KAPITEL 13

Benjamin

Der Aufenthaltsraum der Ärzte im Krankenhaus ist schmucklos. Es gibt eine kleine Küche, die aus einem Kühlschrank, einem Herd, einer Mikrowelle und einer langen Arbeitsplatte mit einer Spüle besteht. Auf der Arbeitsfläche befindet sich ebenfalls eine Kaffeemaschine. Das hier ist der Ort, an dem die Ärzte etwas Privatsphäre haben können, während sie eine Kleinigkeit essen oder eine schnelle Mahlzeit zu sich nehmen, anstatt in der Krankenhaus-Cafeteria zu sitzen. Weil viele Ärzte sich gern mit anderen unterhalten, gehen sie oft in die Cafeteria, und dieser Raum bleibt in der Regel ungenutzt.

Ich habe mir zwei Protein-Shakes genehmigt, die ich heute früh mitgebracht hatte, und mir bleiben noch etwa zwanzig Minuten bis zu meiner nächsten Operation. Den Großteil dieser Zeit verbringe ich scrollend an meinem Telefon und denke an Elena.

Sie gestern Abend zu Hause zu besuchen hat Spaß gemacht und davon hatte ich in letzter Zeit nicht gerade viel.

Seien wir mal ehrlich … der Sex war das Beste daran. Aber wir haben ebenfalls Witze gemacht und gelacht, während wir mit den Erdbeeren und der Sahne spielten. Es war lustig, gemütlich, ungezwungen und klebrig.

Und ich wollte nicht gehen, verdammt! Ich wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Sex der Grund dafür war oder der Spaß oder vielleicht sogar beides. Aber es hat mich sehr viel Überwindung gekostet, ihr Haus zu verlassen.

Der Punkt ist, dass ich wieder anfange, etwas zu fühlen. Es ist zwar unheimlich beängstigend, aber ich muss zugeben, dass es mir gefällt.

Ich muss zugeben, dass es mir gefehlt hat.

Jeder Moment, den ich mit Elena verbringe, fühlt sich an, als würde ich mit ihr durch einen Tunnel schreiten. Am Ende dieses Tunnels ist Licht. Jedes Mal wenn wir vögeln, lachen, uns küssen, einander ansehen … wird das Licht heller und heller. Die Momente mit ihr bringen mich ihm immer näher.

Nachdem ich heute Morgen aufgewacht und aus der Dusche gekommen war, las ich meine SMS und war angenehm überrascht, eine von ihr vorzufinden.

Ich fühle mich so frisch und ausgeschlafen nach letzter Nacht. Heute Abend werde ich im WH sowas von bereit für dich sein.

Das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, war nicht aufzuhalten. Die Freude, die in mir sprudelte, weil ich wusste, dass ich in weniger als einem halben Tag wieder in ihrer Gegenwart sein würde.

Ich kann es kaum erwarten, schrieb ich zurück.

Ich legte mein Telefon weg, um mich umzuziehen, doch sie antwortete mir sofort. Es hat mich weder verärgert noch fühlte es sich so an, als würde sie mir die Zeit stehlen. Ich nahm das Telefon wieder auf, gespannt zu lesen, was sie wohl zu sagen hatte. Ich dachte, wir können heute Abend vielleicht eine oder zwei andere Frauen zu uns einladen.

Bei ihrem Vorschlag zuckte ich zusammen, trotzdem musste ich einen Moment darüber nachdenken. Seien wir mal ehrlich … ich kenne keinen Mann, der solch ein Angebot ausschlagen würde.

Und trotzdem schrieb ich nach einem kurzen Moment zurück: Kein Interesse.

Nicht einmal ein winziges, fiel mir auf.

Es hat einige Gelegenheiten im Wicked Horse gegeben, bei denen ich zwei Frauen gleichzeitig hatte. Es hat Spaß gemacht. Ich habe meine Befriedigung bekommen.

Aber jetzt interessiert mich das nicht. Ich will nur Elena. Ich weiß nicht, ob das für immer so bleiben wird, denn es wäre nicht klug, in meiner Situation solch eine Wette einzugehen. Aber für den Moment ist es eben so.

Sie schrieb: Gute Antwort. Bis heute Abend.

