KAPITEL 7

Benjamin

Ich verlasse den OP, ziehe mit einem schmatzenden Geräusch meine Handschuhe aus und werfe sie zusammen mit meiner Haube in den Krankenhausmülleimer. Ich wasche mir schnell die Hände und drehe den Kopf nach links und rechts, um die Knochen in meiner Halswirbelsäule zu lockern. Für gewöhnlich würde mich eine zwölfstündige Operation zur Entfernung eines akustischen Neuroms erschöpfen, aber obwohl ich körperlich eine leichte Müdigkeit verspüre, fühle ich mich seltsam frisch und verjüngt.

Das hat nichts mit der Operation zu tun, die ich soeben erfolgreich abgeschlossen habe, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass ich Elena in etwa drei Stunden im Wicked Horse treffe.

Fünf Tage sind vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, und mein Verlangen nach ihr ist mit jedem Tag exponentiell gestiegen. Als ich ihr meinen Vorschlag der dreißigtägigen Mitgliedschaft und Exklusivität zwischen uns unterbreitet habe, dachte ich, ich könnte sie jeden Abend haben. Diese Woche wurde wegen unserer Termine zu einem Riesendurcheinander. Wir haben beide lange Arbeitstage, die sich bis in den frühen Abend erstrecken. An einem Abend hatte Elena eine Familienfeier, bei der sie anwesend sein musste. Zwei weitere Abende musste ich Brandon beim Bereitschaftsdienst vertreten, weil er krank war. An einem anderen Abend hatte Elena eine Reifenpanne und es war einfach zu weit, um mit dem Ersatzreifen von Henderson nach Las Vegas zu fahren.

Ich bin im Moment erschöpft und weiß, sie würde es mir nicht übel nehmen, wenn ich absagen würde. Aber mein Verlangen nach ihr ist beinahe schon unerträglich schmerzhaft geworden und es ist mir egal, wenn ich in den Club kriechen muss … ich muss sie heute Abend haben, um die Tage, die wir verpasst haben, wieder auszugleichen – mehr als einmal, da bin ich mir sicher.

»Tolle Arbeit da drinnen«, sagt Melissa Corbin, als sie den OP verlässt. Sie war bei meiner heutigen Operation die zuständige Anästhesistin.

Ich hebe zur Bestätigung das Kinn und lächele ihr kurz zu. Bei diesem Anblick zieht sie die Augenbrauen hoch. Im vergangenen Jahr habe ich nicht sehr oft gelächelt und es stört mich, dass es sie schockiert.

Ich wende mich nach links, werfe die benutzten Papierhandtücher in den Müll, verlasse den Waschraum und greife mir meinen Gehstock, den ich neben der Tür gelassen habe, da ich ihn im OP nicht brauche. Manchmal operiere ich im Stehen, wieder andere Male sitze ich auf einem Stuhl, aber ich habe immer die Möglichkeit, mich an irgendetwas anzulehnen.

Ich habe den Waschraum kaum verlassen, als plötzlich mein Partner Brandon vor mir auftaucht. Er sieht grimmig aus. »Wir müssen reden.«

»Worüber?«, frage ich abwehrend, denn seien wir doch mal ehrlich … immer wenn Brandon in letzter Zeit versucht hat, mit mir zu sprechen, war der Grund, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe.

»Die Familie von Peter Harlan hat dich und die Arztpraxis verklagt, zu der auch ich gehöre.«

»Scheiße«, murmele ich und kratze mich besorgt am Bart.

»Gehen wir in mein Büro«, schlägt Brandon vor und mir bleibt keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Behandlungsfehler sind nichts, über das wir im Flur sprechen sollten.

Wie gehen durch das Krankenhaus und durchschreiten einen unterirdischen Tunnel, der in ein benachbartes Bürogebäude führt. Darin sind zahlreiche Arztpraxen untergebracht, wir aber begeben uns in den dritten Stock, wo sich unsere Neurochirurgie-Praxis befindet. Den gesamten Weg, der etwa fünf Minuten dauert, legen wir schweigend zurück. Ich nutze die Zeit nicht, um mir zu überlegen, wie ich mich verteidigen werde, sondern denke vielmehr an Elena und wie ich diese ganze Sache vergessen werde, wenn ich mich heute Abend zu späterer Stunde erst in ihr befinde.

Bilder von ihr in diesem Geschirr erscheinen vor meinem inneren Auge. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich mich an ihren Geschmack erinnere. Meine Lenden ziehen sich zusammen bei dem Gedanken an ihre Weichheit an mir, und als wir Brandos Büro erreichen, empfinde ich ein beinahe vollkommenes Gefühl der Freude darüber, sie heute Abend zu sehen.

