KAPITEL 26

Elena

Als ich auf die Uhr sehe, bin ich zufrieden, dass ich meinem Zeitplan ein wenig voraus bin. Ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um meine Mutter zu einem Arzttermin zu begleiten. Sie leidet unter Knieschmerzen, die zunehmend schlimmer werden, und heute bekommt sie eine Spritze, mit der versucht wird, ihr Unbehagen zu lindern.

Normalerweise würde mein Vater mit ihr fahren, aber er ist auf Geschäftsreise in Los Angeles. Weil man sich auf keinen meiner Brüder verlassen kann, meldete ich mich freiwillig.

Ich liebe meine Brüder, das tue ich wirklich. Fünf starke, kluge und fähige Männer, die keinen blassen Schimmer haben, wie sie unseren Eltern helfen können, während sie immer älter werden. Zugegeben, meine Mutter hat immer geholfen und ist herbeigestürmt, um alles für ihre Jungs zu tun.

Vielleicht habe ich etwas dieser Charaktereigenschaft von ihr geerbt. Vielleicht neige ich dazu, zu viel für die Männer in meinem Leben zu tun, was sie wiederum co-abhängig von mir macht. Vielleicht macht mich das zu einem Magneten für eine gewisse Art von Männern.

Aber nein … so ist Benjamin überhaupt nicht. Trotz all der Traumata, die er erlitten hat, hat er sich bisher noch nicht an mir festgeklammert, damit ich mich seines Leides annehme. Ich habe gelernt, dass in ihm ein tiefer Quell der stillen Stärke liegt, mit der er es geschafft hat, sich aus der Dunkelheit zu befreien. Er ist wirklich der stärkste Mensch, den ich kenne. Das lässt ihn mir nur noch attraktiver erscheinen, trotz einiger Ängste, von denen er immer noch ein klein wenig zurückgehalten wird.

Ja, die Dinge entwickeln sich jetzt etwas schneller, trotzdem habe ich keine Angst davor. Benjamin ist einfach so anders – nicht nur anders als jeder andere Mann, sondern als jeder andere Mensch, den ich bisher kannte. Er ist der selbstkritischste Mensch, den ich jemals getroffen habe. Er kennt seine Schwächen und die Dinge, die das Schlechteste in ihm zum Vorschein bringen, und wenn er danach gefragt wird, geht er damit vollkommen offen um. Er fürchtet sich nie, zu seinen Fehlern oder Makeln zu stehen.

Wie dem auch sei, ich habe meine Mission erfüllt, meine Mom zum Arzt zu bringen. Ich bin mit ihr nach Hause gefahren, habe ihr Bein hoch gelagert und ihr ein verspätetes Mittagessen zubereitet. Ich habe ihr die Fernbedienung und eine Tasse Tee in Reichweite hinterlassen und bin wieder gegangen. Ich muss ein neues Medikament abholen, das der Orthopäde ihr verschrieben hat, danach will ich kurz einkaufen, um mir für heute Abend ein neues Kleid zuzulegen, denn zwischen mir und Benjamin entwickeln sich die Dinge noch ein klein wenig weiter.

Wir sind zum Abendessen bei Brandon und Colleen eingeladen. Das ist aus mehreren Gründen sehr wichtig. Zunächst einmal hat Benjamin seine Freundschaft mit seinem besten Freund gekittet. Vielleicht nicht vollständig, aber zum größten Teil. Ich weiß es, weil er mir nicht nur von dem Gespräch erzählt hat, in dem er um Verzeihung gebeten hat, sondern auch, weil er mir an jedem Abend, den wir zusammen beim Essen oder einem Getränk oder beim Fernsehen verbringen, eine lustige oder interessante Geschichte über Brandon erzählt.

Was ich sagen will … die beiden haben wieder eine stabile Freundschaft miteinander; das vergangene Jahr ist jetzt nur noch eine Erinnerung, die sie hoffentlich nicht weiter belasten wird.

Heute Abend ist ebenfalls wichtig, weil Benjamin und ich seinen Freundeskreis offiziell als »Paar« betreten. Die Einladung für mich und Benjamin war für ein Grillfest bei Brandon und Colleen. Ihre Kinder verbringen das Wochenende bei Colleens Eltern. Das Zusammensein wird ungezwungen sein, aber ich möchte gern ein hübsches Sommerkleid anziehen.