Ja, bis heute Abend. Meiner Meinung nach ist es lange überfällig, dass wir beide uns ein wenig Exhibitionismus hingeben. Obwohl alles, was wir in letzter Zeit im Club getan haben, in der privaten Umgebung des Apartments stattgefunden hat, denke ich an etwas Größeres. Vielleicht könnten wir eine der neuen Sex-Maschinen ausprobieren, die Jerico im Silo aufgestellt hat. Oder ich könnte sie im Gesellschaftszimmer zum Höhepunkt fingern. Sex dort ist nicht tabu, auch wenn es für gewöhnlich nicht passiert. Es würden uns garantiert viele Leute zuschauen. Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass es meinem Ego gefällt, wenn alle zusehen und wissen, dass Elena mir gehört … wenn auch nur für eine kurze Zeit.

Zwei mir flüchtig bekannte Ärzte betreten den Aufenthaltsraum. Orthopäden, glaube ich. Ein Mann und eine Frau, die unbeschwert miteinander plaudern.

Mit nur einem beiläufigen Blick kann ich an ihren Gesichtsausdrücken erkennen, dass mein Ruf, ein Arschloch zu sein, mir bereits vorausgeeilt ist. Die beiden versuchen, jeglichen Augenkontakt zu vermeiden, schaffen es aber nicht, bevor ich sie entgegenkommend anlächele. Sie blinzeln, ihnen fällt die Kinnlade herunter, dann wenden sie sich hastig von mir ab.

Ich lache leise und amüsiere mich ein wenig darüber, wie verwirrend ein Lächeln sein kann.

Die beiden Ärzte nehmen ihr Essen aus dem Kühlschrank und gehen dann auf die andere Seite des Raumes, um weit entfernt von mir Platz zu nehmen. Der Aufenthaltsraum ist jedoch immer noch klein genug, sodass ich sie hören kann, als sie anfangen, sich zu unterhalten.

Ich scrolle weiter auf meinem Telefon herum und lausche, weil ich nichts Besseres zu tun habe. Ich muss meine Gedanken an Elena beiseiteschieben, andernfalls werde ich mit einer Erektion durch die Krankenhausflure schreiten.

Der Arzt beginnt, sich zu beschweren, doch ich höre nur mit halbem Ohr zu. Es geht um seine Ex-Frau.

Was auch immer.

»Ich hatte bereits alles geplant«, sagt er zu der Ärztin. »Ich wollte ihn zum Angeln mitnehmen. Ich habe mir dieses Wochenende schon vor Ewigkeiten freigenommen und sie hatte zugestimmt. Und jetzt sagt sie, ich kann ihn nicht abholen, weil es nicht mein reguläres Wochenende ist.«

So viel Drama. Ich rolle mit den Augen und rufe die Wetter-App auf, um mir die Vorhersage für die nächsten Tage anzusehen. Ich habe darüber nachgedacht, mein Boot aus dem Lager zu holen, um eine Fahrt auf dem See zu unternehmen. Vielleicht lade ich sogar Elena ein mitzukommen.

»Das tut mir so leid«, sagt die Ärztin mitfühlend. »Dass sie es dir von allen Wochenenden ausgerechnet an diesem antut.«

»Nicht wahr?«, fragt der Arzt nach Bestätigung suchend. »Vatertag sollte grundsätzlich mir zustehen, meinst du nicht?«

Mein gesamter Körper versteift sich und ich blicke zu den Ärzten hinüber. Vatertag?

Das wusste ich nicht. Ich hatte keinen Grund dazu. Ich achte nicht mehr auf irgendwelche Feiertage. Ich schaue mir nur meinen Operations- und meinen Patientenplan an und das war’s.

Vatertag.

Mit Cassidy habe ich nur fünf gefeiert. Letztes Jahr war ich immer noch damit beschäftigt gewesen, mich von der Welt abzuschotten, war in ambulanter Behandlung und habe gearbeitet bis zum Umfallen. Ich habe nicht einmal gewusst, was um mich herum passiert. Rückblickend bin ich mir ziemlich sicher, dass die meisten Menschen dafür gesorgt haben, mir aus dem Weg zu gehen, um es nicht zu erwähnen.

Wenn diese beiden Arschlöcher nicht reingekommen wären, hätte ich vermutlich auch an diesem Wochenende nichts davon gewusst.

