KAPITEL 17

Benjamin

Die zwei Flaschen Schnaps, die sich in einer braunen Papiertüte auf meinem Beifahrersitz befinden, stoßen aneinander, als ich nach rechts in meine Straße einbiege. Als ich vor einer halben Stunde mein Haus verließ, wollte ich zum Supermarkt fahren, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Ich habe es bis zum Spirituosenladen geschafft, wo ich beschloss, mein Abendessen flüssig zu mir zu nehmen. Angesichts der Mengen an Alkohol, die ich gestern Abend getrunken habe, ist das überraschend.

Wie es aussieht, war ein richtiges Besäufnis genau das, was ich gebraucht hatte. Als ich aus dem Club heraus- und in ein Taxi hineinfiel, das mich nach Hause brachte, dachte ich weder an Cassidy noch an April, Elena oder irgendetwas anderes. In meinem Kopf herrschte eine stille, betrunkene Seligkeit.

Ich habe für morgen keine Operationen angesetzt, deswegen habe ich auch keinerlei Bedenken, mich heute Abend noch einmal zu besaufen. An diesem Punkt denke ich, dass es eher dazu gedacht ist, um die Gedanken an Elena fernzuhalten, da ich den Vatertag bereits erfolgreich hinter mich gebracht habe, aber was soll’s.

Zum Glück war Elena gestern nicht im Wicked Horse. Jerico hat mich mit seinem persönlichen Wissen über ihre Anwesenheit in seinem Sex-Club überrascht. Sie geht sonntags nie dorthin, weil sie diesen Tag mit ihrer Familie verbringt. Und warum sollte sie das auch nicht tun? Elena ist sehr familienorientiert. Noch ein Grund, warum wir nicht zusammengehören.

Ich bin mir nicht sicher, was ich getan hätte, wenn sie gestern Abend aufgetaucht wäre. Hätte ich danebengestanden und dabei zugesehen, wie sie es mit jemand anderem treibt? Ich hätte kein Recht gehabt, es ihr zu untersagen. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte ihr vermutlich eine Szene gemacht. Nicht nur wegen des Alkohols … sondern wegen eines Empfindens tief in mir, das mir sagt, sie ist immer noch mein. Ohne darüber nachzudenken, weiß ich, dass ich ausflippen würde, wenn ein anderer Mann sie ansehen, geschweige denn anfassen würde.

Leider ist das keine akzeptable Art, sich zu fühlen – und fair ist es ebenfalls nicht.

Das bedeutet, ich muss dem Club fernbleiben. Ihr bleiben immer noch zwei Wochen der dreißigtägigen Mitgliedschaft, die ich für sie erworben habe. Mein Plan sieht vor, dass ich bis zum Ablauf ihrer Mitgliedschaft nicht mehr in den Club gehe, um dann zu hoffen, dass ich ihr dort in Zukunft nie wieder begegnen werde.

Also, das stimmt nicht ganz. Jeder Teil von mir möchte ihr noch einmal begegnen. Noch einmal mit ihr zusammen sein. Noch einmal in ihr sein.

Wieder und immer wieder.

Aber der Preis ist viel zu hoch. Die Verletzlichkeit und die Art, wie sie mich vollkommen nackt auszieht, birgt ein zu großes Schmerzrisiko. Es ist bereits zu viel, mich an den Verlust zu erinnern, den ich erlitten habe, und ich will gar nicht erst über einen Verlust nachdenken, den ich erleiden könnte, sollte ich mich bedingungslos auf sie einlassen.

Diese Gedanken beschäftigen mich so sehr, dass ich kaum den Wagen bemerke, der in meiner Einfahrt steht, als ich mich langsam meinem Haus nähere. Es handelt sich um ein unauffälliges, graues Auto, das ich sofort als Elenas erkenne. Am Ende jedes Abends mit ihr im Club habe ich sie zu diesem Fahrzeug begleitet.

Einmal, als ich ihr einen Abschiedskuss gab, wurde es richtig heiß zwischen uns. Es endete damit, dass ich ihr den Rock hochschob, sie über die Motorhaube beugte und fest von hinten durchnahm. Zum Glück hat uns während unseres Intermezzos nur ein Paar gesehen. Die beiden waren Club-Mitglieder, deswegen war es auch überhaupt nicht peinlich gewesen, als sie an uns vorbeigingen, obwohl sie den Blick nicht von unseren zuckenden Körpern abwenden konnten.

