Elena
»Dieses Kleid steht dir fantastisch«, ruft Jorie und klatscht in die Hände.
Ich betrachte mich im Ganzkörperspiegel in Jories Schlafzimmer und muss ihr zustimmen. Ich sehe umwerfend aus. Es ist ein schulterfreies Cocktailkleid mit einem Glockenrock in Altrosa, das am Saum ein schwarzes Farbspritzer-Design aufweist. Es ist weitaus eleganter als alles andere, das ich jemals besessen habe oder mir leisten kann. Zum Glück ist meine beste Freundin mit einem Mann verheiratet, der eine modisch gekleidete Frau am Arm braucht, deswegen ist ihr Kleiderschrank voll mit wunderschönen Kleidern und oh … wir haben dieselbe Größe.
Als ich Jorie erzählte, dass ich »von einem Mann, den ich online kennengelernt habe« zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung eingeladen wurde und ihre Hilfe brauche, war sie ganz aufgeregt. Sie schäumt wegen ihrer eigenen neu gefundenen Liebe so sehr über vor Glück, dass sie mir das Gleiche wünscht. Sie möchte, dass ich mein eigenes persönliches Glück finde, heirate und Kinder bekomme, die wir zusammen großziehen können. Jedes Mal wenn sie davon Wind bekommt, dass ich eventuell eine Verabredung oder Interesse an einem Mann haben könnte, dreht sie vollkommen durch.
Deswegen habe ich ihr auch immer noch nichts von Benjamin erzählt, was mir offensichtlich ein schlechtes Gewissen bereitet. Zumal Jorie tatsächlich schwanger ist. Nachdem sie es ihrem Mann gesagt hatte, war ich die einzige andere Person, mit der sie dieses Geheimnis geteilt hat. Sie sagte, dass sie auf keinen Fall bis zum Ende des ersten Trimesters warten würde, wie es so viele andere Leute tun, bevor sie ihre beste Freundin in das einzigartige und beste Erlebnis ihres Lebens einweiht.
Und trotzdem schaffe ich es immer noch nicht, ihr von dem geheimnisvollen Mann zu berichten, mit dem ich zwei überwältigende sexuelle Erfahrungen erlebt habe. Ein Teil von mir hat Angst, dass es mit ihm vorbei sein wird, wenn ich irgendjemandem davon erzähle. Ich kann es einfach nicht zulassen, dass ich mich etwas so Mächtigem ergebe – etwas, das möglicherweise stark genug wäre, mich auf grundlegende Weise zu verändern. Bis ich genau weiß, worum es sich handelt, habe ich beschlossen, mich leise und vorsichtig zu verhalten.
Ich lasse Jorie mein Make-up abrunden, während sie über ihre Schwangerschaft plaudert. Nächste Woche hat sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt, wo formell ein Schwangerschaftstest durchgeführt wird, damit sie mit ihrer Vorsorge anfangen kann.
Nachdem sie mit meinem Make-up fertig ist, mein Haar noch einmal aufgebauscht und mich für schön genug befunden hat, verlassen wir das Schlafzimmer und finden Walsh wartend im Wohnzimmer vor.
Er bietet mir den Arm an und sagt in einem übertrieben britischen Akzent: »Ich werde Sie nun nach unten begleiten, Milady.«
Ich rolle mit den Augen und lache, trotzdem hake ich mich bei ihm ein. Jorie schiebt ihren Arm auf der anderen Seite durch meinen hindurch und wir fahren mit dem Privataufzug ins Erdgeschoss, gehen durch die Eingangshalle und treten auf den Vegas-Strip hinaus.
Walsh geht jedoch weiter und steuert direkt auf eine schwarze Limousine zu, die vor dem Eingang parkt.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre den Chauffeur der Limousine an, der mir die Tür öffnet.
»Was ist das?«, frage ich.
»Ich stelle dir für heute Abend meine Limousine zur Verfügung«, entgegnet Walsh. »Und jetzt steig in den verdammten Wagen ein.«
»Aber bis zum Presario sind es nur ein paar Blocks«, sage ich und versuche, gegen seine Großzügigkeit Protest einzulegen.