Er deutet auf die Gästestühle und ich lasse mich auf einem nieder, dann lege ich meinen Stock auf den Oberschenkeln ab. Brandon setzt sich nicht an seinen Schreibtisch. Er lehnt sich lediglich mit verschränkten Armen dagegen.

»Mir sind während dieser Operation keinerlei Fehler unterlaufen«, sage ich beharrlich, weil er offensichtlich will, dass ich meine Vorgehensweise rechtfertige. »Du hast die Akten gesehen. Die Testergebnisse. Das Gehirn dieses Mannes konnte nicht mehr gerettet werden und ich werde nicht für etwas bezahlen, an dem ich keine Schuld trage.«

Brandon beugt sich leicht nach vorn und bringt sein Gesicht ein klein wenig näher an meins. »Es ist deine Schuld, Benjamin. Du hast diese Familie schlecht behandelt und es hat sie verärgert. Aus diesem Grund haben sie geklagt. Es ist deine Schuld, dass wir dieses Problem haben, ganz egal, wie die Operation verlaufen ist.«

Ich bin sauer, dass er sie verteidigt. Er steht nicht hinter mir, wie er es als mein Partner und bester Freund tun sollte, was mich nur noch wütender macht.

Ich erhebe mich von meinem Stuhl und stelle den Stock auf den Boden, um mich dagegen zu lehnen. »Nein, sie haben uns verklagt, weil sie sich schuldig fühlen, dass sie diesen besoffenen Hurensohn nicht kontrollieren konnten. Sie wussten, was er war. Sie haben nur zugesehen, während er wieder und wieder wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt wurde. Sie haben es ihm ermöglicht, sich so zu verhalten. Seine Familie trägt genauso viel Schuld wie irgendjemand anderes.«

Die Wut verschwindet aus Brandons Gesicht und er seufzt laut und resigniert auf. »Das kannst du nicht wissen«, murmelt er.

»Ach nein? Du solltest wissen, wie viel Wahrheit darin stecken kann.«

Brandon schüttelt den Kopf. »Nicht alle sind wie Marcus Pettigrew. Du musst lernen, das außen vor zu lassen. Hör auf, alle zu verurteilen –«

»Oder was?«, frage ich herausfordernd.

Brandon richtet sich auf. Er ist genauso groß wie ich und wir blicken uns nun direkt in die Augen. »Oder wir können nicht mehr gemeinsam praktizieren. Du bringst meine Familie und mich in Gefahr. Und das kann ich einfach nicht zulassen.«

Seine Worte treffen mich hart. Mitten in die Brust, die sich vor Schuldbewusstsein zusammenzieht. Es ist genau das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich erfuhr, dass April und Cassidy bei dem Autounfall ums Leben gekommen waren. Ich habe solch ein unbändiges Schuldgefühl empfunden, weil ich überlebt hatte und sie nicht. Und hier bin ich nun und setze alles auf Spiel, was Brandon wichtig ist.

Und in gewisser Weise hat er recht. Ich neige dazu, alles anhand meiner Erfahrungen zu beurteilen, seit dieser betrunkene Fahrer Marcus Pettigrew die Mittellinie überquert und frontal mit unserem Wagen zusammengestoßen ist.

Und mir damit innerhalb eines Augenblicks alles nahm, was gut und schön und wichtig für mich gewesen ist.

Jetzt ist jeder Betrunkene genau wie er. Jeder Mensch mit Fehlern verdient mein Talent nicht. Ich besitze keine Milde, ich verurteile scharf.

Jetzt jedoch bricht alles auf mich ein.

»Es tut mir leid«, sage ich leise … aufrichtig. »Du verdienst nichts hiervon.«

Brandon blinzelt überrascht und ihm fällt die Kinnlade herunter. »Du entschuldigst dich nie für irgendetwas. Zumindest nicht seit dem Unfall.«

Das stimmt. Seit dem Unfall habe ich mich von meiner Familie und meinen Freunden zurückgezogen und bin zu einem Arschloch geworden. Ich zucke leicht mit den Schultern. »Na ja, es tut mir wirklich leid, dass ich dir Probleme bereite. Ich werde das mit der Ethikkommission klären. Du hast mein Wort. Und du weißt, dass an meiner Arbeit an diesem Mann nichts zu beanstanden war und es nichts gab, was ich hätte tun können, um ihn zu retten. Du weißt das, Brandon. Aber ich verspreche dir, dass ich es wiedergutmachen werde. Ich werde mich bei der Familie sogar für mein Verhalten entschuldigen. Diese Klage wird keinerlei Auswirkungen haben.«

