48

Diesmal träumten die Menschen nicht, wenn sich auch viele, wenige Stunden nach dem Putsch, unter einem bizarren Albdruck wähnten: Reichskriegsflaggen an den Häusern, junge Männer mit Monokel und gefletschten Zähnen, die flatternd roten Rockschöße der Offiziere im Wind. Dazu die absurde Blasmusik allenthalben. Ein neuer Kanzler, den zwar niemand kannte, der aber eine ganze Reihe ebenfalls unbekannter Männer zu Ministern ernannte. Fortan sollten sie mit ihm die Geschicke der Nation lenken. Ein absonderlicher Zirkus, gespickt mit größenwahnsinnigen Protagonisten, die sich endlich am Ziel ihrer Träume glaubten. Fast hätte man erwartet, dass der Kaiser in einer seiner Paradeuniformen über die Linden aus dem Exil heimritt, das Kinn hocherhoben, die hochgewichsten Bartenden zitternd vor Rachegelüsten gegenüber seinem abtrünnigen Volk.

Dann aber machte es Knack!, und alle Maschinen stoppten: Die Elektrizitätswerke schalteten sich ab. Die Wasserwerke. Arbeiter traten in den Generalstreik, Geschäfte schlossen, Straßen- und Hochbahnen standen.

Nichts ging mehr.

Exemplarisch für die wahnwitzigen Zustände waren vielleicht die Szenen, die sich auf dem Potsdamer Platz abspielten. Weil kein Benzin mehr verkauft wurde, blieben die Automobile fern, stattdessen wurden Fuhrwerke zu Sammeltaxis umgebaut, und Pferde zogen die Straßenbahnen. Anstelle des Räderkreischens auf Stahlschienen, des trötenden Gehupes und der trillernden Polizeipfeifen hörte man nur noch das Geklapper der Hufe und den Spott der Berliner, die dicht gedrängt beieinandersaßen, um sich zu ihren Zielen kutschieren zu lassen. Für einen Moment schien die Stadt den Menschen dreißig Jahre in die Vergangenheit versetzt, in die Zeit, als Bismarck ging und Wilhelm aufstieg. Die Welt drehte sich plötzlich langsamer und mit ihr alle, die sie bevölkerten.

Nach fünf Tagen war der Spuk vorbei und hätte als lächerliche Groteske in die Geschichte eingehen können, mit einem Reichskanzler Kapp, dessen reaktionärer Ehrgeiz diametral zu seinen politischen Fähigkeiten stand. Aber der Putsch hatte in der Folge noch viel ernstere Konsequenzen als die etwa hundert Toten, die es während der Ausnahmetage in Berlin gegeben hatte. Zu ihnen wurde übrigens auch Silber-Kurt gezählt, den man am dritten Tag des Putsches aus der Spree gezogen hatte. Kino-Paule machte den Männern von Vergissmeinnicht weis, dass Kurt und er in den Hinterhalt eines Freikorps geraten waren und die Bande dann leider kurzen Prozess mit dem Chef gemacht hatte. Das klang für alle plausibel, und so wurde Kino-Paule der neue Anführer von Vergissmeinnicht. Seine erste Amtshandlung war ein Friedensschluss mit Artur mit dem Ziel einer für beide Seiten lohnenden Koexistenz.

Unterdes hatte der Kapp-Putsch in Sachsen, Thüringen und vor allem im Ruhrgebiet besonders entsetzliche Konsequenzen. Wütend über den erneuten Versuch der Rechten, die Macht an sich zu reißen, und immer noch enttäuscht über die fehlgeschlagene Räterepublik der Revolutionäre, formierte sich die Linke ihrerseits zu einem bewaffneten Aufstand und zu Massenstreiks.

Die Rote Ruhrarmee entstand.

Der Konflikt eskalierte.

Wieder waren es Reichswehr und vor allem Freikorps, die eingriffen, und wieder war es General von Watter, der Militär mit den kältesten Augen des Reiches, der einmarschieren und ein Massaker befehlen ließ, getreu der unrühmlichen Rolle, die er schon bei den Märzunruhen 1919 eingenommen hatte. Unvorstellbare Szenen mussten sich abgespielt haben, denn nicht nur Bewaffnete wurden getötet, sondern auch Frauen und Kinder. Die allermeisten Menschen starben nicht im Zuge der eigentlichen Kampfhandlungen, sondern danach: Standrecht. Erschießungen. Mord. Am Ende waren weit über zweitausend tot, ehe die Kämpfe endlich abflauten. Auf Regierungsseite waren es gut dreihundert.