Ich möchte für Benjamin hübsch aussehen, damit er stolz ist, mich als seine Freundin zu haben. Nachdem ich mein neues Kleid gekauft habe, wird mir noch genügend Zeit bleiben, um nach Hause zu fahren, zu duschen, mich umzuziehen und dann nach Las Vegas zu fahren, um mich mit Benjamin bei ihm zu Hause zu treffen. Er hat mir angeboten, mich aus Henderson abzuholen, aber wir übernachten heute bei ihm, weil Jorie und ich morgen in Vegas Babysachen kaufen wollen und es unsinnig für ihn wäre, die ganze Strecke zu fahren, nur um mich abzuholen.

Ich halte an der Apotheke an, einem kleinen unabhängigen Laden. Sie befindet sich in dieser großartigen Ladenstraße, in der es viele interessante Geschäfte gibt, wie diesen einen, der nichts anderes verkauft als aromatisierte Olivenöle und Gewürze, oder ein anderes, in dem man teure, frisch gepresste Säfte jeglicher Art bekommt. Meine Eltern und ich versuchen, immer möglichst in kleineren Läden einzukaufen, weil mein Vater selbst ein kleines Unternehmen betreibt. Er ist Franchisenehmer eines Heim-Überwachungssystems.

MyRx ist einer dieser Eckläden und gehört einer jungen Frau namens Nicki Palino. Sie führt das Geschäft alleine, ohne einen einzigen weiteren Mitarbeiter. Selbstverständlich hat sie nur eingeschränkte Öffnungszeiten und macht auch nicht vor halb elf auf, macht das aber alles durch ihren exzellenten Kundenservice wieder wett. Ein Einkauf bei Nicki dauert in der Regel eine halbe Stunde, weil es so viel Spaß macht, sich mit ihr zu unterhalten.

Als ich die Glastür öffne, ertönt eine kleine Klingel. Ich finde es lustig, dass sie eine Türglocke hat, weil die gesamte Verkaufsfläche kaum größer als fünfzig Quadratmeter ist. Direkt rechts neben der Tür befindet sich ein langer Tresen und dahinter sind Regale aufgestellt, in denen die verschrei­bungspflichtigen Medikamente lagern.

Auf der linken Seite, vor einer langen, mit Regalbrettern ausgestatteten Wand, auf der sich die rezeptfreien Arzneimittel befinden, steht ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, an dem die Kunden Platz nehmen können, während sie warten.

Nicki steht an einem Arbeitstisch hinter dem Tresen, wo sie Tabletten abzählt, und hebt lächelnd den Kopf, als ich eintrete.

»Hey Elena«, begrüßt sie mich fröhlich. »Ich habe die Medikamente für Ihre Mutter schon vorbereitet.«

Das ist der Hauptgrund, warum ich so gern hierherkomme. Ich muss nie warten. Sie ist immer so gut organisiert.

»Lassen Sie mich nur gerade zu Ende zählen«, sagt sie und wendet sich wieder ihren Pillen zu, während ich mir einige Fläschchen mit ätherischem Öl betrachte, die auf einer Drehplatte auf dem Tresen angerichtet sind.

Ich höre, wie die Tür sich öffnet und die Klingel ertönt, und schaue über die Schulter, um den nächsten Kunden anzusehen, der den Laden betritt.

Stattdessen blicke ich direkt in den Lauf einer auf mein Gesicht gerichteten Pistole. Dahinter befindet sich ein maskierter Mann.

»Geh verdammt noch mal zurück!«, befiehlt er und ich stolpere nach hinten, um zu tun, was er von mir verlangt. Er fuchtelt mit der Pistole zu dem Durchgang am Tresen. »Stell dich zu ihr!«

Der Mann pfercht mich mit Niki hinter die Ladentheke und ich gehe direkt auf sie zu. Ihre Augen sind vor Angst geweitet und ihre Haut ist um etwa fünf Töne blasser geworden.

»Oh nein«, murmelt der Mann, greift sich mein T-Shirt und zieht mich ruckartig an sich. »Du bleibst in meiner Nähe.«

»Geben Sie ihm einfach das Geld«, weise ich Nicki mit ruhiger Stimme an. »Es wird alles gut werden.«

Der Mann lacht schrill und hysterisch und Nicki schüttelt den Kopf, als sie sagt: »Er will kein Geld.«

Vor Angst werde ich vollkommen taub, denn wenn er kein Geld will, dann wird er Nicki und mich wollen. Ich denke darüber nach zuzuschlagen, denn mir wurde beigebracht, mich zu wehren.