Ich bin nicht auf die überwältigende Traurigkeit vorbereitet, die mich mit einem Mal überkommt. Zum größten Teil ist es mir gelungen, Cassidy aus meinem Kopf zu verbannen, und ich komme mit der Wiederkehr der Erinnerung an sie nicht sehr gut zurecht. Der bloße Gedanke an die Dinge, die ich nie wieder mit ihr erleben werde, erdrückt mich. Ich hatte sie und April in meine »Vergangenheit« geschoben, wo ich sie sicher aufbewahre und aus der Ferne betrachte. Ich musste akzeptieren, dass ich mit Cassidy fünf und mit April neun großartige Jahre verbracht habe, diese Zeit jetzt jedoch vorüber ist.

Es ist verdammt noch mal vorbei und ich werde nie wieder Cassidys Hände auf meinem Gesicht spüren und hören, wie sie flüstert: »Daddy, ich liebe dich bis zum Mond und zurück«, oder erleben, wie sie an einem Sonntagmorgen zu mir und April ins Bett gekrabbelt kommt, um zu kuscheln und Zeichentrickserien zu schauen, oder ihr dabei helfen, ihre kleinen Kratzer mit Pflastern zu versehen, weil ich ein Arzt bin und Mommy nicht, und –

Der Schmerz trifft mich und dringt wie Feuer in jedes Molekül meines Körpers ein. Es ist schlimmer als in dem Moment, als meine Mutter mir sagte, dass April und Cassidy gestorben sind. Damals befand ich mich zumindest unter dem Einfluss von starken Betäubungsmitteln, um meine körperlichen Schmerzen zu lindern. Das machte es etwas einfacher, mit den niederschmetternden Nachrichten umzugehen.

Doch dieser Schmerz jetzt ist erdrückend und ich fühle mich, als würde ich ertrinken. Es ist sogar noch schlimmer als das Gefühl, das ich empfunden habe, als der Richter Pettigrew zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, weil er meine Familie umgebracht hat. Er hat nicht ein Fünkchen Reue gezeigt. Ich habe ihn töten wollen, aber ich konnte nicht. Es hat so sehr wehgetan, dass ich niemals wieder solch einen Schmerz erleben wollte.

Aber jetzt? Wenn ich darüber nachdenke, dass ich am Vatertag ganz allein bin und Cassidy tot ist, fühlt es sich an, als würde ich gerade sterben. So schrecklich ist der Schmerz.

»Scheiße«, murmele ich und stehe rasch vom Tisch auf. Der Plastikstuhl, auf dem ich gesessen habe, kippt nach hinten um. Die anderen beiden Ärzte blicken besorgt drein, sagen aber kein Wort.

Ich stolpere an ihrem Tisch vorbei und verlasse den Aufenthaltsraum. Ich weiß nicht einmal, wohin ich gehe. Ich schwanke wie ein Betrunkener und torkele von Wand zu Wand. Plötzlich fällt mir auf, dass ich meinen Gehstock im Aufenthaltsraum vergessen habe.

Scheiß drauf.

Ich erreiche eine Herrentoilette, drücke die Tür auf und schleppe mich zum Waschbecken. Nachdem ich das kalte Wasser angestellt habe, schaufele ich mir zahlreiche Hände voll davon ins Gesicht und bemerke, dass ich nach Atem ringe.

Ich bin in Panik.

Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Schmerz umgehen soll.

»Verdammte Scheiße!«, brülle ich und starre mein Spiegelbild an. Ein verrückter Mann schaut mich an. »Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Benjamin.«

Ich kneife die Augen fest zusammen und atme ein paarmal tief ein und wieder aus. Ich zwinge mich dazu, dieses Gefühl der Panik zu überwinden, alles zu verlieren, was mir im Leben wichtig ist.

Warum passiert es? Warum jetzt?

Ich atme noch einmal tief ein und halte die Luft in meiner Lunge, bis mir vor Anstrengung die Augen tränen, dann lasse ich sie langsam wieder entweichen. Als ich mich zwinge, noch einmal in den Spiegel zu blicken, ist die Antwort offensichtlich.

Es passiert wegen Elena. Sie hat mich geöffnet.

Hat mich dazu gebracht, nach meinen Möglichkeiten zu greifen.

Sie hatte sich ihren Weg in mein Leben gebahnt und ich habe gedacht, sie könnte vielleicht die Retterin sein, die Gott zu mir ausgesandt hat.

Ein freudloses Lachen bricht aus mir heraus. Ich bedenke mein Spiegelbild mit einem tadelnden Kopfschütteln.

»Sie ist keine Retterin«, sage ich zu mir selbst. »Denn es gibt keinen Gott.«