Die Fremde

Jenka hieb mit dem Dreschflegel auf das Getreide und lächelte. Die Spreu flog hoch. Sie arbeitete gerne neben ihrer Mutter in der Sonne, die angenehm auf sie herabschien.

Gleich würden sie das Korn zu Mehl mahlen und leckere Fladenbrote backen. Sie machte eine Pause, um ihre müden Muskeln zu lockern.

Ihre Grashütte befand sich ganz in der Nähe. Auf den großen Wiesen unterhalb des Dorfs grasten zufriedene Kühe. Über ihnen wölbte sich der blaue wolkenlose Himmel von Seraph.

Ihr Blick fiel auf den großen Totempfahl, der mitten im Dorf stand. Vor vielen Jahren war er aus dem Stamm eines uralten Baums geschlagen worden, dessen Wurzeln noch immer tief in der Erde ruhten. In den Pfahl waren zu Ehren der Viehherden des Dorfs Gesichter von Stieren und Kühen geschnitzt.

Eine sich bewegende Gestalt mit einem Umhang, die aus Richtung der Weiden kam, sprang Jenka ins Auge. Sie ging auf Minos zu, den besten Stier des Dorfs. Vor seinem Stall blieb sie stehen und lehnte sich mit ausgestreckter Hand über das Gatter.

„Mama, guck mal“, sagte Jenka und deutete mit dem Finger auf die merkwürdige Gestalt im Umhang. „Ein Fremder füttert Minos. Warum hat er keine Angst vor ihm?“

Minos war ein sanftes Tier, aber seine Größe schüchterte die meisten Menschen ein. Ihre Mutter streckte den Rücken durch und starrte den Fremden an.

„Ich weiß es nicht, Jenka“, sagte sie. „Aber du solltest hinübergehen. Erweise ihm die Gastfreundschaft unseres Landes und lade ihn zum Essen ein. Geh, ich hole den Kochtopf.“

Ihre Mutter ging zur Hütte und Jenka lief am Totempfahl vorbei zu den Ställen.

Als sie sich der Gestalt mit dem Umhang näherte, rann ihr plötzlich ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Die Gestalt beugte sich weit über den Zaun und hielt dem Stier in der Hand etwas zu fressen hin.

Jenka zögerte unsicher. Minos senkte den Kopf und schleckte das Futter aus der gekrümmten Hand.

„Sei gegrüßt“, sagte Jenka. „Meine Mutter fragt, ob du mit uns zu Mittag essen möchtest. Wir haben nicht viel, aber wenn du …“

Jenka verstummte. Die Gestalt hatte sich umgedreht und schob die Kapuze von ihrem Kopf. Ein Mädchen starrte sie hinterlistig an. Dunkle Locken rahmten sein Gesicht ein. Der Mund des Mädchens verzog sich zu einem gemeinen Grinsen.

„Ich bleibe nicht lange“, sagte das fremde Mädchen. „Bald ist es hier in der Gegend nämlich nicht mehr besonders sicher.“

Die fiese Stimme ließ Jenka zusammenzucken. Das Mädchen drehte sich um und lief kichernd davon. Etwas von dem Futter aus seiner Hand lag auf dem Boden verstreut.

Jenka kniete sich hin und betrachtete es genauer. Die Körner sahen aus wie Pinienkerne, aber sie schimmerten unwirklich blau.

„Magie?“, murmelte Jenka. Gerade wollte sie zurück zu ihrer Mutter laufen, als es heftig am Gatter rappelte. Sie sah ruckartig auf. Minos hatte sich mit seinem großen gehörnten Kopf gegen das Tor geworfen. Wollte er etwa noch mehr von dem seltsamen Futter?

Jenka blickte dem Stier in die Augen und begann vor Angst zu zittern. Sie waren genauso blau wie die Pinienkerne und glänzten bedrohlich.

„Ruhig, Minos“, sagte Jenka mit zittriger Stimme und wich zurück. „Das Mädchen ist weg.“

Dampf quoll aus Minos’ Nüstern. Erneut warf er sich kraftvoll gegen das Gatter. Er schnaubte wütend. Dieses Mal zerbrach der Zaun unter der Wucht wie mickrige Zweige. Jenka rannte stolpernd los.

„Minos! Alles ist gut!“, rief sie verängstigt. „Bitte, beruhige dich!“

Der Stier senkte den Kopf mit den Hörnern und begann mit den Vorderhufen die Erde aufzuwühlen. Er machte sich zum Angriff bereit.

Ein schreckliches Brüllen dröhnte aus seinem Maul. Es klang fast so, als hätte er Schmerzen. Jenka sah geschockt zu, wie der Körper des Stiers sich verwandelte. Er wurde größer, seine Flanken streckten sich, bis er hoch über ihr aufragte. Die Hörner wurden länger und dicker. Schwarze Krallen wuchsen aus seinen Hufen.

Jenka wollte nach ihrer Mutter rufen, aber aus ihrer Kehle drang kein Laut.

Der Schwanz des Stiers wurde lang und dick. Wie eine Peitsche wickelte er sich um einen Zaunpfosten und riss ihn aus der Erde. Mit entsetzlichem Gebrüll stürzte Minos los.

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Jenka warf sich zur Seite. Ihr Körper wurde durchgeschüttelt, als das wütende Biest an ihr vorbei ins Dorf raste. Benommen rappelte sie sich wieder auf. Die Hufe des Stiers hatten Staub aufgewirbelt und sie musste husten.

Minos bahnte sich seinen Weg durch das Dorf. Er riss Zäune um und die Kühe stürmten los, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Dorfbewohner rannten panisch hin und her und versuchten, dem tobenden Stier auszuweichen.

Jenka stieß einen verzweifelten Schrei aus, als das Biest auf ihre Hütte zuraste. „Mutter, schnell raus!“

Einen Augenblick später donnerte das Biest in die Hütte. Der Stier riss die Graswände ein und schleuderte mit seinem Kopf das Stroh vom Dach hoch in die Luft. Krachend stürzte die Hütte ein.

Jenka fiel auf die Knie und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus.

Hatte Minos ihre Mutter getötet?