Köpfchen gegen Kraft

Tom überschlug sich wieder und wieder. Seine Kleidung wurde von den Krallen zerfetzt. Die riesigen Hufe stampften um ihn herum. Mit all seiner Kraft hieb Tom den Rand seines Schilds gegen Minos’ Vorderbein. Das Biest schrie vor Schmerz auf und wich einen kurzen Augenblick zurück. Endlich konnte Tom außer Reichweite krabbeln.

Er sprang auf und hielt Schwert und Schild bereit. Er sah Elenna, die zu Silver rannte. Der Wolf lag nach Minos’ Attacke immer noch benommen da. Storm hatte sich schützend vor Jenka und ihre Mutter gestellt.

Minos kam rasant zum Stehen, drehte sich um und stieß mit den Hörnern nach Tom. Tom wehrte den Stoß mit seinem Schild ab und ließ gleichzeitig sein Schwert auf das Horn herabkrachen.

Funken stoben auf, als die Schwertklinge an der harten Hornoberfläche entlangschrappte.

„Ich will das Biest nicht töten“, dachte er. „Aber ich muss es besiegen, um den Fluch zu brechen.“

Schritt für Schritt drängte der Stier Tom rückwärts.

Dann brüllte Minos und wandte sich von Tom ab. Dampf quoll aus seinen Nüstern und blaues Licht flackerte in seinen zornerfüllten Augen. Er raste los und stürmte durch das Dorf, um noch mehr Hütten zu zerstören.

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Elenna kam zu Tom gerannt. Silver war wieder auf den Beinen und lief neben ihr. „Das Biest wird nicht aufhören, bis das komplette Dorf vernichtet ist“, sagte sie keuchend.

Tom nickte. „Und wenn ich ihn nicht besiege, wird er danach durch das ganze Reich toben!“ Entschlossenheit erfüllte Tom und verlieh ihm neue Kraft. Er rannte dem tobenden Stier nach. Tom sprang über die Trümmerstücke der Hütten und beschwor dabei die Magie von Tagus’ Hufeisen, das auf seinem Schild steckte. Es würde ihm genügend Geschwindigkeit verleihen, um Minos einzuholen.

„Minos!“, schrie Tom im Näherkommen. „Dreh dich um und kämpf mit mir, wenn du dich traust!“

Minos blieb stehen. Eine riesige graue Staubwolke hüllte ihn ein. Er wandte sich um und starrte Tom an. Einige Hütten hatte er bereits zertrümmert. Schwarzer Dampf quoll aus seinen Nüstern und seine Augen funkelten böse.

Tom schlug mit dem Schwert gegen den Schild, damit Minos’ Aufmerksamkeit weiter auf ihn gerichtet blieb.

„Bei einem Direktkampf werde ich ihn niemals besiegen“, dachte Tom.

Aber es gab noch eine Hoffnung. Tom erinnerte sich daran, wie die Leute in Errinel wilde Pferde zähmten. Sie sprangen auf ihre Rücken und ritten auf ihnen, bis die Tiere keine Kraft mehr hatten, sich zu wehren.

Würde das auch bei Minos funktionieren?

„Ich muss es versuchen“, murmelte Tom. „Das ist die einzige Möglichkeit, die ich habe. Ich muss ihn überraschen und austricksen.“

Tom tat so, als würde er plötzlich schlapp machen. Müde senkte er Schwert und Schild. Das Biest brüllte und griff an. In letzter Sekunde riss Tom den Schild hoch und hieb ihn dem Biest mit aller Kraft auf die Schnauze.

Benommen von dem plötzlichen Schlag machte Minos einen Schritt zurück, schnaubte und schüttelte den Kopf.

„Ich muss das Biest irgendwie unter meine Kontrolle bekommen“, dachte Tom. „Nur ein magischer Gegenstand kann mir dabei helfen.“

„Wirf mir das Ledergeschirr aus der Satteltasche rüber!“, rief er Elenna zu.

Elenna steckte die Hand in die Tasche.

Minos griff wieder an und dieses Mal erwischte er Tom. Der Junge wurde von seiner Stirn getroffen und nach hinten geschleudert. Er flog gegen Elenna und beide purzelten in einen Trümmerhaufen.

