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Der Kaiser weilt gerade in Spa, als sein Volk ihn stürzt.
Es ist der Morgen des 9. November 1918, als die Untertanen Seiner Majestät endlich genug haben von Krieg, Hunger und Schmerz: Sie stürmen die Straßen.
Frieden soll sein!
Frieden muss sein!
Der Werkportier der AEG in der Ackerstraße sieht sie herankommen: graue Menschen mit grauen Jacken, Röcken und Mützen. Panisch stürzt er hinaus und versucht noch, die schweren Tore zu verriegeln, aber tausend graue Hände stoßen sie wieder auf.
»Auf die Straße! Mit uns, Brüder!«
Maschinen stoppen.
Einem Sog folgend zieht es die Arbeiter aus den Werkhallen hinaus, wo sie mit den Schwartzkopffwerklern aus der Zinnowitzer Straße und der Scheringstraße zusammenlaufen. Im Berliner Norden bäumt sich eine Welle auf und rollt der Voltastraße entgegen: noch ein AEG-Werk. Ein Backsteinbau mit blinden Fenstern, überzogen von Ruß, Staub und der Hoffnung auf ein Leben ohne Not, ohne Krieg.
Zehntausend sind es jetzt.
Sie drängen an den Mietskasernen vorbei, am Stettiner Bahnhof, hin zur Invalidenstraße. Plötzlich wehen rote Fahnen über den Köpfen der Entschlossenen, drängen Frauen und Kinder an die Spitze des Zuges und halten Plakate hoch: Brüder! Nicht schießen! Oder: Frieden! Auf einmal bleiben alle Straßenbahnen stehen. Die Lichter in den Geschäften erlöschen. Für einen Atemzug schauen sich die Aufständischen verwundert um, dann rumort es unter ihnen: Die Elektrizitätswerke wurden gestürmt.
Es ist wirklich Revolution!
So erreichen sie die Chausseestraße, Ecke Kesselstraße.
Vor ihnen: dreistöckige Kasernenblocks. Bedrohlich und stumm. Die Bogenfenster der Mannschaftsstuben mit Ketten gesichert, die Tore verschlossen. Das weiß-rote Wachhäuschen am Eingang verwaist. 1915 saß hier ein junger Soldat und schrieb in der Nacht zum Ostersonntag unmittelbar vor seiner Abfahrt an die Ostfront ein Lied, das ihn viele, viele Jahre später weltberühmt machen würde: »Lili Marleen«.
Jetzt starren zehntausend auf die Tore der Maikäferkaserne.
Wie niedlich das klingt: Maikäfer.
Aber es ist das Garde-Füsilier-Regiment.
Die Treusten der Treuen.
Sie sind die mit den bunten Regimentsuniformen: rote Ärmel- und gelbe Schulteraufschläge, weiße Litzen, braune Paspelierungen.
Maikäfer.
Gewehrläufe schieben sich vor.
Aus den Kellerschächten.
Den Schießscharten.
Und oben auf dem Dach: Maschinengewehre.
Jedes von ihnen feuert vierhundert Schuss in der Minute, und die Arbeiter stehen vor den Häuserwänden der anderen Straßenseite. Keine Möglichkeit zu fliehen.
Da tritt eine junge Frau vor, steht mit einem Mal zwischen Revolution und Armee. Sie trägt einen zerschlissenen Mantel, alte Schuhe und ist doch schön wie eine Königin. Mit strahlend blauen Augen blickt sie furchtlos hinauf in den Lauf eines Maschinengewehrs: Sie muss wahnsinnig sein.
Aber sie ist nicht wahnsinnig.
Nur verrückt.
Luise Beese.
Genannt Isi.
Dramatische Auftritte liegen ihr.
Sie atmet ein, sie atmet aus.
Und dann löst sich aus ihrer Brust ein langer, dunkler Schrei.
Laut, lauter, immer lauter.
Sie schreit, als ob sie die Mauern und Tore der Kaserne zum Einsturz bringen wollte.
Die Soldaten beugen sich über ihre Waffen und nehmen sie ins Visier.
Da sind noch mehr. Ein nicht enden wollender Strom treibt an diesem milden, grauen Samstag gegen das Brandenburger Tor, wälzt sich durch die sechs kannelierten Säulen hinein in den Prachtboulevard Unter den Linden, dem Schloss entgegen. Rechts und links der Häuserreihen drängen sich Menschentrauben in Fenstern, auf den Balkonen des Adlon klicken die Kameras der ausländischen Presse, während die Türen des Hotels verschlossen sind.
Der Monarchie letztes Geleit.
Dennoch geben sich einige Offiziere standhaft, stellen sich ebenso mutig wie sinnlos vor die Protestierenden: Man reißt ihnen die Schulterstücke ab. Die Kokarden. Zerbricht ihre Degen und nimmt ihnen ihre Waffen weg.