Stattdessen werde ich von dem Mann mit der Waffe näher an Nicki herangedrängt, während er mit seiner Pistole zu den Regalen voller Medikamente gestikuliert. »Du weißt, wie die Sache läuft … alle Oxys und Percs. Adderall. Vicodin. Und vergiss bloß nichts!«

Was zur Hölle? Er will Drogen?

Und dann trifft es mich wie der Schlag … der Straßenverkaufswert muss weitaus höher sein als das Bargeld aus der Registrierkasse.

Nicki greift langsam nach einer Plastiktüte und der Mann fängt an zu schreien: »Beeil dich, du dämliche Schlampe! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«

Der Mann legt den Arm um meinen Hals, um mich fester zu halten, und ich kann fühlen, wie sein gesamter Körper zittert. Ich frage mich, ob es bloß das Adrenalin ist oder ob er einen Teil der Medikamente für sich selbst braucht.

Nicki bewegt sich schneller, läuft zu einem der Regale. Sie fängt an, Schachteln in die Plastiktüte zu werfen.

»Beeilung!«, fordert der Mann. Nicki zögert und blickt uns über die Schulter hinweg an. Der Mann hebt die Pistole und drückt mir den Lauf an die Schläfe. »Mach ein bisschen Tempo oder ich puste ihr das Gehirn raus!«

Nicki dreht sich um und räumt die Medikamente schneller aus den Regalen. Als die Tüte halbvoll ist, dreht sie sich wieder um und reicht sie dem Mann. Dieser blickt rasch zur Tür, um zu sehen, ob irgendjemand in der Nähe ist, und wendet sich dann erneut an Nicki. Er lockert den Griff um meinen Hals und streckt die Hand nach der Beute aus.

Als er seine Finger darum geschlossen hat, fuchtelt er mit der Pistole herum und deutet auf den Boden. »Okay … alle beide auf die Knie, Gesichter weg von mir.«

Nicki geht zu dem Platz, auf den er zeigt, und fällt sofort auf die Knie. Mir gefällt die Vorstellung nicht, mich in eine Position zu begeben, in der er mich hinrichtungsmäßig erschießen kann. Vielleicht habe ich zu viele Folgen der Sopranos gesehen, aber nein. Das wird nicht passieren.

Ich bewege mich keinen Zentimeter.

»Auf die Knie, Schlampe!«, knurrt er.

»Nein«, antworte ich und recke das Kinn in die Höhe, doch meine Stimme zittert fürchterlich. »Du hast dein Zeug, jetzt verschwinde von hier.«

Es geht so schnell, dass ich keine Zeit habe, zu reagieren, auszuweichen oder mich zu ducken. Er holt mit der Hand aus, in der er die Waffe hält, und schlägt mir mit dem Handrücken direkt gegen die Schläfe. In meinen Augen explodieren Sterne. Einen Moment lang bin ich blind vor Schmerzen, aber dann sehe ich mein eigenes Blut, das über Nickis Arbeitstisch gespritzt ist, und falle zu Boden.

Ich liege mit dem Rücken zu ihm und warte auf die Kugel, die als Nächstes kommen muss.

Stattdessen ertönt jedoch die Türglocke. Mein Herz zieht sich zusammen für jede Person, die gerade dabei ist, diese Katastrophe zu betreten. Ich höre, wie der Mann flucht, Füße schlurfen und dann schreit jemand anderes.

Nicki ist an meiner Seite und dreht mich herum, damit sie einen Blick auf meinen Kopf werfen kann. »Er ist weg«, sagt sie. Jetzt befindet sich jemand anderes neben mir und kniet sich neben mich. Ein älterer Mann mit schneeweißem Haar und Igelfrisur. Er sieht aus wie ein ehemaliger Militär- oder Polizeibeamter und hat sein Telefon ans Ohr gepresst, während er mit dem Notruf spricht.

»Ja, ich bin soeben Zeuge eines Raubüberfalls bei MyRx in der Honey Camp Road geworden. Der Angreifer ist entwischt, aber hier ist eine verletzte Frau … sieht aus wie eine Kopfwunde.«

»Er hat sie mit der Pistole niedergeschlagen«, erklärt Nicki, dann steht sie auf und verschwindet. Wenige Momente später kommt sie mit einem Handtuch zurück, das sie mir an den blutenden Kopf drückt.