Der Gedanke an diesen Abend – an dem ich mir ungestüm und sorgenfrei genommen habe, was ich wollte – lässt meinen Schwanz zucken. Leider wird er nur noch aufgeregter, als sie aus ihrem Wagen steigt. Rasch versteift er sich hinter dem Reißverschluss meiner Jeans und mein Atem wird unregelmäßig, als ich sie mir betrachte.

Ich fahre mein Auto neben ihres und betrachte sie schamlos von oben bis unten. In einer an den Oberschenkeln zerrissenen Jeans und einer schulterfreien weißen Bluse sieht sie unfassbar schön aus. Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und macht einen frischen, unschuldigen Eindruck.

Warum ist sie hier? Woher weiß sie überhaupt, wo ich wohne?

Und warum zum Teufel spüre ich ein Gefühl der überbordenden Freude in mir aufsteigen, wo ich mich doch ausdrücklich und ohne Ausflüchte dazu entschieden habe, dass sie einfach nicht gut für mich ist?

Entschlossen steige ich aus und gehe vorn um meinen Wagen herum, damit ich ihr offen gegenübertreten kann.

»Es tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche«, beeilt sie sich zu sagen, als wir voreinander stehen. Ihr Gesichtsausdruck ist misstrauisch und sogar ein wenig ängstlich.

Seltsamerweise verspüre ich keinerlei Wut darüber, dass sie eventuell eine Verrückte sein könnte, die mir nachstellt. Schließlich siegt jedoch meine Neugier. »Wie hast du herausgefunden, wo ich wohne?«

Ich meine, es ist sicherlich nicht schwierig. Grundsteuereintrag und so.

Deswegen bin ich auch überrascht, als sie entgegnet: »Dein Praxispartner Dr. Aimes. Ich bin heute zu deinem Büro gefahren, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe. Er hat mir verraten, wo du wohnst.«

Ich werde ihn umbringen. Nicht weil er sich in meine Privatangelegenheiten eingemischt hat, sondern weil er sie wieder in mein Leben gebracht hat. Weil er mich mit etwas in Versuchung führt, von dem ich bereits entschieden habe, dass es nicht gut für mich ist.

Elena verschränkt die Arme, reckt das Kinn in die Höhe und funkelt mich böse an. »Warum reagierst du nicht mehr auf meine Nachrichten?«

Ich bin auf ihre simple Frage nicht vorbereitet. Ich hatte erwartet, dass sie mich zunächst mit Anschuldigungen überhäufen würde, aber mir scheint, sie will einfach nur eine ehrliche Antwort.

»Es tut mir leid«, sage ich aufrichtig. »Ich hätte es beenden sollen.«

Flammen lodern aus ihren Augen und sie beißt die Zähne fest zusammen. »Erklären«, korrigiert sie mich mit eiskalter Stimme. »Du hättest dich erklären sollen.«

»Es ist kompliziert«, sage ich und mir ist schmerzhaft bewusst, wie lahm diese Entschuldigung klingen muss.

Elena breitet die Arme aus und sagt mit sarkastischem Unterton: »Ja, ich habe schon herausgefunden, dass du ein komplizierter Typ bist. Ich wusste es von Anfang an, Benjamin. Das ist keine Entschuldigung.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Selbstverständlich hat sie recht. Es gab keine gute Erklärung dafür, warum ich sie versetzt habe. Aber wenn ich dem Leben treu bleiben will, das ich seit dem Unfall führe, schulde ich ihr keine Erklärung.

Es ist vorbei. Sie hätte den Hinweis verstehen sollen.

Trotzdem habe ich das Gefühl, mich bei ihr entschuldigen zu müssen. »Es tut mir schrecklich leid. Aber es funktioniert einfach nicht und ich hoffe, du kannst das akzeptieren.«

Ich fange an, mich an ihr vorbeizuschieben, obwohl mir einfällt, dass sich mein wertvoller Schnaps noch auf dem Vordersitz befindet, aber ich muss mich sofort von ihr entfernen, und dieser Wunsch ist viel dringender als mein Bedürfnis danach, zu trinken anzufangen.

