Benjamin
Es ist Vatertag und ich kann mich nirgendwo verstecken.
Ich habe den Tag damit begonnen, mit meinem Boot zum See zu fahren. Dort wimmelte es nur so von Familien – überall Kinder – und mir wurde sofort klar, dass das ein riesiger Fehler war. Ich habe mir gar nicht erst die Mühe gemacht, mein Boot zu Wasser zu lassen.
Nachdem ich den See verlassen hatte, beschloss ich, wandern zu gehen, weil ich dachte, ich könnte vielleicht Glück haben und von einer Klapperschlange gebissen und so von meinem Elend erlöst werden. Es war mir noch niemals zuvor aufgefallen, aber Wandern scheint ein toller und beliebter Zeitvertreib für die Familie zu sein. Ich wurde also auch dort an all das erinnert, was ich nicht mehr habe, und bin gar nicht erst aus dem Wagen ausgestiegen.
Ich bin davongefahren und landete in irgendeinem Strip-Club. Hier sitze ich nun also und sehe den Frauen beim Tanzen zu. Doch es hilft nicht, mich von den Gedanken an meine Tochter abzulenken. Sehr viel Alkohol, wippende Titten und wackelnde Ärsche so weit das Auge reicht, und ich kann bloß daran denken, wie viel Angst Cassidy im Moment des Zusammenstoßes gehabt haben muss. Sie war nicht sofort tot, wie es April glücklicherweise ergangen war. Cassidy hat gelitten, bevor sie starb. Es ist unerträglich, darüber nachzudenken, und ich brauche etwas anderes, um meinen Verstand zu beschäftigen.
Als ich mich auf den Weg mache, bin ich sturzbetrunken, trotzdem schwirrt mir immer noch im Kopf herum, was ich alles verloren habe. Es gibt jedoch eine Sache, die ich niemals tun werde, und das ist, betrunken Auto zu fahren. Deswegen lasse ich mein Auto am Strip-Club stehen und nehme mir ein Taxi zum Wicked Horse.
Dort angekommen setze ich mich auf einem Barhocker im Silo nieder, wo für gewöhnlich der perverseste Sex stattfindet. Niemand hier erweckt jedoch mein Interesse. Nichts, was ich bislang gesehen habe, hat mich in irgendeiner Art inspiriert. Mein Schwanz hat nicht einmal ein klein wenig gezuckt.
Zumindest denke ich nicht an Cassidy … nicht viel. Ich nehme an, dass es an der Kombination meiner Trunkenheit und den zahlreichen verschiedenen sexuellen Akten liegt, die um mich herum passieren und mich auf andere Gedanken bringen.
Als ich eine große Hand auf meiner Schulter spüre, drehe ich mich um und sehe Jerico Jameson, den Besitzer des Wicked Horse, der zu meiner Rechten auf einem Stuhl Platz nimmt. Ich hebe mein Kinn zur Begrüßung und kauere mich dann schützend über meinem Drink zusammen, in der Hoffnung, er sieht an meiner Körpersprache, dass mir nicht der Sinn nach einem Gespräch steht.
»Wenn du nach Elena suchst, sie kommt sonntags nicht hierher. Sie verbringt den Tag mit ihrer Familie«, sagt Jerico nüchtern.
Ich drehe den Kopf erneut in seine Richtung, ein wenig überrascht, dass er sie überhaupt erwähnt hat.
»Du scheinst über deine Kunden ja sehr gut Bescheid zu wissen«, beobachte ich und mir fällt auf, dass an meinem Lallen das Ausmaß meiner Trunkenheit zu erkennen ist. Es ist das erste Mal, dass ich heute Abend mit jemand anderem als dem Barkeeper spreche, um mir etwas zu trinken zu bestellen.
Jerico zuckt mit den Schultern. »Nicht über alle. Aber Elena ist besonders.«
Ich kann mir nicht helfen, ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Seine Stimme war zu vertraut, als er ihren Namen ausgesprochen hat, und es gefällt mir nicht.