Jorie stellt sich vor mich und nimmt mich fest in die Arme. »Steig schon in die Limousine ein. Walsh ist in Spendierlaune, weil er so glücklich ist, Daddy zu werden.«
Ich löse mich von Jorie, drehe mich zu Walsh um und stelle mich auf Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Du bist ein Prinz. Danke!«
»Als wüsste ich das nicht schon«, antwortet er augenzwinkernd, bevor er mir beim Einsteigen hilft.
Es dauert nur wenige Minuten, die zwei Blocks zum Presario zu fahren, eins der neueren Casinos, in dem die Gala stattfindet. Ich sehe Benjamin, der am Eingang auf mich wartet. Er sieht fantastisch aus im Smoking, seinen Gehstock hat er direkt vor sich abgestellt, was ihn noch majestätischer und intellektueller wirken lässt, während er nach mir Ausschau hält. Ich hatte ihm gesagt, dass ich mich im Royale umziehen würde, und er erwartet, dass ich die kurze Distanz zu Fuß zurücklege.
Er lässt den Blick zu der Limousine schweifen, dann die Straße hinunter, bevor er wieder zum Wagen sieht, als die Tür geöffnet wird und ich aussteige. Seine Augen werden vor Überraschung riesengroß, doch dann kommt er auf mich zu, wobei sein Stock auf dem Bürgersteig auftippt. Es ist ein unfassbar warmer Juniabend, trotzdem sieht er ziemlich gelassen aus.
»Elena«, begrüßt er mich und hält mir den Arm hin. »Dein Kleid ist umwerfend.«
Dieses Kompliment lässt mir vor Freude die Röte ins Gesicht steigen. »Es gehört Jorie«, gestehe ich. »Ich kann mir diese Art von Kleidung nicht leisten, die man braucht, um an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Zum Glück haben wir die gleiche Größe.«
»Irgendwie denke ich, dass es an ihr nicht so gut aussehen würde«, sagt er und macht mir ein weiteres weltmännisches Kompliment.
Noch einmal, es fühlt sich gut an, seine Bestätigung zu bekommen. Trotzdem würde ich lieber sein Grunzen und Stöhnen hören, da das mehr sagt als seine Worte. Ich fürchte, ich habe meine Prioritäten falsch gesetzt, aber es ist die Wahrheit.
Benjamin führt mich in das Casino und wir gehen zu einem der Aufzüge, mit dem wir zum Veranstaltungssaal gelangen.
»Worum handelt es sich bei dieser Gala?«, frage ich.
»Es ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung für das Kinderkrankenhaus«, antwortet er.
»Gehst du zu vielen solcher Feierlichkeiten?«
Als wir bei den Aufzügen ankommen, drückt er mit dem Finger auf den Knopf. »Nicht in letzter Zeit. Ich scheine dafür keine Geduld mehr zu haben.«
»Warum gehst du dann zu dieser Veranstaltung?«
Er zieht eine Grimasse. »Sagen wir einfach, ich schulde meinem Partner noch einen Gefallen. Und danke, dass du mich als meine Verabredung begleitest.«
Ich zwinkere ihm zu und lächele schief. »Seien wir ehrlich … es war die Aussicht darauf, später noch mit dir ins Wicked Horse zu gehen, die mich hat zustimmen lassen.«
Seine Augen werden vor Erstaunen ganz groß und seine Mundwinkel verziehen sich nach oben. »Wirklich?«
»Wirklich«, sage ich mit einem nachdrücklichen Kopfnicken. »Warum überrascht dich das?«
Er zuckt genau in dem Moment mit den Schultern, als die Aufzugtüren sich öffnen. Er führt mich hinein und wir gehen ganz nach hinten, weil nach uns noch weitere Leute eintreten. Er kommt noch etwas näher, dann schließen sich die Türen und wir fahren nach oben.