Es gibt keine Vorgesetzten.
Keine Befehlshaber.
Es gibt überhaupt kein Oben und Unten mehr, Reich und Arm, Adel und Proletariat. Alle sind gleich – endlich!
So zieht die Menge dann weiter – die Zerrissenen bleiben gedemütigt zurück als das, was sie sind: Uniformen ohne Funktion.
Ein feldgraues Auto mit dem kaiserlichen Adler braust vorbei, ein feldgrauer Lastwagen. Soldaten, Zivilisten, Frauen lassen rote Fahnen im Wind flattern. Zeitungshändler laufen mit Extrablättern durch die Straßen und schreien: »Der Kaiser hat abgedankt! Der Kronprinz verzichtet auf den Thron! Ebert zum Reichskanzler ernannt!«
Noch steht die Absperrung um das Schloss herum, aber im nächsten Moment drängen die Menschen daran vorbei, sickern schreiend und johlend ein, bis sich Schlossplatz und Lustgarten geradezu schwarz färben von ihren Mänteln und Hüten, bis kein freier Zentimeter mehr frei ist.
Das Schloss!
Ein barocker Prachtbau mit königlichem Sinn für Dramatik mitten auf die Spreeinsel gesetzt: fünf Tore, zwei Innenhöfe und eine sechzig Meter hohe Kuppel über dem Eosanderportal. Einst ritt von hier der Kaiser über die Linden hinaus in den Tiergarten. Zeigte sich in den schillerndsten Uniformen, gelangweilt von seinen Untertanen, die ihm dienernd auswichen. Jetzt gerade aber verzichtet Seine Majestät dankend auf den seinen Offizieren anempfohlenen Heldentod an der Front und flieht lieber von Belgien nach Holland ins Exil.
Seine Untertanen dagegen wollen das Schloss. Denn es ist nicht nur ein Schloss: Es ist das Schloss. Es gehört dem Kaiser. Dem Mann, der die ganze Welt ins Unglück gestürzt hat.
Dieses Schloss ist ein Symbol.
Keiner hier draußen hat es je von innen gesehen.
Seine Tore waren auch vorher schon verschlossen und verriegelt.
Doch dann tritt einer vor, der hineinwill: Harry Neumann.
Harry ist Conférencier, zumindest war er es, gerade ist er arbeitslos, jedenfalls kennt Harry sich gut aus mit Bühnen. Mit Publikum. Mit Schauen.
Und Harry macht sich bereit für die Schau seines Lebens.
Hinter ihm stehen fünf Matrosen.
Die Art Männer, die in Kiel die Revolution entzündet haben, um sie anschließend über das ganze Reich hinwegbrennen zu lassen.
Harry hämmert gegen eines der Portale – ein Guckloch öffnet sich: Er blickt in die nervösen Augen eines einfachen Soldaten.
»Öffnen!«, befiehlt Harry, der im Gegensatz zu den anderen nur einen einfachen Anzug anhat.
Der Soldat im Innern starrt ihn erschrocken an.
»Öffnen!«, wiederholt Neumann. »Wir sind hier, um das Schloss zu übernehmen!«
»D-das Schloss … übernehmen?«, stammelt der Soldat.
Sein Blick springt zwischen Harry und den Matrosen hin und her.
»Es ist ganz einfach: Entweder wir kommen rein und retten das Schloss. Oder …«, er macht eine Geste, die den zigtausend in seinem Rücken gilt. »Oder die kommen rein und plündern es! Und jetzt bringen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten!«
Das Guckloch schnappt zu.
Endlose Minuten vergehen.
Dann taucht wieder ein Gesicht auf.
Ein Offizier, so viel kann Harry sehen.
»Nur Sie! Und Ihre Leute!«, zischt er.
Das Portal öffnet sich ein Stück, einer nach dem anderen schlüpft hinein.
Kurz darauf stehen sie vor den Verteidigern des Schlosses, und Harry weiß sofort, dass er leichtes Spiel haben wird. Es ist unübersehbar: Dies sind Männer, die dem Stress des Krieges nicht mehr gewachsen sind, zermürbt von den Aufregungen, an Körper und Geist erkrankt. Sie versuchen, es zu verbergen, aber Harry hat ein gutes Auge für Menschen und erkennt seinen Vorteil sofort.
Er wendet sich dem ranghöchsten Offizier zu: »Herr General, ziehen Sie Ihre Leute zurück. Ich kann sonst nicht mehr für die Sicherheit des Schlosses garantieren!«
Harry geht nicht weiter darauf ein, wie er mit seinen fünf mitgebrachten Matrosen überhaupt irgendjemandes Sicherheit garantieren will, er behauptet einfach, dass er es kann. Und das mit einer Selbstsicherheit, die den ohnehin schon schwer angeschlagenen General in weitere Verzagtheit stürzt.