»Ich weiß, was deiner Frau und deiner Tochter zugestoßen ist«, sagt sie und ich erstarre.

Der Schmerz fährt durch mich hindurch und ich bin wie gelähmt. Meine Kehle bewegt sich, doch ich bringe keinen Laut heraus. Ich kann mich nicht einmal umdrehen, um sie anzusehen.

»Und es tut mir so unfassbar leid, Benjamin.« Ich höre nicht, wie sie sich bewegt, aber ich spüre sie direkt hinter mir, bevor sie mich mit ihrer weichen Hand am Rücken berührt. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, so etwas durchzumachen oder wie es sich anfühlt.«

Ich heiße den Wutschwall willkommen, den ihre Worte in mir hervorrufen, und drehe mich abrupt zu ihr um. »Und was dann? Dachtest du, es würde vielleicht meine Beweggründe erklären?«

Sie ist nicht im Geringsten eingeschüchtert. Sie hebt bloß ihr Kinn ein wenig höher. »Tut es das?«

Ein weiterer Wutschwall überkommt mich, dieses Mal glühend heiß und mit der Dringlichkeit, sie dazu zu bringen, mich zu verstehen. Blitzschnell strecke ich den Arm aus und packe sie am Handgelenk. Ich wende mich in Richtung meiner Haustür und zerre sie hinter mir her. »Komm mit!«

Ich schleife sie bis zu meinem Haus, ohne das Tempo zu verlangsamen, auch wenn sie laufen muss, um mit mir Schritt zu halten. Nachdem ich die Tür aufgeschlossen habe, ziehe ich sie hinter mir hinein und lasse sie erst los, als wir drinnen sind.

»Schau dich um«, befehle ich ihr und deute auf das Innere meines Hauses.

Sie lässt den Blick durch mein Wohnzimmer schweifen, wo sie sich die Finsternis und die abgedeckten Möbel betrachtet. Die kahlen Wände. Die leeren Regale. Die abgedunkelte Küche, auf deren Arbeitsfläche sich nichts befindet.

Ich lege ihr die Hand auf den Rücken und schiebe sie durch mein Haus und den Flur entlang, wo ich auf eine verschlossene Tür zeige. »Das ist das Zimmer meiner Tochter. Seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich diese Tür nicht mehr geöffnet.«

Sie gibt einen kleinen gequälten Laut von sich, aber ich ignoriere das und treibe sie weiter vorwärts. Ich zeige auf das große Schlafzimmer. »Dieses Zimmer habe ich mir mit April geteilt. Ich habe es einige Male betreten, hauptsächlich, um meine Sachen herauszuholen.«

Ich streiche mit der Hand ihren Rücken hinauf, packe sie im Nacken und drehe ihren Körper zum Gästezimmer. Nachdem ich die Tür geöffnet habe, deute ich ins Innere. »Das ist jetzt meine Existenz. Sie ist simpel. In diesen vier Wänden hänge ich meiner Vergangenheit nicht nach.«

Ich hoffe, meine Antwort macht alles deutlich. Sie sollte unmissverständlich sein. Ich bin ein Mann, der nichts Wichtiges im Leben besitzt. Etwas anderes als das, was ich derzeit habe, brauche ich nicht.

Ich drehe mich ein wenig, neige den Kopf und betrachte sie mir. Ihr Gesicht ist seltsam nichtssagend, als verstehe sie nichts von dem, was ich ihr soeben gezeigt habe.

Sie legt den Kopf schief. »Aber warum hast du den Kontakt zu mir abgebrochen? Nichts von dem, was du getan oder mir gezeigt hast, erklärt das. Wir hatten eine Verbindung, Benjamin. Ich weiß es. Und diese Verbindung zwischen uns ist trotz deiner Existenz hier entstanden.«

Meine Wut löst sich beinahe sofort in Luft auf und ich seufze laut und schwer. Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und gebe zu: »Ja, wir hatten tatsächlich eine Verbindung. Seit langer Zeit ist mir das nicht mehr passiert.«

»Warum?«, fordert sie. »Warum hast du einfach beschlossen, dass es vorbei ist?«

Ich zucke mit den Schultern, jedoch nicht, weil ich die Antwort nicht weiß. Ich will ihr einfach nicht meine Schwächen gestehen. »Weil es eben vorbei war. Es hätte sich nicht weiterentwickeln können.«

