KAPITEL 28

Elena

»Möchtest du noch irgendetwas?«, fragt meine Mutter, als sie den Kopf ins Wohnzimmer steckt. Ich liege auf ihrem Sofa und zappe durch die Fernsehkanäle.

»Nein danke, Mamá«, sage ich, ohne sie anzusehen.

»Tee? Saft?«

Ich schenke ihr meine Aufmerksamkeit und ein beruhigendes Lächeln. »Mir geht es gut. Ehrlich.«

Der Blick, mit dem sie mich anschaut, ist genauso besorgt wie er war, als sie gestern in die Notaufnahme kam, nachdem Benjamin sie angerufen hatte. Aber sie ist eine Mutter. Sie wird niemals beruhigt sein.

Meine Mom bestand darauf, dass ich mit ihr nach Hause komme, anstatt zu mir zu fahren. Wenn ich ehrlich bin, war ich wegen dieser ganzen Sache doch immer noch ziemlich verängstigt, deswegen hat es auch nicht lange gedauert, mich zu überzeugen. Sie verfrachtete meinen jüngsten Bruder Luis von seinem Zimmer auf das Sofa, damit ich in seinem Bett schlafen konnte. Nachdem wir Kinder ausgezogen waren, sind unsere Eltern in ein kleineres Ranch-Haus mit nur drei Zimmern gezogen. Das große Schlafzimmer gehört meinen Eltern, Luis schläft momentan im Gästezimmer und in dem dritten Zimmer befindet sich Dads Arbeitszimmer.

Luis hat es nichts ausgemacht. Doch anstatt auf dem Sofa zu schlafen, übernachtete er lieber bei einem Freund. Er ist erst kürzlich wieder zu meinen Eltern gezogen, nachdem er sich im Streit von seiner Freundin getrennt hatte, mit der er ebenfalls zusammenwohnte. Ich denke, dass er sich schon bald eine eigene Wohnung suchen wird, da er gern seine Privatsphäre und Platz für sich hat. Sicherlich werden meine Eltern sich ebenfalls darüber freuen, denn auch wenn sie ihre sechs Kinder über alles lieben, begrüßen sie es, dass alle bereits aus dem Haus sind.

Es klopft leise an der Tür, dann wird sie geöffnet. Nur wenige Menschen kommen ohne Aufforderung herein, aber ich weiß, wer es ist, und für sie stand die Tür immer schon offen.

Ich drehe den Kopf langsam über die Armlehne des Sofas und lächele, als ich sehe, wie Jorie mit einer riesigen Vase voller Blumen das Zimmer betritt. Es überrascht mich nicht, dass sie sie sofort meiner Mutter in die Hand drückt und sagt: »Hier, die sind für dich, Mamá. Um dir eine Freude zu machen.«

Das ist typisch Jorie. Erstens nennt sie meine Mutter genau wie ich »Mamá«, aber sie ist nun mal praktisch bei uns aufgewachsen. Jories Mutter war während der Geburt gestorben und obwohl ihr Vater und älterer Bruder Micah sehr gut auf sie aufpassten, bekam sie ihre »Mutterliebe« bei uns.

Nachdem sie die Blumen bei der richtigen Person abgegeben hat, kommt Jorie zu mir und betrachtet mich kritisch von oben bis unten. Ich weiß, dass ich nicht allzu furchtbar aussehe, mal abgesehen von dem violetten Bluterguss und der dünnen bläulichen Naht an meiner Schläfe. Trotzdem bewertet sie meine Körpersprache, meinen Gesichtsausdruck und die allgemeine Stimmung, die von mir ausgeht. Meine beste Freundin kennt mich einfach so gut.

Während sie auf mich zukommt, murmelt sie: »Na ja … ich denke, du könntest weitaus schlimmer aussehen.«

Als ich grinse, kniet sie sich neben das Sofa und nimmt mich vorsichtig in die Arme.

»Ich kann nicht glauben, dass dir so etwas passiert ist«, flüstert sie und ich kann die Emotionen in ihrer Stimme hören. »Wenn du gestorben wärst, ich schwöre, das hätte ich dir niemals verziehen.«

»Das würde ich nie tun«, flüstere ich zurück und drücke sie fester.

Als sie sich von mir löst, betrachtet sie sich meine Schläfe aus der Nähe. »Dieser Mistkerl. Haben sie ihn geschnappt?«

Ich schüttele den Kopf. Allein schon diese kleine Bewegung tut weh. Im Krankenhaus haben sie mir einige Schmerzmittel mitgegeben, aber ich habe sie noch nicht genommen. Mir reicht das gute alte Paracetamol, um die Schmerzen etwas zu lindern, aber der Schmerz ist immer noch ziemlich hartnäckig. Mir wurde aber gesagt, dass ich mich in einigen Tagen besser fühlen würde.