Er starrt Harry an.
Und der zurück.
Neben dem General steht dessen Frau, eine weinende Matrone, daneben ein Oberst und der Polizeimajor, immerhin stolzer Träger des Roten Adlerordens vierter Klasse. Dahinter etwa ein Dutzend weiterer Offiziere und Mannschaften. Und hinter denen noch eine ganze Reihe blau uniformierter Polizisten.
Alle warten auf die Antwort des Generals.
Er könnte Harry und die Matrosen im Eosanderhof einfach an die Wand stellen und erschießen lassen. So viel Autorität hat er noch, dass man diesem Befehl augenblicklich nachkäme. Und vielleicht denkt er gerade darüber nach, als Harry zu dessen Frau schaut und der General es ihm nachtut. Als sich ihre Blicke wieder treffen, nickt ihm Harry zu, als würde er sagen: Denken Sie doch auch mal an Ihre Frau!
Da trifft der General eine Entscheidung.
Er dreht sich zu seinen Leuten um, auch zu den Polizisten, und ruft: »Abrücken!«
Heimlich atmet Harry durch.
Die Soldaten und Polizisten werfen Waffen und Munition auf das Pflaster des Eosanderhofs, degradieren sich selbst, indem sie ihre Schulterstücke abschneiden, die jetzt nur noch bunte Stofffetzen sind. Dann verschwinden sie so schnell durch das Portal II, als hätte Sturm Laub durch eine Tür gejagt.
Nur einer bleibt vor Harry stehen.
In der Livree eines Dieners.
Er will nicht gehen.
Sein Leben war das Schloss, wenn er jetzt flieht, hat er keines mehr.
»Wer sind Sie denn?«, fragt Harry.
»Oberkastellan Joseph Digmann.«
»Ich nehme an, Sie kennen sich im Schloss aus?«, fragt Harry.
Er nickt.
Harry wendet sich den Matrosen zu: »Holt den KaLeu!«
Die Matrosen eilen davon, zurück zu dem Portal, durch das sie hineingelassen worden sind. Sie öffnen das Tor einen Spalt: Sechs weitere Matrosen schlüpfen hindurch und als Letzter ein großer, muskulöser Mann in der Uniform eines Kapitänleutnants.
Er folgt den Matrosen in den Hof.
Gibt Harry die Hand.
Sieht den Diener an, der vor ihm zurückschreckt: Der Mann hat nur ein halbes Gesicht. Die andere Hälfte ist auf ein hauchdünnes hautfarbenes Kupferblech gemalt: Auge, Augenbraue, Wangenknochen, ein Stück des Mundes. Kurz über dem Kinn biegt das Blech wieder ab zum rechten Ohr, hinter dem ein dünnes Lederbändchen hervorspringt. Um den Kopf des Mannes herum führt es zum oberen Teil der Bedeckung und hält das gemalte Gesicht fest. Digmann weiß nicht, was schlimmer ist: das gezeichnete Auge, das ihn mitleidlos anzustarren scheint, oder das echte, in dem nichts als Entschlossenheit schimmert. Aber eines weiß er doch – er wird diesem Mann gehorchen, was immer er auch will.
Dieser Mann ist niemand anderes als Artur.
Die Soldaten zielen immer noch auf Isi, aber sie zögern.
Isi spürt die Zweifel in den Maschinengewehrnestern und ballt ihre Fäuste, bis sie hart wie Eisen sind.
Wenn sie schießen, gibt es ein furchtbares Blutbad.
Sie schreit nicht mehr, versucht, sich auf nur einen von ihnen zu konzentrieren. Wo der Mensch zu denken beginnt, hört der Soldat auf, heißt es, darauf hofft sie jetzt. Sie hält den Blick dieses einen fest, zieht ihn zu sich herab, lässt ihn in sich hinein: Sieh mich an!
Sieh! Nur! Mich!
Und plötzlich hakt er den Patronengürtel aus der Führung und wirft ihn auf die Straße.
Direkt vor ihre Füße.
Sie lächelt erleichtert.
Jubel bricht aus.
Schießt aus tausend Kehlen empor und überspült die Mauern der Kaserne.
Zehntausend geraten in Bewegung, queren die Straße und stürmen die Maikäferburg. Da sind plötzlich Leitern, von denen niemand weiß, wo die so schnell herkommen. Schon klettern Mutige die Sprossen hinauf, schlagen die Fenster der Mannschaftsstuben ein. Ketten werden gelöst, von drinnen reichen Soldaten ihre Waffen nach draußen. Als Nächstes steigen Uniformierte aus ihren Quartieren herab und werden euphorisch von den Aufständischen begrüßt: »Kameraden! Brüder!«
Die Kasernentore öffnen sich – Menschen preschen hinein.