Jerico lacht und hält in gespielter Aufgabe die Hände hoch. »Ich wollte damit nur sagen, dass sie die beste Freundin der Frau einer meiner ehemaligen Kunden ist, der nach wie vor ein guter Freund von mir ist.«
»Walsh Brooks«, murmele ich.
Jerico nickt, dann gestikuliert er zu dem Barkeeper, hält zwei Finger hoch und zeigt erst auf sich, dann auf mich. Er wendet sich mir zu. »Kennst du ihn?«
»Wir haben früher miteinander Golf gespielt«, sage ich kurz angebunden, während ich mein Getränk in einem Zug leere, um mich auf das nächste vorzubereiten, das Jerico mir soeben bestellt hat. »Wie dem auch sei, ich bin nicht hier, um nach Elena zu suchen. Das mit uns hat nicht funktioniert.«
Allein schon diese Worte auszusprechen weckt die Sehnsucht in mir. Ich habe sie vielleicht aus meinem Leben verbannt, aber das bedeutet nicht, dass ich sie nicht immer noch begehre.
»Das überrascht mich«, murmelt Jerico. »Ihr zwei wart das Gesprächsthema Nummer eins im Club. Eure Chemie war sensationell. Sogar ich habe euch einige Male zusammen beobachtet. Ihr beide hattet etwas Besonderes.«
Seine Worte treffen mich hart. Er braucht mir nicht zu sagen, dass zwischen uns etwas Besonderes existiert hat. Ich habe es verdammt noch mal gespürt.
Ich weigere mich jedoch, es anzuerkennen. »Nicht wirklich. Sie war bloß ein guter Fick.«
Ein Schmerz trifft mich mitten in die Brust – ein sicheres Zeichen für die Reue, die ich verspüre, es überhaupt gesagt zu haben. Sie war so viel mehr als ein guter Fick und das ist auch genau der Grund, warum ich Abstand von ihr nehmen musste. Sie hat mich dazu gebracht, zu viel zu empfinden, und dafür bin ich einfach nicht bereit.
Der Barkeeper serviert unsere Getränke. Als ich nach meinem greife, sagt Jerico nachdrücklich: »Nach diesem hier ist heute Abend Schluss für dich. Du weißt, wir haben ein Zwei-Getränke-Limit.«
»Bin schon betrunken«, murmele ich, aber dann hebe ich mein Glas und sage: »Aber danke.«
»Wenn du mir diese Bemerkung gestattest«, sagt Jerico und stützt sich mit dem Ellbogen auf dem Tresen ab, »du siehst aus wie ein Mann, dem ziemlich viel auf der Seele lastet.«
Weil ich es hasse, wie gut er mich durchschaut, werfe ich ihm einen scharfen Blick zu, schaue jedoch genauso schnell wieder weg, damit er nicht merkt, wie sehr er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hat.
Er lässt sich davon nicht abschrecken. »Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen. Ich sage nur … ich weiß, wie jemand aussieht, der hierherkommt, um sich in Muschis oder Schwänzen zu verlieren oder was auch immer es ist, das dir Befriedigung verschafft. Trotzdem hast du heute Abend an nichts Interesse. Warum bist du dann überhaupt hier?«
Ich schaue mich im Silo um. Es findet der übliche versaute Sex statt. In einem Raum ist ein Dreier zugange, in einem anderen wird eine Frau ausgepeitscht. In wieder einem anderen Raum befinden sich zwei Männer in der Neunundsechziger-Stellung.
Ich wende Jerico wieder meine Aufmerksamkeit zu und kann ihm wegen seiner Neugier nicht einmal böse sein. Im Gegenteil, der Alkohol scheint mein Verlangen nach Trauer und Privatsphäre vollkommen abgetötet zu haben. »Heute ist Vatertag und ich versuche zu vergessen, dass meine fünfjährige Tochter tot ist. Ich war schon an verschiedenen Plätzen, um sie zu vergessen, und dachte mir, dass ich an einem Ort wie diesem wohl die besten Chancen hätte. Es scheint zu funktionieren.«
Jericos Gesichtsausdruck wird weich. »Es tut mir aufrichtig leid, Benjamin. Das wusste ich nicht.«
Ich zucke mit den Schultern. »Nur wenige wissen es. Es ist ja nicht so, als würde ich damit hausieren gehen.«
Heute früh hatte ich mich kurz gefragt, ob ich Cassidys Grab besuchen sollte. Ich hatte gedacht, ich sollte den Vatertag mit ihr verbringen, aber ich konnte mich nicht überwinden, es zu tun. Ich wollte nicht, dass dieser Feiertag zum Präzedenzfall wird. Wer weiß … vielleicht ist das hier ja mein Präzedenzfall? Mich in einen Sex-Club zu begeben und mit Alkohol zu betäuben, um den Schmerz abzutöten.