Ich habe Jorie gestern am Telefon schon alle Einzelheiten erzählt, als ich wieder zu Hause war. Ich hatte bis dahin gewartet, damit sie nicht überstürzt ins Krankenhaus kommt. Als es spät genug war, konnte ich so tun, als sei ich für ihren Besuch zu müde. Ich wusste, dass sie mich sehen wollte, aber das war nicht notwendig gewesen. Ich würde schon in Ordnung kommen.

Körperlich auf jeden Fall.

Emotional könnte es eine andere Sache sein. Ich bin heute früh sehr niedergeschlagen aufgewacht und kann mir nicht erklären warum. Ich bin von Haus aus eine starke Frau. Eine, die während einer Krise nach vorn tritt. Die ruhig und gefasst bleibt. Ich bin diejenige, die Verantwortung übernimmt. Die sich um Menschen kümmert.

Und trotzdem … bei jeder noch so kleinen Sache könnte ich heute anfangen zu weinen.

Wie meine Mutter mich die ganze Zeit betüddelt.

Wie Luis heute ängstlich besorgt zweimal vorbeigekommen ist, um nach mir zu sehen.

Wie mein Vater einen früheren Flug nimmt, nur um sicherzugehen, dass seine einzige Tochter in Ordnung ist.

Wie Jorie abwechselnd eine Jagd auf meinen Angreifer organisieren und an meiner Stelle in Tränen ausbrechen will.

Und wegen Benjamin … ich möchte weinen, weil er sehr, sehr still geblieben ist, seit er gestern das Krankenhaus verlassen hat.

Ich bin nicht dumm. In dem Moment, in dem er die Notaufnahme betrat und mich anblickte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es hat ihn überhaupt nicht interessiert, was mir zugestoßen war. Ich konnte die Wut, den Frust und die Angst in ihm spüren. Die Art, wie er gelassen meinen Gesundheitszustand analysierte, ohne mir zu geben, was ich tatsächlich gebraucht hätte – emotionale Unterstützung –, hat mich sehr verletzt. Ich konnte erkennen, wie sehr es ihn mitnahm, als ich ihm den Vorfall schilderte, und dann … hat es erneut wehgetan, als er nicht schnell genug aus der Notaufnahme verschwinden konnte.

Sicher, ich ließ es zu, dass er die Verantwortung auf seine Arbeit schiebt, weil er zurück zu seinen Patienten musste, aber wir wussten beide, dass er hätte bleiben können, wenn er es gewollt hätte.

Er wollte es einfach nicht und ja, das ist der Hauptgrund dafür, warum ich so traurig bin.

Jorie schaut über die Schulter in die Küche, wo meine Mutter Hühner-Tortilla-Suppe für mich kocht. Meine Leibspeise.

Dann sieht sie mich an und zieht eine Augenbraue hoch. »Wo zum Teufel steckt Benjamin?«

Jorie weiß immer genau, was mich am meisten bedrückt.

Ich zucke mit den Schultern. »Er musste heute früh unerwartet Bereitschaftsdienst machen.«

Zumindest hat er mir das mitgeteilt – per SMS. Als er gestern das Krankenhaus verließ, gab er mir einen Kuss auf den Mund und sagte leise: »Je nachdem, wie viel Arbeit ich habe, komme ich dich morgen besuchen.«

Schon da wusste ich, dass er lügt.

Das wurde heute Morgen bestätigt, als ich seine Nachricht erhielt.

Zugegeben, in seiner SMS stellte er auch jede Menge Fragen, die sich darum drehten, wie es mir geht. Klinische, platte, emotionslose Fragen.

Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu beantworten, sondern schrieb lediglich, dass es mir gut gehe und er sich nicht um mich sorgen solle.

Seitdem sind mehr als vier Stunden vergangen und ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich verstehe, dass unsere Beziehung noch frisch ist, aber so, wie sich die Dinge zwischen uns in den letzten paar Wochen entwickelt haben – ganz besonders nach unserem Gespräch auf seinem Boot am vierten Juli –, habe ich weitaus mehr von ihm erwartet.

Und ich bin ebenfalls nicht blöd. Ich weiß, was hier vor sich geht.

Es ist nicht so, als könnte Benjamin in solch einer Situation keine Unterstützung und Fürsorge leisten. Ich weiß, dass er dazu fähig ist.

Es ist vielmehr so, dass diese ganze Sache ihn sehr erschreckt und wieder zurück in seinen ängstlichen Lebensstil katapultiert hat.

»Ich glaube, zwischen Benjamin und mir ist es vorbei«, sage ich leise und spreche meine Angst aus, die ich den ganzen Vormittag über analysiert habe. Wieder spüre ich, wie mir die Tränen in die Augen steigen.

Jorie steht auf und setzt sich neben mich aufs Sofa, von wo aus sie mich besorgt ansieht. »Warum sagst du das?«

»Weil er nicht hier ist«, murmele ich gereizt.

»Aber du hast gesagt, er hätte Bereitschaftsdienst«, antwortet sie mit gerunzelter Stirn.