Isi taumelt vor Glück, vor Erleichterung, Demonstranten laufen an ihr vorbei in die Kaserne, rempeln, stoßen, johlen.
Auf dem Kasernenhof: Soldaten.
Lastautos.
Kriegsgerät.
Alle legen ihre Waffen nieder.
Es ist genug.
Doch dann brechen Schüsse los!
Mitten hinein in die Welle der Begeisterung.
Jemand hat vom nördlichen Tor in die Menge geschossen, man kann die Pulverwölkchen hinter einer Schießscharte noch sehen. Eine Gruppe springt auseinander, Revolutionäre fliehen ringförmig nach außen.
Drei bleiben liegen. Zwei verwundet, einen traf der Schuss ins Herz.
Er hat die zweifelhafte Ehre, der Erste zu sein, den die Revolution mit sich nimmt. Die beiden anderen werden ihm bald folgen.
Isi hat alles mit angesehen und spürt erneut den Hass auf das Militär.
Auf das Elend, das es ihnen gebracht hat.
Auf die Arroganz der Macht, die sie einst ins Gefängnis befördert und darüber hinaus das Leben von Millionen Unschuldigen zerstört hat. Und während noch alle aufgeregt um den Toten und die Schwerverletzten herumspringen, sie aufnehmen und in eine Stube tragen, geht sie zu einem der Lastautos, auf dessen Trittbrett der Fahrerseite ein junger Soldat steht und die Ereignisse aus einigermaßen sicherer Distanz beobachtet.
Sie stellt sich vor ihn und lächelt kokett.
Es ist dasselbe Lächeln, das schon Artur bezaubert hat und sowieso alle, denen es je geschenkt worden ist: Isi, die Unwiderstehliche. Die Jagdgöttin, die sie sein kann, wann immer sie will.
»Na, wen haben wir denn da?«, gurrt sie.
Der Soldat ist überrascht: Meint sie ihn? Er sieht sich um, aber neben ihm ist sonst keiner. Als er sich ihr wieder zuwendet, kann er sein Glück gar nicht fassen: Sie meint wirklich ihn! Diese charismatische Schöne, neben der UFA-Stern Henny Porten wie ein übergewichtiger Bauerntrampel aussieht.
Verlegen räuspert er sich, springt vom Trittbrett des Lastautos und rupft sich gleichzeitig das Krätzchen vom Kopf.
»Oh, äh, guten Tag … Fräulein …«
Isi mustert ihn amüsiert: Viel hätte nicht gefehlt und er hätte stotternd gefragt, was so ein hübsches Ding wie sie an einem gefährlichen Ort wie diesem zu suchen habe.
»Das ist ein Mulag, oder?«
Erstaunt zieht er die Augenbrauen hoch: »Stimmt.«
Wieder gurrt sie: »Was hat er denn geladen?«
»Nun … so, so … äh, Dinge …«
»So Dinge?«, fragt sie belustigt zurück.
Er läuft rot an.
»I-ich meinte: Waffen, Munition. So Dinge.«
»Gefährliche Dinge«, antwortet sie mit anzüglichem Unterton und reicht ihm ihre Hand: »Lotte.«
Er verbeugt sich galant: »Es ist mir eine Ehre, Fräulein Lotte.«
Mir nicht, denkt Isi, aber sie schenkt ihm einen weiteren tiefen Blick, bevor sie sagt: »Ich bin so einen auch schon gefahren!«
Sie meint den Mulag. Der Soldat schaut erst verblüfft und bricht dann in schallendes Gelächter aus: »Der war gut!«
Isis Augen funkeln so kalt, dass ihm die gute Laune schnell einfriert.
»Sie meinten das ernst?«
Isi wendet sich von ihm ab: »Hat mich gefreut, Soldat …«
Den Frost in ihrer Stimme hätte man mit einem Eisen abkratzen müssen.
Sie kommt keine zwei Meter weit, da berührt er sie schon an der Schulter und stammelt: »Verzeihen Sie mir, Fräulein Lotte. Ich wollte nicht … Ich meine, ich, ich …«
»Ich! Ich!«, äfft Isi. »Ich weiß nur, dass der Armee offensichtlich die Ehrenmänner ausgegangen sind.«
»Ich bitte um Vergebung!«
»Warum? Sie glauben mir ja doch nicht!«
»Es ist nur sehr ungewöhnlich: eine Frau auf einem Lkw. Dazu noch so eine schöne wie Sie, Fräulein Lotte! Wenn Sie mir gesagt hätten, Sie wären eine Fürstin, ich hätte es Ihnen sofort abgenommen.«
Isis Blick wird weich, was der Gefreite als gutes Zeichen wertet. Vielleicht verzeiht sie ihm ja noch, scheint er zu denken. Sie dagegen seufzt in Gedanken: Gott, die sind alle so blöd in diesem Alter! Sie, die im selben Alter ist.