Benjamin beugt sich herunter und flüstert: »Die meisten Single-Frauen sind nicht auf diese Weise an Sex interessiert.«
In seinen Worten liegt etwas Wahrheit. Die meisten der Frauen im Wicked Horse befinden sich in festen Beziehungen. Sie kommen in Begleitung und tauschen sehr häufig die Partner. Ich habe sehr wenige Single-Frauen gesehen, die nur für den Sex dorthin gehen. Darüber hinaus ist es traurig, sagen zu müssen, dass sich nur wenige Frauen den Eintritt leisten können.
Ich lege den Kopf in den Nacken. Er beugt sich noch ein wenig näher zu mir, damit ich flüstern kann: »Sagen wir einfach, ich fand es … nicht gerade ermächtigend, in einer festen Beziehung zu sein.«
Wir erreichen unser Stockwerk und die Aufzugtüren öffnen sich. Benjamin führt mich durch die Menschenmenge und wir treten heraus. Ich hake mich bei ihm ein und wir schreiten den Flur entlang zu dem Ballsaal, in dem sich die Gäste miteinander unterhalten.
»Und trotzdem«, sagt er, als wir dort entlangschlendern, »du gibst die gesamte Kontrolle an mich ab. Das scheint nicht gerade ermächtigend zu sein.«
Mein Lachen ist heiser, erheitert. »Im Gegenteil, Kontrolle abzugeben ist für mich der Höhepunkt der Ermächtigung. Ich meine zu wissen, dass ich den Mut dazu habe, das zu tun.«
Benjamin hält an und ich tue es ihm gleich. Er blickt mich fragend an. »Du überraschst mich immer wieder.«
»Ist das eine gute Sache?«, frage ich.
Er neigt den Kopf. »Es ist eine unheimlich gute Sache. Es ist das, was ich brauche.«
Benjamin nimmt meine Hand und wir betreten den Ballsaal. Leise Walzerklänge dringen in meine Ohren und der Geruch von köstlichen Speisen steigt mir in die Nase und lässt mir den Magen knurren. Benjamin nickt zu einer Gruppe von Leuten und sagt: »Komm mit. Dort drüben steht Dr. Metzer. Er ist der Veranstalter dieser Gala. Ich muss ihn begrüßen.«
»Klingt gut.«
Wir bahnen uns unseren Weg zu der Gruppe. An den überraschten Gesichtern der Menschen ist zu erkennen, dass sie mit Benjamins Anwesenheit nicht gerechnet haben. Ich denke wirklich, dass es ungewöhnlich für ihn ist, an dieser Art von Veranstaltung teilzunehmen.
Ich werde einem korpulenten älteren Mann vorgestellt – Dr. Metzer –, der mir höflich zunickt. Als Nächstes macht mich Benjamin mit einem sehr attraktiven Mann und dessen Frau bekannt, Brandon und Colleen Aimes.
»Brandon ist mein Partner in der Praxis«, erklärt Benjamin, als wir uns die Hände schütteln.
Brandon und Colleen machen einen erstaunten Eindruck, mich zu sehen, und ich frage mich warum. Hat Benjamin denn gar keine Verabredungen? Ist er schwul? Was, wenn er verheiratet ist … und ich nur ein Anhängsel bin, das er schamlos herumzeigt?
Alle diese Fragen werden beantwortet, als Colleen ihre Fassung wiederzuerlangen scheint und es aus ihr heraussprudelt: »Es freut mich so sehr, dich kennenzulernen, Elena. Es ist schön zu sehen, dass Benjamin zur Abwechslung einmal ausgeht.«
Das erleichtert mich und ich bin dankbar, dass es scheint, als hätte ich heute Abend noch jemand anderes, mit dem ich mich unterhalten kann.
»Also Elena«, sagt Brandon. »Was machst du beruflich?«
»Ich bin Frisörin«, sage ich und erwarte etwas Geringschätzung angesichts meines Unterschichtsstatus.
Stattdessen meldet sich Colleen zu Wort: »Hier in Las Vegas? Denn ich will mich verändern.«
Sie tätschelt ihren perfekt frisierten Bob und legt erwartungsvoll den Kopf schief.