Ich seufze, wohl wissend, dass es keinen Sinn ergibt, was ich sage. »Ja … ich weiß. Er hat Bereitschaftsdienst. Aber ich glaube, er hat ihn absichtlich übernommen, um mich nicht sehen zu müssen.«

»Okay, mal langsam … der Reihe nach. Fang von vorn an und erzähl mir, was los ist, denn wir haben uns erst vorgestern unterhalten und du hast mir gesagt, dass alles fantastisch ist. Du hast mir sogar erzählt, du seist dir ziemlich sicher, du würdest dich in ihn verlieben.«

Das stimmt. Ich hatte es meiner besten Freundin anvertraut, was bedeutete, dass es stimmt. Andernfalls hätte ich es nicht gesagt und ich empfinde immer noch so. Deswegen tut es auch so schrecklich weh, dass er jetzt nicht hier bei mir ist oder sich zumindest nicht etwas mehr anstrengt, sich um mich zu kümmern.

Ich habe Jorie nie irgendetwas über die Art und Weise erzählt, wie Benjamin während des vergangenen Jahres gelebt hat. Ich denke, sie hat einiges davon vermutet, aber die Dinge, die Benjamin mir persönlich gesagt hat, habe ich geheim gehalten und werde sie nicht preisgeben.

Aber ich tue mein Bestes, um die Hindernisse zu beschreiben, die wir überwinden mussten. »Benjamin, wie du dir vorstellen kannst, hatte sich nach dem Unfall vollkommen zurückgezogen.«

Jorie nickt. Das weiß sie.

»Das war nicht nur seine Art, den Schmerz des Verlustes zu begraben, sondern auch, um dafür Sorge zu tragen, dass es nicht noch einmal passiert.«

»Investiere nie Gefühle in jemanden, dann wirst du auch niemals verletzt werden, wenn dir diese Person genommen wird«, fasst sie zusammen.

»Ganz genau«, sage ich. »Und na ja … Benjamin und ich haben Gefühle füreinander entwickelt. Er hat riskiert, dass sich sein Herz öffnet, und ich glaube, was mir gestern passiert ist, hat ihm sehr deutlich ins Gedächtnis zurückgerufen, warum er sich so stark dagegen gesträubt hat, jegliche Emotionen zuzulassen.«

»Du glaubst, er macht mit dir Schluss, weil es ihm zu große Angst eingejagt hat?«, fragt sie mit ungläubigem Gesichtsausdruck.

»Er hat noch nicht mit mir Schluss gemacht«, entgegne ich mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. »Aber es wird passieren. Ich weiß es. Sogar als er mich gestern im Krankenhaus besucht hat, habe ich gespürt, wie er sich von mir abgewendet hat. Ich konnte die Trennung in seinen Augen sehen.«

»Das macht keinen Sinn«, murmelt sie.

»Das tut es, wenn du verstehst, dass er sich zu sehr um mich sorgt. Der gestrige Tag war für ihn eine Erinnerung daran, wie zerbrechlich das Leben sein kann, und er will diesen Schmerz nicht noch einmal durchmachen.«

Jorie zieht eine Grimasse. »Du klingst so verständnisvoll und tolerant. Ich bin sauer auf ihn.«

»Du liebst ihn nicht«, betone ich. »Ich kann ihn verstehen.«

»Aber es tut weh, oder?«, fragt sie vorsichtig.

»Es tut höllisch weh«, gestehe ich.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragt sie, denn sie kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich mich nicht zurücklehnen und über diese Dinge nachgrübeln werde.

»Kannst du mich nach Las Vegas fahren?«

Sie blinzelt überrascht. »Du meinst jetzt?«

»Jetzt«, bestätige ich mit einem kräftigen Kopfnicken, das sehr schmerzhaft ist. Ich richte mich auf dem Sofa auf und verdränge Jorie von meiner Seite. Sie steht auf, streckt mir eine Hand entgegen und ich halte mich daran fest. Sie zieht mich nach oben und ich verziehe bei dem stechenden Schmerz, der mir durch den Kopf schießt, das Gesicht.

Ich kann sehen, dass sie mich gern wieder nach unten drücken möchte, damit ich mich ausruhe, aber sie weiß ebenfalls, dass ich keine Ruhe geben werde, bis ich nicht herausgefunden habe, was Benjamin denkt und ob das mit uns tatsächlich vorbei ist.

Wenn er damit nicht umgehen kann, dann werde ich mich würdevoll zurückziehen. Ich will ihm nicht noch mehr Schmerzen bereiten. Er hat in seinem Leben schon mehr als genug davon erfahren müssen. Ich möchte die Sache zwischen uns ebenfalls nicht unnötig in die Länge ziehen. Ich will kein Drama.

Unter anderem haben Benjamin und ich uns so gut verstanden, weil wir beide offen mit unseren Wünschen und Bedürfnissen umgegangen sind.

Ich will, dass er mir die Wahrheit sagt. Wenn er nur ein halb so guter Mann ist wie der, für den ich ihn halte, dann wird er sie mir ins Gesicht sagen.