Ich versuche, mich aufzusetzen, aber der Mann hält mich sanft an der Schulter fest, damit ich liegen bleibe, während er fortfährt, mit der Notrufleitstelle zu sprechen.

»Sie haben eine ziemlich schlimme Platzwunde«, teilt Nicki mir mit zitternder Stimme mit. »Es tut mir so leid, Elena.«

Ich lächele schwach. »Warum? Es ist ja nicht so, als hätten Sie das geplant.«

Sie erwidert ängstlich mein Lächeln. »Ich kann einfach nicht glauben, dass es passiert ist. Ich meine … was zum Teufel stimmt nicht mit den Menschen?«

»Allerdings«, murmele ich und schließe kurz die Augen. Mein Kopf tut so weh … als wäre ich mit einer Pistole niedergeschlagen worden.

Während der nächsten zwanzig Minuten werden wir von Mitarbeitern der Polizei und Spurensicherung belagert. Als die Sanitäter kommen, will ich zwar nicht in den Krankenwagen einsteigen, werde aber von ihnen und Nicki davon überzeugt, dass es das Beste ist.

»Sie haben eine schlimme Kopfwunde und sollten wirklich ein Schädel-CT machen lassen, um sicherzugehen, dass Sie keine Gehirnblutungen erlitten haben«, sagt einer der Sanitäter zu mir.

Weil mir das etwas Angst einflößt, lenke ich ein.

Sie lagern mich auf einer Trage und ich fühle mich wie eine Idiotin. Ich war mir sicher, eigenständig gehen zu können, aber sie haben mich nicht gelassen. Sie verbinden meine Wunde, können mir jedoch keine Schmerzmittel verabreichen.

Wir können nicht fahren, bis sie meine Personalien aufgenommen haben. Ein weiterer Sanitäter bereitet eine Infusion vor. Während sie damit beschäftigt sind, sitzt Nicki zur Unterstützung mit mir im Krankenwagen.

Und dann wird mir plötzlich klar … ich werde weder ein hübsches Kleid kaufen noch mit Benjamin heute Abend zu einer Grillparty bei Brandon und Colleen gehen.

»Nicki … können Sie für mich eine SMS schreiben?«, frage ich.

»Sicher«, antwortet sie, dann durchsucht sie meine Handtasche nach meinem Telefon.

Ich denke nicht einmal daran, Benjamin anzurufen. Er ist bei der Arbeit und kümmert sich um seine Patienten. Abgesehen davon erwarte ich nicht, dass er abnimmt. Es ist auch kein Notfall, deswegen reicht eine SMS.

Ich sage ihr ganz genau, was sie in die Nachricht schreiben soll. Nachdem sie sie abgeschickt hat, fragt sie: »Möchten Sie, dass ich Ihre Mutter oder irgendjemand anderen anrufe?«

»Nein«, sage ich bleich. »Dad ist nicht in der Stadt und sie hat gerade erst eine Spritze ins Knie bekommen, deswegen kann sie sich nicht sehr gut bewegen. Ich werde sie nach dem Schädel-CT anrufen, damit ich ihr versichern kann, dass alles in Ordnung ist.«

»Ich soll wirklich niemanden anrufen?«, fragt sie noch einmal.

Ich ziehe Jorie in Betracht, entscheide mich dann aber dagegen. Sie würde sich ebenfalls Sorgen machen und ich bin mir ziemlich sicher, dass es nichts gibt, worum man sich Sorgen machen müsste. Trotz höllischer Kopfschmerzen geht es mir nicht schlecht. Ich habe nichts, was ich von solch einer Verletzung erwarten würde – kein Schwindelgefühl oder so etwas. Ich bin nicht einmal bewusstlos geworden.

»Ich warte einfach ab, bis sie mich untersucht haben, dann rufe ich einen meiner Brüder an«, sage ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, welchen. Sie werden alle mehr oder weniger in Panik ausbrechen.

Verdammt, vielleicht rufe ich mir auch einfach nur ein Taxi und fahre nach Hause. Schließlich bin ich eine unabhängige Frau.

Doch warum habe ich plötzlich das Gefühl, ich müsste weinen, und wünsche mir, dass Benjamin jetzt hier an meiner Seite wäre?