Dann aber nickt sie und bestimmt munter: »Kommen Sie! Ich beweise es Ihnen!«
»Beweisen? Was denn?«
»Dass ich diesen Lkw fahren kann!«
Er sieht sich hektisch um, aber obwohl hier Hunderte herumlaufen, beachtet sie sonst keiner.
»Aber … das … das …«, stammelt er und fügt dann schnell an: »Ich glaube es Ihnen auch so, Fräulein Lotte!«
»Das tun Sie nicht, Soldat!«
Bevor er antworten kann, warnt sie ihn mit einer Geste, die er genau so deutet, wie sie gemeint ist: Er sollte jetzt lieber mal den Mund halten.
Dann geht sie zum Angriff über: »Werfen Sie den Motor an, oder muss ich das etwa selbst tun?«
Hilfe suchend hält er nach jemandem Ausschau, aber da ist keiner, und in seinem Nacken hört er nur ihren eisigen Spott: »Suchen Sie jemanden, Soldat? Vielleicht einen Vorgesetzten, der Ihnen sagt, dass der Krieg wirklich vorbei ist? Der Ihnen sagt, dass Sie einen Laster ganz alleine starten dürfen? Ohne jeden Befehl?«
Er wäre jetzt gerne woanders, das kann Isi spüren, aber sie hebt ihn wie ein Kätzchen am Genick hoch und pustet ihm den nächsten Satz förmlich ins Gesicht: »Und ich dachte doch tatsächlich, der hübsche junge Soldat dort ist besser als die anderen!«
Das hat richtig wehgetan, sie sieht es ihm an.
Dann aber, in seiner Männlichkeit gekränkt, strafft er sich, löst entschlossen die Andrehkurbel von seinem Lkw und wirft energisch den Motor an, während Isi hinter das Steuer klettert und einen Gang einlegt. Langsam kommt der Lkw ins Rollen, umsichtig steuert sie ihn an den vielen Zivilisten vorbei, durch das Tor, hinaus auf die Chausseestraße.
Dann gibt sie Gas.
Erst grinst der Soldat noch, dann aber geht ihm ein Licht auf, und er rennt mit wild wedelnden Armen panisch hinter dem Lastkraftwagen her.
Allein: Es ist zu spät.
Isi biegt kichernd vom Hof der Kaserne und bricht dann in schallendes Gelächter aus: Nicht zu fassen! Sie hat soeben der Armee einen Lkw mit Waffen und Munition gestohlen. Und weiß nicht einmal, warum.
Aber Isi braucht keinen Grund: Sie tut Dinge, weil sie es kann.
Weil sie verrückt ist.
Unwiderstehliche Jagdgöttin.
Sie biegt sich geradezu vor Lachen, als sie über die Chausseestraße einfach verschwindet.
Im Eosanderhof bittet Harry Oberkastellan Digmann, ihn zum Portal IV zu bringen, hinauf in den ersten Stock, während Artur und seine Männer in alle Richtungen davoneilen.
Harry dagegen folgt dem alten Diener.
Als sie in den großen Säulensaal eintreten, bekommt er ein Gefühl dafür, wie verschwenderisch die Hohenzollern waren: Seidentapeten, eine perlfarbene Kassettendecke, ein gewaltiger Kristallkandelaber in der Mitte des Raumes. Die Säulenschäfte an den Wänden sind aus ockerfarbenem Stuckmarmor, kunstvoll verzierte Edelhölzer wie Nussbaum, Palisander, Zeder oder Rosenholz dienen als Fußboden.
Und das ist nur ein Zimmer von Hunderten.
Harry sieht Statuen aus Marmor, Bilder und Reliefs, die Alexander den Großen zeigen, und ahnt, in welchen Sphären sich der Kaiser selbst wähnte. Digmann und er gehen dem Balkonfenster entgegen, als Harry unverhofft eine herrliche goldfarbene Decke entdeckt, mit dem deutschen Adler obenauf. Interessanter jedoch ist ihre Rückseite, denn die ist mit rotem Samt ausgeschlagen. Einer Eingebung folgend nimmt er sie und legt sie sich über die Schultern, die rote Seite nach außen.
Digmann protestiert: »Bitte nicht anfassen!«
Harry schüttelt den Kopf und herrscht: »Aufmachen!«
Er steht vor den Flügeltüren des Balkons.
Digmann schiebt die Vorhänge zur Seite und öffnet die Türen.