»Hat es geklappt?« Jerico nippt an seinem Drink und sieht mich durchdringend an. »Lenkt dich das, was hier drinnen vor sich geht, von deiner Tochter ab?«
»Ein wenig«, gestehe ich. Ich hebe mein Glas und trinke einen großen Schluck von dem Bourbon, den Jerico mir spendiert hat. Er brennt nicht einmal mehr, als er mir die Kehle hinunterfließt.
»Ist das der Grund, warum du angefangen hast hierherzukommen? Um dich von allem, was passiert ist, abzuschotten?«
Mein Lachen ist freud- und tonlos. »Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Ich war so gut darin, mich zu weigern, an die beiden zu denken, während ich mich von jeglichen Erinnerungen an sie abgeschottet habe, dass ich für alles andere unempfänglich geworden bin.«
Jerico zuckt überrascht zusammen. »Die beiden?«
»Meine Frau ist ebenfalls gestorben. Ein betrunkener Fahrer hat unseren Wagen gerammt.«
»Oh mein Gott«, murmelt Jerico, dann nimmt er einen großen Schluck seines eigenen Getränks. Mir ist klar, wie jämmerlich es klingt.
Aber der Alkohol und Jericos hartnäckige Fragen haben mir die Zunge gelockert. »Ich habe Monate gebraucht, um sie zu begraben … zumindest die Erinnerungen an sie. Es war zu schmerzhaft, um überhaupt daran zu denken. Aber ich bin darin so gut geworden, dass ich überhaupt nichts mehr gefühlt habe. Ich dachte, dass ich zumindest körperliche Lust empfinden würde, wenn ich hierherkomme. Das war zumindest schon mal etwas.«
Jericos Gesichtsausdruck verändert sich, als sei ihm soeben ein Licht aufgegangen. »Dann hast du Elena Costieri getroffen und alles war vorbei. Du konntest den Schmerz nicht mehr begraben.«
Mir gefällt nicht, welche bedeutende Rolle er Elena zuschreibt. Es macht meine Schuldgefühle wegen dem, was ich getan habe, nur noch größer. Ich verschließe die Augen vor der Wahrheit, als ich sage: »So war es zuerst gar nicht.«
»Aber daraus ist etwas geworden«, erwidert Jerico weise. In seinen Worten liegt eine einfühlsame Wahrheit. Ich kann nicht einmal wütend darauf sein, dass er vor mir versucht, den Psychologen zu spielen.
»Sie hat mich geöffnet«, gebe ich widerwillig zu. »Sie hat mich verletzlich gemacht.«
Jerico nickt, als hätte er diese traurige Geschichte schon einmal gehört. Aber in Wahrheit fällt es ihm nicht schwer, sich ein Bild von meiner Geschichte zu machen. »Lass mich raten … auf einmal ist Vatertag, Elena hat dich geöffnet und der Schmerz hat dich doppelt hart getroffen?«
»Du hast ja keine Ahnung«, murmele ich, trinke den letzten Rest meines Getränks aus und schiebe das leere Glas an den Rand des Tresens. Der Barkeeper würdigt mich keines Blickes; er weiß, dass er mir nichts mehr servieren darf. »Am Donnerstag saß ich im Krankenhaus und hörte zufällig eine Unterhaltung über Vatertag. Ich wusste nicht einmal, dass es Vatertag sein würde. Und ja … dadurch kommen wieder all die Dinge ans Licht, die ich in Schwerstarbeit versucht habe, von mir wegzuschieben.«
»Und?« Jerico blickt mich einfach nur an.