Ich weiß nicht, ob ich lachen soll, als Elena tatsächlich mit dem Fuß aufstampft, die Hände in die Hüften stemmt und knurrt: »Dummes Zeug! Du hast gesagt, du hängst der Vergangenheit nicht nach und trotzdem lebst du in diesem Geisterhaus.« Ich ertappe mich dabei, wie ich bei ihrem Wutausbruch ein unerwünschtes Lächeln unterdrücken muss, was mich nur noch ärgerlicher stimmt.

»Wage es ja nicht, mich zu verurteilen!«, fahre ich sie an.

»Das tue ich nicht«, entgegnet sie. »Ich bemitleide dich. Wenn du nur einen Schritt tun würdest, um deine Ängste hinter dir zu lassen, könntest du wieder glücklich sein.«

Jetzt kann mein Wutgebrüll durch nichts mehr gestoppt werden. »Ich will nicht wieder glücklich sein! Kapierst du es denn nicht? Ich verdiene es nicht. April und Cassidy haben nicht mehr die Möglichkeit dazu, warum sollte ich es dann sein?«

Elenas Gesicht wird ganz weich und ich hasse ihren mitleidigen Blick. »Mit ihrem Glück liegst du falsch. Sie sind beide im Himmel. Glücklich und friedlich. Vermutlich sind sie aber traurig über das, was du dir selbst antust.«

Ich schnaube verächtlich. »Was weißt du schon davon?«

Sie sieht ungläubig aus, als ergäbe meine Frage keinen Sinn.

»Ich gehe in die Kirche«, antwortet sie mit ruhigem Selbstbewusstsein. »Ich glaube an Gott und daran, dass wir alle nach unserem Tod belohnt werden.«

Ich mache eine abwertende Handbewegung. »Das ist eine Farce. Es gibt keinen Gott. Und wenn es ihn gibt, dann ist er nicht der Gott der Liebe, den ihr alle verehrt. Wenn er es wäre, hätte er meiner Familie das niemals angetan.«

»Das hätte er, wenn du eine andere Aufgabe hättest«, sagt sie leise, doch ihre Stimme klingt überzeugt. »Wenn die beiden nicht dein Endziel waren. Vielleicht hatten sie ihre Aufgabe erfüllt. Vielleicht verdienten sie das Licht und den Frieden und die Freude. Diese Welt ist nicht einfach, Benjamin, das weißt du sehr genau. April und Cassidy müssen nicht mehr leiden.«

Mir reicht es. Ich muss mir diesen Scheiß nicht länger anhören. Ich werde eiskalt und zeige den Flur entlang. »Du solltest jetzt gehen. Ich bin müde und muss morgen früh aufstehen.«

Sie versucht ein letztes Mal, eine Reaktion von mir zu bekommen. Ihre Stimme klingt verzweifelt. »Das war es dann also? Du wirst nicht mehr darüber reden?«

»Du musst jetzt gehen«, wiederhole ich.

Es bereitet mir echte Schmerzen, als ich die Trauer in ihren Augen erkenne und eine Art Reue darüber, mich jemals kennengelernt zu haben. In diesem Moment wird mir klar, dass ich ihr wirklich wehgetan habe, und das war nie meine Absicht.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich den Rest der Mitgliedschaft im Wicked Horse nutze?«, fragt sie und ich kann in diesem Anliegen nicht ein Fünkchen Vergeltung ihrerseits erkennen. Ich glaube, sie fragt mich nicht, um mich umzustimmen oder mich zu verletzen, sondern damit sie wieder nach vorn blicken und sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren kann.

Ich beiße die Zähne zusammen, doch es gelingt mir hervorzupressen: »Natürlich habe ich nichts dagegen. Amüsier dich.«

Sie hebt das Kinn, ein deutliches Zeichen, dass sie entschlossen ist, das Ende unserer Vereinbarung zu akzeptieren. »Das werde ich. Danke.«

So höflich. Und so endet die Sache mit uns.

Sie dreht sich um, geht meinen Flur entlang, durch die Küche, ins Wohnzimmer und aus meiner Haustür nach draußen.