Von hier aus sieht Harry nur die Brüstung, aber dahinter hört er das geradezu elektrische Brummen und Summen der vielen Tausend, die dort warten.
Ein paar Schritte nur.
Dann steht er dort, wo der Kaiser einst stand.
Dort, wo nur Kaiser stehen dürfen!
Ein paar Schritte bloß, dann wird er, Harry Neumann, arbeitsloser Conférencier, erreicht haben, was niemand vor ihm erreicht hat: Er wird Kaiser sein anstelle des Kaisers.
Währenddessen eilen Arturs Männer durch die Räume.
In der Kürze der Zeit ist dieses riesige Schloss mit seinen insgesamt drei Stockwerken gar nicht zu durchmessen, daher halten sie sich an das, was Artur ausgeheckt hat, denn wenn es etwas gibt, das Artur besser kann als jeder andere, dann Entwicklungen zu deuten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Deswegen ist dieser Coup auch nicht das Wagnis eines Hasardeurs, sondern allein kühle Berechnung desjenigen, der nur verknüpft, was jedem bekannt ist. Denn keine Information, die dieses Husarenstück überhaupt möglich macht, ist geheim.
Alles liegt vor den Augen aller.
Artur hat die Puzzlestücke nur gesehen und zusammengesetzt.
Am 4. Oktober bittet das Deutsche Reich seine Gegner um einen Waffenstillstand. Der Schock ist groß, denn nachdem der Osten im Gewaltfrieden von Brest-Litowsk zur großen Zufriedenheit des Oberkommandos erobert worden ist, richtet sich der Blick nach Westen, wo kein Feind je seinen Fuß auf deutschen Boden setzen konnte. Und während Kaiser und Generäle sich noch von Ludendorff und Hindenburg betrogen fühlen und gleichsam denken, dass die beiden doch immer ehrlich waren, weiß Artur längst, dass der Krieg verloren ist.
Dann, als der Kaiser Ende Oktober nach Spa abreist, ahnt Artur, dass er nicht mehr nach Berlin zurückkehren wird. Nicht nur, weil die Fahrt überstürzt wirkt, sondern auch, weil er wie alle, die den Kaiser in den letzten Jahrzehnten beobachten durften, genau weiß, was für ein unfähiges, feiges Großmaul er ist.
Schließlich meutern die Matrosen in Kiel.
Ein unerhörter Vorgang in einer Armee, die den Kadavergehorsam praktisch erfunden hat. Plötzlich steht das Reich in Flammen. Die Befehlshaber sind fassungslos darüber, dass niemand mehr gehorchen will, und sehen erstmals, wie viel Macht sie über Menschen haben, wenn die sich nichts mehr sagen lassen: nämlich gar keine.
Der Kaiser ist also fort.
Das Militär gebrochen.
Und das Schloss verwaist.
Das sind die Fakten – das ist, was jedermann weiß.
Artur fertigt daraus einen Plan.
Er stiehlt die Uniform, die er gerade trägt, und überzeugt ein gutes Dutzend Männer, an ihn zu glauben, darunter auch Harry Neumann, den er kennenlernt, als der sich in einer Diele seinen Frust mit vielen Mollen runterspült.
Artur, der geborene Anführer, versammelt alle hinter sich, und als dann nach einigen Tagen des Schwelens, des Pulsierens, des Aufkochens auch in der Reichshauptstadt die Revolution endlich ausbricht, ist er längst bereit.
Gerade marschiert er mit einigen seiner Männer über das schlütersche Treppenhaus hinauf in den zweiten Stock, und genau wie Harry klappt ihm der Kiefer runter angesichts des Reichtums der Hohenzollern. Säle wie ein goldenes oder silbernes Barockgewitter, an Pracht, Glanz und Detailreichtum explosiver und schillernder als Versailles: Königszimmer, Drap-d’Or-Kammer, Rittersaal, Rote-Samt-Kammer, Schwarze-Adler-Kammer, Kapitelsaal, Königin-Zimmer und als krönender Abschluss der Weiße Saal, dreißig Meter lang, fünfzehn breit und dreizehn hoch.
Und in jedem Zimmer, jeder Kammer, jedem Saal gibt Artur ein kurzes Zeichen, und einer derer, die ihn begleiten, fällt von der Gruppe ab und beginnt, Silber und Gold in einen großen Sack zu packen. Alles, was sich leicht transportieren lässt. Und davon gibt es genug, auch wenn das meiste Gold an den wulstigen Verzierungen der Wände und Decken klebt.
