt, bis keins mehr dalag, und schließlich stand Mrs. Larsen in der Küchentür, und sie lauschten beide auf das Poltern von den Stiefeln der beiden Männer, während Larsen und Truitt hin und her liefen, hin und her im Schlafzimmer im ersten Stock, erst über einen Teppich und dann über den Fußboden und dann wieder über den Teppich.

»Das war ein köstliches Abendessen.«

»Nun ja, ich hatte es mir ein wenig feierlicher erhofft, aber …«

Die Schritte wurden fortgesetzt.

»Aber es wird andere Abende geben, denke ich. Miss?«

»Ja?«

»Ich hoffe, Sie werden hier glücklich. Das hoffe ich wirklich. Es war bislang nicht gerade sehr einladend, aber ich, also wir heißen Sie sehr herzlich willkommen.«

Catherine wurde rot vor Verlegenheit. »Sie sind eine wunderbare Köchin.«

»Manche Leute haben diese Gabe, andere jene.« Sie machte eine Geste, als wollte sie nähen. »Also ich konnte nie was mit einer Nadel anfangen. Aber Sie brauchen mich bloß in eine Küche zu stellen, und ich weiß gleich, wo ich bin. Selbst wenn es eine Weile her ist – und es ist eine ganze Weile her –, weiß ich immer noch, was ich zu tun habe.«

Catherine stand auf, und sie blickten sich verlegen an. Plötzlich war Catherine erschöpft. Sie sah zur Decke hoch, zu den polternden Stiefeln.

»Kommen sie zurecht?«

»Larsen wird auf ihn aufpassen. Sie kennen sich, seit sie kleine Jungen waren. Truitt wird schon durchkommen.«

Mrs. Larsen begann abzuräumen.

»Ich werde Ihnen helfen. Ich bin es gewohnt, für mich selbst zu sorgen.«

»Sie sollten sich ausruhen. Gehen Sie ruhig ins Bett, wenn Sie möchten.«

»Wo kann ich denn …?«

»Schlafen? Ich zeig es Ihnen.« Mrs. Larsen wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab, leckte sich dann die Finger, um die tropfenden Kerzen auszumachen, wobei das Funkeln auf dem Silber erlosch, und führte Catherine aus dem Esszimmer, griff nach ihrem Koffer und ging die Treppe hoch. »Es ist ein schönes Zimmer. Sie können den Fluss sehen, und Sie können zu dem kleinen Haus hinüberschauen, in dem Larsen und ich wohnen.«

Sie öffnete die Tür zu einem anmutigen Schlafzimmer, auf dem schlichten Bett lag gute Leinenbettwäsche, und der Baldachin des feinen Himmelbetts hatte eine Spitzenbordüre.

Sie legte den Koffer aufs Bett, ging zum Toilettentisch und goss Wasser aus einem Krug in eine Porzellanschüssel. Sie lief ins Badezimmer und kam mit einem wunderschönen Kristallglas voll kalten Wassers zurück, das sie vorsichtig neben dem Bett abstellte.

»Die Toilette ist den Flur entlang. Drinnen. Die erste hier im Landkreis. Ich hab versucht, alles nett zu machen. Ich weiß, dass Sie aus der Stadt kommen.«

»Nichts Großartiges.«

»Sie wären überrascht, wie viele Leute absolut keine Ahnung haben, was sie mit all den Gabeln anfangen sollen. Man kann an der Art, wie Leute essen, erkennen, wo sie überall gewesen sind. Sie sind schon an einigen vornehmen Orten gewesen.«

Mrs. Larsen ließ sie allein. Catherine packte ihre Sachen aus, hängte ihre lächerlichen, hässlichen Kleider in einen kleinen Schrank, räumte ihre Unterwäsche in eine Kommode. Das war jetzt ihr Zuhause, dachte sie. Dies sind meine Sachen, und ich räume sie in meinem neuen Zuhause ein. Der letzte Gegenstand in ihrem Koffer war ein kleines, blaues Arzneifläschchen, und lange saß sie auf einem Stuhl am Fenster und musterte es, bevor sie es wieder in ein kleines Seidenfach im Koffer stopfte und das ganze Ding unters Bett schob.

Sie öffnete die schweren Vorhänge und spürte sofort die lastende Kälte der Luft. So müde, wie sie war, war das jetzt ein angenehmes Gefühl, erfrischend. Das spärliche Licht aus dem Haus beleuchtete das anhaltende Wirbeln des Schnees draußen. Sie saß auf einem kleinen blauen Samtsessel und sah dem Sturm zu und fiel in einen leichten Schlaf, aus dem sie immer wieder erwachte, begleitet vom Poltern der Stiefel der Männer in dem Zimmer nebenan. Ihr eigenes Leben kam ihr vor wie das einer Fremden.