»Und was?«
»Was hat Elena mit all dem zu tun?«, fragt er.
Ich runzele die Stirn. »Na ja, es ist ihre Schuld, oder? Sie ist jemand, von dem ich mich nicht fernhalten kann. Ich hätte es besser wissen und mich gar nicht erst auf jemanden wie sie einlassen sollen. Aber damit ist jetzt Schluss.«
»Hast sie einfach abserviert, was?« Die Verachtung in Jericos Stimme ist deutlich zu hören, was bedeutet, dass er sie mag.
»So in der Art«, murmele ich schuldbewusst.
Jerico setzt sich aufrecht hin, schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen und bedenkt mich mit einem durchdringenden Blick. »Das war ein beschissener Zug von dir, Benjamin. Mir ist egal, welches emotionale Trauma du erlitten hast.«
»Ja, ich weiß. Aber es ist das Beste. Aus uns wäre sowieso niemals etwas geworden.«
»Ich denke, das wirst du nun nicht mehr erfahren«, antwortet Jerico und an der Art, wie er es sagt, ist etwas Unheilvolles. Als wäre mein letztes Fünkchen Hoffnung soeben erloschen. Selbst wenn ich bis zu diesem Moment nicht bemerkt hätte, dass mir noch etwas Hoffnung geblieben wäre.
»Ich denke nicht«, murmele ich nachdenklich.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«, will Jerico höflich wissen.
»Frag schon«, antworte ich langsam. Meine Zunge ist so geschwollen, dass es mir beinahe schon schwerfällt, diese Worte auszusprechen.
»Der Schmerz, den du am Donnerstag gefühlt hast … im Krankenhaus, als du das Gespräch über Vatertag mitbekommen hast? Ich schätze, es hat dich ziemlich hart getroffen, wenn du in Folge dessen die Sache mit Elena einfach so beendet hast.«
»So schlimm habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.«
»Sag mir ehrlich … fühlst du dich jetzt gerade in diesem Augenblick schlecht? Ich meine, abgesehen davon, dass du sturzbesoffen bist und der Alkohol dich runterzieht, aber wenn du den Schmerz vergleichst … wie fühlt es sich an?«
»Es ist nicht so schlimm«, gebe ich zu. »Ich hatte einige Tage, um alles zu verarbeiten. Worauf willst du hinaus?«
Jerico beugt sich zu mir und sieht mir tief in die Augen. »Ich will darauf hinaus, dass du es zwischen Donnerstag und jetzt geschafft hast, damit umzugehen. Du bewältigst es. Du trinkst zwar, aber du bewältigst den Schmerz. Trauer ist notwendig, aber der Schmerz vergeht immer irgendwann. Das Schlimmste hast du bereits hinter dir, Benjamin. Und das hat nichts damit zu tun, dass du Elena aus deinem Leben verbannt hast.«
Ich blinzele ihn einfach nur an, während ich in meiner Trunkenheit versuche zu verstehen, was er mir mitteilen will.
Es kommt mir so vor, als könnte er sehen, dass ich ihm nicht folgen kann, deswegen vereinfacht er es für mein betrunkenes Trottelgehirn. »Gib etwas Gutes nicht aus den Händen, nur weil ein Risiko besteht.«
Ich starre ihn an, wohlwissend, dass er in einer Welt des gesunden Menschenverstandes und vernünftigen Denkens recht hat. Jeder kluge und nüchterne Mensch würde so denken.
Jerico erwartet von mir keine Antwort. Er klopft mir leicht auf die Schulter, nickt mir zu und geht.
Ich lasse den Blick über die verglasten Zimmer wandern, in dem der Dreier immer noch bei der Sache ist. Ich betrachte mir die Schönheit und Sinnlichkeit dieses Aktes. Ein Mann liegt auf dem Rücken, eine Frau reitet ihn und ein weiterer Mann steht hinter ihr, der sie in den Arsch fickt.
Zum Glück denke ich nicht mehr an Cassidy, April oder Elena … und das ist zumindest etwas.