Über die Kapelle in der Schlosskuppel und die Weiße-Saal-Treppe eilt er hinab ins Erdgeschoss und trifft dort die, die in den Königskammern und in der kaiserlichen Wohnung waren. Alle haben fette Beute gemacht, einer zeigt ihm Korrespondenzstücke des Kaisers und fragt, ob sie die nicht wegwerfen sollten, doch Artur schüttelt nur den Kopf. »So was kaufen Ausländer. Briefe vom Kaiser. Dafür gibt es einen Markt.«
Ein anderer läuft ihm entgegen und ruft: »Wir brauchen einen Lastkraftwagen!«
Er war in der Küche, und was er berichtet, macht fassungslos: achthundert Säcke ukrainisches Mehl, ungezählte Säcke mit Kaffee, Tee, Konserven, Tausende Eier, Töpfe mit Schmalz und würzigen Tunken, Zuckerhüte, Hülsenfrüchte, Schokolade, Zigarren, Zigaretten. Und noch unzählige weitere Kisten, bauchige Krüge, Töpfe. Alles bis zum Rand gefüllt.
Artur nickt: Draußen stehen Lkws. Er wird einen kraft seiner gestohlenen Uniform requirieren.
Aber dann hören er und seine Männer, wie es laut gegen das Portal II hämmert. Und bevor sie es verhindern können, öffnet ein übrig gebliebener Diener. Schon aus der Entfernung kann Artur sehen, wer dort steht: Karl Liebknecht.
Artur weiß, dass man ihm, dem ehemaligen Reichstagsabgeordneten, vier Jahre Zuchthaus aufgebrummt hat, weil er gegen den Krieg gewesen ist, gegen den Militarismus, weil er immer von einer brüderlichen und gerechten Gesellschaft unter Gleichen geträumt hat. Zusammen mit Rosa Luxemburg führt er die Spartakusgruppe an, benannt nach dem berühmten Sklaven, der sich einst gegen die Weltmacht Rom auflehnte. An diesem 9. November sehen sich er und seine Mitstreiter endlich am Ziel ihrer Träume.
Aber dazu braucht er dieses Schloss.
Artur ahnt, was er vorhat: Portal IV. Genau da, wo der Kaiser einst die Welt in den Abgrund gestürzt hat, wird Liebknecht über ihn triumphieren und die sozialistische Republik ausrufen wollen.
Und er ist nicht allein. Hinter ihm stehen revolutionäre Obleute, doch was viel entscheidender ist: Sie sind alle bewaffnet.
Einer von Arturs Männern ruft: »Lass uns abhauen!«
»Nein!«, bestimmt Artur. »Nicht ohne die Lebensmittel!«
Er weist seine Männer an, sich zu verstecken und bereitzuhalten.
Und eilt selbst über das Eosanderportal nach draußen.
Harry tritt auf den Balkon und blickt hinab. Der Lustgarten ist schwarz vor Menschen. Da sieht einer auf und schreit, und gleich darauf gerät die Menge in Bewegung.
Harry tut das einzig Richtige. Er zieht die Decke von seinen Schultern und hebt sie vor sich: rot.
Die rote Flagge!
Was dann passiert, lässt seine Sinne förmlich schwinden: Ein einziger gewaltiger Schrei eruptiert, ein Jubel, wie ihn, und da ist sich Harry sicher, kein Mensch je erleben durfte.
Zehntausend lassen die Luft beben.
Die Mauern zittern.
Die Fenster klirren.
Ein flirrender, überschäumender, unbeschreiblicher Moment der Begeisterung.
Harry steht da und weint mit einem Mal Tränen der Rührung, denn er weiß, dass er gerade Geschichte schreibt: Er hat das Schloss eingenommen.
Die Monarchie gestürzt.
Den Kaiser zum Teufel gejagt.
Er ganz allein.
Er legt die rote Decke über die Brüstung und reißt die Fäuste in den Himmel: noch mehr Jubel! Oh, wie er ihre Liebe spüren kann! Er fühlt sie in jeder Faser seines Seins! Es ist, als hätte Gott seinen Finger gegen ein teures Weinglas geschnippt, so sehr summt das Glück in seinem Herzen.
Hier steht er: auf der größten Bühne der Welt!
Was für ein Publikum!
Hinter ihm räuspert sich jemand, und Harry denkt, dass nur einer, der dreißig Jahre für den Kaiser gearbeitet hat, sich so räuspern kann, dass man ihn selbst im Toben einer Revolution noch hört. Er dreht sich um, und zu seiner Überraschung sieht er einen anderen livrierten Diener vor sich stehen als zuletzt.
»W-wer sind Sie denn?«
»Schlossdiener Hildebrand. Königlicher Frotteur.«
Harry starrt ihn an: Bilder rasen durch seinen Kopf, die diesen einzigartigen Moment vollkommen ruinieren.
Hildebrand deutet seinen Gesichtsausdruck und fügt ruhig an: »Bodenpolierer, mein Herr.«
Harry nickt und grinst.