»In Henderson«, antworte ich. »Mir gehört dort ein Laden, aber wenn es dir nichts ausmacht, den Weg auf dich zu nehmen, würde ich dich sehr gern beraten.«
»Selbstverständlich kann ich zu dir kommen«, flötet sie aufgeregt. »Wie haben du und Benjamin euch denn kennengelernt?«
Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Rückblickend war es dumm, sie nicht zu erwarten. Ich erstarre und werfe Benjamin einen fragenden Blick zu, der mich wiederum nur teilnahmslos ansieht und bereit ist, jede Antwort zu akzeptieren, die ich geben werde.
»Über ein Online-Dating-Portal«, sage ich, als ich mich wieder Colleen zuwende.
Sie nickt heftig. »Das ist dieser Tage total angesagt, nicht wahr? Wische nach rechts. Oder doch nach links? Wie dem auch sei, ich freue mich wahnsinnig, dass Benjamin heute Abend ausgegangen ist. Oh, wir sollten uns einen Tisch sichern, damit wir zusammensitzen können, wenn die Auktion beginnt.«
»Warum besorgst du uns nicht einen Platz?«, schlägt Benjamin Colleen vor, als er mich am Arm nimmt und seine Absicht deutlich macht, mich wegzuführen. »Wir werden uns die Kunstgegenstände ansehen, die zur Auktion stehen, und uns etwas zu trinken besorgen. Wollt ihr etwas?«
»Nein danke«, sagt Brandon.
Benjamin nimmt das als Stichwort, um sich mit mir zu entfernen. »Entschuldige bitte«, murmelt er, als wir uns durch die Menge schlängeln. »Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, eine Geschichte zu erfinden, wie wir uns kennengelernt haben.«
»Nun ja, was ich gesagt habe, stimmt schon irgendwie.«
Er hält an und dreht sich mit einem ernsthaften Gesichtsausdruck zu mir um. »Sieh mal … ich dachte, ich könnte dir für heute Nacht ein Hotelzimmer hier besorgen, damit du nicht die ganze Strecke zurück nach Henderson fahren musst.«
Ich sehe verwundert zu ihm auf, weil er so plötzlich das Thema gewechselt hat. »Das ist nett, aber unnötig. Ich kann bei Jorie und Walsh übernachten.«
Benjamin blickt etwas verlegen drein, als er in seine Tasche greift und eine Schlüsselkarte hervorholt. »Also, ich habe das Zimmer bereits gebucht.«
»Oh«, sage ich und werde tiefrot, als mir klar wird, dass sich ein Zimmer und ein Bett in unmittelbarer Nähe von uns befinden. »Was ist mit dem Wicked Horse?«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht hierbleiben. Der Einfachheit halber.«
Im Wicked Horse gibt es zwar jede Menge Versuchung, und sexuelle Ausgelassenheit findet dort auf einem anderen Niveau statt, doch der Gedanke daran, eventuell eine ganze Nacht mit Benjamin zu verbringen, ist verlockend.
»Denkst du, was ich denke?«, frage ich.
In seinen Augen blitzt es auf. »Was genau denkst du denn?«
»Wir gehen genau jetzt auf unser Zimmer. Es sei denn, du möchtest lieber hierbleiben und dich unterhalten.«
Benjamins Mund verzieht sich zu einem verheißungsvollen, sexy Grinsen. »Lass uns gehen.«
Für jemanden, der einen Stock zum Gehen benutzt, bewegt sich Benjamin mit überraschender Eleganz und Effizienz, als er mich aus dem Ballsaal führt. Einige Leute nicken ihm zur Begrüßung zu, als er an ihnen vorbeigeht, aber er schreitet mit solcher Entschlossenheit voran, dass er zweifellos nicht vorhat, anzuhalten und an einem Gespräch teilzunehmen.
Ich lasse ihn mich den ganzen Weg bis in den siebzehnten Stock hinaufführen.