Mein Freund – vielleicht mein ehemals bester Freund, da ich ihn in letzter Zeit nicht unbedingt gut behandelt habe – zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. »Wer bist du und was hast du mit Benjamin gemacht?«

Ich lächele dünn. Ich weiß, dass er versucht, mir einige positive Gefühlsregungen zu entlocken, aber ein Teil meines Schmerzes ist zu groß, um vollständig zu mir durchzudringen. Ich kann ihm lediglich sagen: »Du weißt, dass ich nichts tue, um absichtlich irgendjemandem zu schaden.«

Brandon seufzt und nickt. »Ich weiß. Das bedeutet aber nicht, dass du den Menschen nicht trotzdem wehgetan hast.«

Dem kann ich nichts entgegenhalten. Ich habe es mir mit Brandon ziemlich verscherzt – mit meinen Eltern und meinem Bruder ebenfalls. Sie sind die Menschen auf der Welt, die mir am nächsten stehen. In meinen vollkommen durchgeknallten Gedanken macht es Sinn, sie auf Abstand zu halten, weil ich dann nicht leiden werde, wenn sie mich irgendwann verlassen. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass ich mich deswegen zurückgezogen habe. Obwohl sie meine Bedürfnisse respektiert und mir den Raum gegeben haben, den ich im vergangenen Jahr eingefordert habe, haben sie wegen dieser Sache trotzdem gelitten.

Brandon hustet leicht und blickt mich entschlossen an. »Ich würde heute Abend gern die Klageschrift durchgehen, damit wir uns morgen mit unseren Anwälten treffen können. Einen Schlachtplan ausarbeiten. Lass uns zusammen essen gehen, um uns darüber zu unterhalten.«

Mich überkommt eine riesige Enttäuschung. Das Arschloch in mir – derjenige, der im vergangenen Jahr alle Gefühle außer meinen eigenen vollkommen abgelehnt hat – möchte ihn zur Hölle schicken. Ich habe eine heiße Verabredung mit einer Sirene in einem Sex-Club. Aber ich kämpfe auch mit der Schuld wegen der Probleme, die ich Brandon mit meiner überstürzten Handlungsweise verursacht habe.

Ich reibe mir frustriert den Nacken, nicke aber schließlich. »Lass mich schnell meine Sachen aus dem Büro holen. Wir treffen uns danach im Parkhaus.«

Brandon hebt das Kinn zur Bestätigung, bevor er sich umdreht, um einige Akten von seinem Schreibtisch zu nehmen.

Ich gehe in Richtung Tür, aber er hält mich auf. »Hey, Benjamin?«

Nachdem ich meinen Gehstock für mehr Halt auf dem Boden abgestellt habe, drehe ich mich um und sehe ihn an.

»Vergiss nicht die Wohltätigkeits­veranstaltung für das Kinderkrankenhaus morgen Abend«, sagt er eindringlich. »Dr. Metzer wird durchs Programm führen.«

Dr. Metzer.

Der Vorsitzende der Ethikkommission. Der Mann, der über mein Schicksal entscheiden wird, wie ich mit Familie Harlan umgegangen bin.

Verdammt.

»Es wäre eine sehr große Hilfe, wenn du kommen würdest«, erklärt Brandon. »Verhalte dich kontaktfreudig. Und normal. Zeig ihm, dass du lediglich einen schlechten Tag hattest, anstatt ein schlechtes Jahr.«

Mir entfährt ein tiefes Knurren der Frustration und des Ärgers, hauptsächlich deshalb, weil er recht hat. Und ich schulde ihm etwas.

»Okay. Ich werde hingehen.«

»So ist es brav«, entgegnet Brandon grinsend.

Ich gehe in mein Büro, das sich nur zwei Türen neben Brandons befindet. Dort nehme ich meinen Rucksack, in dem ich meinen Laptop und andere elektronische Geräte habe. Ich nehme mein Mobiltelefon heraus und öffne die Wicked Horse Fantasy-App.

Mit Bedauern schreibe ich Elena eine Nachricht.

Es tut mir leid, aber ich muss heute Abend aus beruflichen Gründen absagen.

Nachdem ich sie gesendet habe, kommt mir eine neue Idee.

Aber hättest du Interesse, mich morgen Abend zu einer Wohltätigkeits­veranstaltung zu begleiten?

Mit ihr würde dieser Abend zumindest angenehmer werden. Ich unterhalte mich dieser Tage zwar nicht gern, trotzdem bin ich wirklich neugierig auf sie.

Danach könnten wir dann das Beste aus dem Abend machen und noch in den Club gehen.