In seinem Rücken hört er immer noch die tosende Menge – wie gerne würde er diesen Augenblick noch auskosten! Doch Hildebrand sagt ohne weitere Regung: »Herr Liebknecht ist im Haus. Er ist vermutlich auf dem Weg hierhin.«
Harry blickt ihn unverwandt an.
Dann flucht er wütend: »Verdammte Kommunisten!«
Und eilt in Richtung Tür.
Von draußen hört er laute Stimmen.
Nicht seine Leute.
Harry schluckt und denkt: Das ist nicht gut.
Arturs Männer sehen Liebknecht und knapp dreißig seiner Begleiter davoneilen und tauchen aus ihren Verstecken wieder auf, jeder mindestens einen großen Sack über der Schulter. Sie legen ihre Beute in die Hofmitte, zwei eilen zum Eosanderportal, der Rest zurück ins Schloss, zur Küche.
Artur ist bereits da. Mit dem Lastkraftwagen.
Er musste ihn nicht einmal requirieren. Verlassen stand er an der nahen Schlossbrücke, wohl ursprünglich, um die Zufahrt zu blockieren, bevor die von Tausenden überrannt worden war.
Langsam fährt er vor, während die beiden anderen die Torflügel wieder schließen und eine Menge Neugierige aussperren.
Er hält an und beginnt, mit den beiden anderen die Säcke aufzuladen, als die Ersten eilig mit Mehl und schweren Krügen zurückkommen.
»Was ist mit Harry?«, fragt einer.
»Ich habe so eine Ahnung«, antwortet Artur.
Harry starrt auf die Tür vor sich und hört das Getrappel von vielen Füßen.
Hektisch blickt er sich um, hastet dann nach links, zwei weiteren Ausgängen entgegen, schlüpft gerade dann hinaus, als hinter ihm die Haupttür auffliegt und Liebknecht am Diener vorbei in den Raum drängelt.
Harry steht im roten Thronzimmer, irritiert von der Intensität der Farben, während hinter ihm die Tür zum Säulensaal im Durchzug zuschlägt. Einen Moment sieht er noch Liebknechts erstauntes Gesicht, dann nimmt er die Beine in die Hand, stürzt durch die nächste Tür in den Bunten Gang, einen farbenfrohen schmalen Flur mit Tonnengewölbe, und entscheidet sich für links.
Rechts wäre richtig gewesen.
Hinter sich hört er, wie Liebknecht seine Leute anschreit, ihm nachzueilen. Ausgerechnet Liebknecht, dessen Traum er mit dem Hissen der roten Flagge auf dem Balkon ruiniert hat. So etwas kann auch die sanfteste Natur auf ganz üble Ideen bringen.
Harry springt die Treppen hinab und reißt die nächste Tür auf: Es ist der Schlüterhof. Fluchend blickt er sich um, während er oben auf der Treppe schon wieder das Getrappel von Füßen hört. Diesmal jedoch im Laufschritt. Vor ihm eine weitere Tür – zu der stürzt er: die Treppen wieder hinauf.
Ein doppelflügeliges Portal.
Dann steht er im Alabastersaal, und langsam beginnt er, den Prunk und Protz des Kaisers aufrichtig zu hassen. Der verdammte Saal ist etwa fünfundzwanzig Meter lang, sechzehn breit und vierunddreißig Meter hoch. Es gibt jede Menge Stuck und Marmor, aber dem Namen zum Trotz keinen Alabaster. Der Saal diente offenbar mal als Theater, jetzt eher als Möbel- und Bilderlager. So wird der Sprint zur nächsten Tür schräg gegenüber zu einem einzigen Hindernislauf, bei dem er beiläufig wahrnimmt, wie ausgesucht schlecht der Geschmack der Hohenzollern ist: ein Ölschinken neben dem nächsten und die Möbel wuchtige Trümmer aus edelsten Hölzern.
Hinter ihm hört er wütende Stimmen, die ihn auffordern, stehen zu bleiben.
Einer gibt einen Warnschuss ab.
Endlich erreicht er den Ausgang.
Wieder geht es die Treppen runter, dann endlich steht er im Eosanderhof.
Artur und seine Männer laden gerade die letzten Säcke auf, als er ihnen schon von Weitem zuruft: »LOS! LOS! LOS!«
Artur springt in den Lkw und startet durch, während Harry hinten auf die Ladefläche hechtet und alle anderen aus dem Eosanderportal stürmen.
Die Torflügel schwingen auf – Artur fährt hindurch und ruft den draußen Wartenden zu, dass das Schloss jetzt ihnen gehöre.
»Geht rein und holt euch euren Teil!«
Dann biegt er ab zur Schlossbrücke.
Innerhalb von Sekunden strömen die Menschen in den großen Hof und spülen die Spartakusleute zurück ins Schloss.