Elenna wollte wieder aufstehen, aber Tom hinderte sie daran.

„Nein“, wisperte er. „Bleib liegen. Er soll denken, dass er uns erledigt hat. Gib mir das Ledergeschirr.“

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Elenna reichte ihm das Ledergeschirr, dann blieb sie still zwischen den eingestürzten Graswänden liegen. Das Leder fühlte sich in Toms Händen weich und geschmeidig an. Ein grüner Juwel war darin eingearbeitet und einige Metallzacken verzierten es. Das magische Ledergeschirr brachte seine Haut zum Kribbeln.

Da hörte er plötzlich Jenka und ihre Mutter rufen. Sie kamen zu ihnen gerannt, um ihnen zu helfen.

Das würde seinen Plan zerstören!

Er richtete sich aus den Trümmern auf. „Nein!“, rief er ihnen zu. „Kommt nicht näher!“

Aber es war zu spät. Tom sah, wie Minos seinen schweren Kopf umschwenkte. Speichel tropfte aus seinem geöffneten Maul, aus dem Wutgebrüll drang. Das Biest wandte sich von Tom ab, kratzte mit dem Huf die Erde auf, senkte den Kopf und raste auf Jenka und ihre Mutter zu.

Jenkas Mutter packte Jenka am Arm und zerrte sie mit sich. Sie rannten schnell, aber Tom wusste, wie leicht das Biest sie einholen würde.

„Vielleicht klappt es doch noch mit meinem Plan“, dachte er.

Er sprang auf. „Minos! Ich lebe noch“, rief er. „Komm und kämpfe mit mir!“

Aber der Stier beachtete Toms Herausforderung nicht. Tom rief Storm zu sich. „Schnell!“

Tom sprang in den Sattel und galoppierte hinter dem Biest her. Er kam an dem abgehackten Schwanzstück vorbei, das zusammengekringelt auf dem Boden lag. Er ließ sich halb aus dem Sattel fallen und hob es auf.

„Schneller, Storm!“, drängte Tom. „Schneller!“

Der Stier raste durch eine eingestürzte Hütte, wirbelte Grasbüschel auf und zermalmte die Reste der Wände unter seinen Hufen. Tom erkannte, dass Minos für Jenka und ihre Mutter zu schnell war. Nur noch wenige Sekunden und er würde sie zu Tode trampeln.

Storm hatte ihn beinahe eingeholt. Tom drückte die Fersen in Storms Flanken und der Hengst beschleunigte noch mehr, sodass sie nun neben dem tobenden Stier ritten.

Tom wusste, dass er nur diese eine Chance hatte, sie zu retten. Er schwenkte den Schwanz wie ein Lasso über seinem Kopf, dann schleuderte er ihn nach vorne. Er hatte Glück. Das Schwanzende wickelte sich um eines von Minos’ Hörnern.

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„Storm, halt!“, rief Tom und zog heftig an den Zügeln. Der Hengst blieb augenblicklich stehen. Tom zerrte an dem Schwanz und riss Minos’ Kopf zur Seite. Jenka und ihre Mutter flüchteten immer noch. Kurz sahen sie ihn aus verängstigten Gesichtern an.

Das Biest stolperte und fiel krachend hin. Eine Staubwolke wirbelte auf. Storm sprang über den Stier hinweg und wich seinen ausschlagenden Hufen aus. „Rennt weiter!“, rief Tom Jenka und ihrer Mutter zu. „Versteckt euch irgendwo.“

Minos würde nicht lange liegen bleiben, das wusste Tom. Dennoch war er überrascht, wie schnell sich das Biest wieder aufrappelte. Wütend schüttelte der Stier seine Hörner.

Tom hatte Jenka und ihre Mutter vor dem Tod gerettet, aber jetzt war Minos noch wütender als zuvor. Das Biest griff an und Storm ging vor Panik auf die Hinterbeine. Tom wurde abgeworfen.

Keuchend und schutzlos lag Tom auf dem Boden. Minos’ Hörner näherten sich unerbittlich.