Schließlich hörten die Schritte auf. Sie wartete, bis es vollkommen still im Hause war, und dann stand sie auf, stieg aus ihrem ruinierten Rock und knöpfte die dreizehn Knöpfe ihres grässlichen Kleides auf. Sie konnte den strengen Eisengeruch von Truitts Blut an ihren Kleidern und auf ihrer Haut riechen, und sie benutzte ein Leinentuch und das warme Wasser in der Waschschüssel auf dem Nachttisch, um sich, so gut sie konnte, zu waschen.

Sie stieg in das schlichte Nachthemd, das sie sich erst vor zwei Tagen genäht hatte, und stand da und sah, wie sie es so oft tat, auf ihr Gesicht in dem ovalen Spiegel.

Dies war keine Illusion, hier, in diesem Haus, in diesem Sturm. Dies war kein Spiel. Dies war real. Ihr Herz fühlte plötzlich, dass es brach, und Tränen traten ihr in die Augen.

Es hätte alles anders kommen können, dachte sie. Sie hätte vielleicht die Frau sein können, die ein Kind auf ihrem Knie schaukelte oder Essen zu einem Nachbarn trug, dessen Haus von Krankheit oder einem Brand oder dem Tod heimgesucht worden war. Sie hätte vielleicht Kleider für ihre Töchter nähen und ihnen an einem Abend wie diesem vorlesen können. Von einer Welt der Phantasie und der Wunder an einem Abend, an dem man die eigene Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Sie konnte sich die Umstände, unter denen all dies vielleicht geschehen könnte, nicht so recht vorstellen. Aber wie eine Schauspielerin, die dabei zusehen muss, dass eine Rolle, die sie gespielt haben könnte, jemandem mit weniger Talent zufällt, hatte Catherine irgendwie das Gefühl, ihr sei eine Rolle verloren gegangen, die würdevoller und der Landschaft ihres Herzens gemäßer gewesen wäre.

Ihr wahres Herz war allerdings sehr tief in ihr vergraben, unter der breiten Decke ihrer Lügen und Täuschungen und Launen regelrecht verschüttet. Wie ihr Schmuck, der jetzt unter dem Schnee lag, lag es verborgen da, bis es irgendwann vielleicht auftaute. Sie konnte natürlich gar nicht wissen, ob dieses Herz, von dem sie sich vorstellte, dass sie es besäße, tatsächlich existierte. Vielleicht war es wie der abgetrennte Arm des Soldaten, der noch jahrelang schmerzt, oder wie ein einmal gebrochener Knochen, der wehtut, wenn ein Sturm naht. Vielleicht hatte sie dieses Herz, das sie sich nun vorstellte, überhaupt nie besessen. Aber wie machten sie es denn, diese anderen Frauen, die sie auf der Straße sah und die mit ihren bezaubernden oder schlecht gelaunten Kindern in Restaurants und Bahnsteigen und überall um sie herum lachten? Und warum war sie von diesem ganzen sentimentalen Panorama ausgeschlossen, das sich zeitlebens Tag für Tag um sie herum abgespielt hatte?

Einmal in ihrem Leben wollte sie mitten auf der Bühne sein. Deshalb war der Einsatz in diesem Spiel mit Ralph Truitt höher, als sie zunächst gedacht hatte. Denn das, was sie war, als sie vorm Spiegel in dem einsamen Farmhaus stand, war in Wirklichkeit alles, was sie war.

Sie war eine einsame Frau, die auf eine Heiratsannonce in einer Tageszeitung geantwortet hatte, eine Frau, die mit Hilfe des Geldes eines anderen Menschen kilometerweit angereist war. Sie war weder lieb noch sentimental, weder einfach noch ehrlich. Sie war verzweifelt und hoffnungsvoll zugleich. Sie war wie all diese Frauen, deren alberne Träume dazu führten, dass sie und ihre Freundinnen vor hoffnungslosem Spott heulten, nur dass sie jetzt ins Gesicht einer solchen Frau blickte und es überhaupt nicht komisch fand.

Sie drehte das Deckenlicht aus, so dass das Zimmer im Licht einer einzigen Kerze, die auf dem Nachttisch stand, flackerte. Sie zog die schweren Vorhänge gegen den Sturm zu und schlüpfte in das bequeme, damenhafte Bett.

Als sie sich vorbeugte, um die Kerze auszublasen, erklang ein lautes Klopfen. In der pechschwarzen Dunkelheit lief sie schnell über den kalten Fußboden und öffnete die Tür und erblickte das blasse, abgespannte Gesicht von Mrs. Larsen.

»Er ist sehr, sehr heiß«, sagte sie.