In Berlin endete der Putsch dagegen glimpflich.

Für die Täter.

Fast alle beteiligten Offiziere blieben dank einer Generalamnestie unbehelligt, nur Polizeipräsident von Jagow wurde später verurteilt: fünf Jahre Festungshaft, also Haft unter erleichterten Bedingungen. Den Hochverrat sah das Gericht wohl, allein die bedingungslose Vaterlandsliebe milderte seine Strafe erheblich. Isi regte sich furchtbar darüber auf.

Wolfgang Kapp floh nach Schweden, General von Lüttwitz nach Ungarn, wenngleich auch er später von der Amnestie profitierte und zurückkehren durfte. Der ewige Reaktionär Waldemar Pabst suchte Unterschlupf in Österreich, Ludendorff, wie immer involviert, wenn es gegen die Republik ging, schlüpfte in Bayern unter, genau wie Hermann Ehrhardt.

Dessen Marine-Brigade bekam freien Abzug aus Berlin zugesichert und verabschiedete sich auf ihre Art: Das Ehrhardt-Lied singend marschierten die Männer dem Brandenburger Tor entgegen, als ihnen plötzlich Buhrufe und Pfiffe entgegenflogen. Die Brigade hielt kurzerhand und eröffnete wahllos das MG-Feuer in die Menge. Zwölf Menschen starben, dreißig wurden schwer verletzt.

Dann setzte sie den Ausmarsch fort und begann erneut ihr Lied:

»Kamerad, reich mir die Hände,

Fest wollen zusammen wir stehn.

Man mag uns auch bekämpfen,

Der Geist soll niemals verwehn.

Hakenkreuz am Stahlhelm,

Schwarz-weiß-rotes Band,

Die Brigade Ehrhardt

Werden wir genannt.

Arbeiter, Arbeiter,

Wie mag es dir ergehn,

Wenn die Brigade Ehrhardt

Wird einst in Waffen stehn.

Hakenkreuz am Stahlhelm,

Schwarz-weiß-rotes Band,

Die Brigade Ehrhardt

Werden wir genannt.

Die Brigade Ehrhardt

Schlägt alles kurz und klein,

Wehe dir, wehe dir,

Du Arbeiterschwein.«

Der Mord an den Protestierenden wurde nie bestraft, die Brigade einen guten Monat später aufgelöst.

Verschwunden war sie jedoch nicht.

Ganz und gar nicht.

49

Das Kindermädchen Alma sahen wir nicht wieder.

Wir stellten Nachforschungen an, viel von ihr hatten wir nicht gewusst, als wir sie engagierten, nur dass sie Geld brauchte und bereit war, uns auszuhelfen. Offenbar hatte sie alle männlichen Mitglieder ihrer Familie im Krieg an der Westfront verloren: den Vater und zwei Brüder. Letztere waren begeisterte Freiwillige gewesen und fielen, genau wie ihr Vater, sehr spät, nämlich bei Ludendorffs letzter großer Offensive im Frühjahr 1918, die viele andere auch vollkommen unnütz hatte sterben lassen. Das aber hatte erstaunlicherweise nicht dazu geführt, dass sie den Krieg, den Kaiser oder die Generäle hassen lernte, sondern nur den Feind, insbesondere die Franzosen, die sich bei den Waffenstillstandsbedingungen und dem Versailler Vertrag besonders unnachgiebig verhalten hatten.

Auf seltsame Art und Weise empfand sie den Tod der geliebten Familie nur deswegen als sinnlos, weil die Niederlage mit der anschließenden Kriegsschuldzuweisung der Sieger sie entehrt hatte. Und so hatte sie sich insgeheim wohl nach einer neuen, starken Führung gesehnt, die Deutschland wieder zur Größe führen würde und mit den Verrätern abrechnete, die das eigene Heer von hinten erdolcht hatten.

Letztlich war es uns eine Lehre: Nicht jeder, der arm war, war anständig, nicht jeder, der reich war, ein Schurke. Schien Aldo nicht das beste Beispiel? Sein Heiratsantrag war mehr als überraschend, weder Artur noch Isi noch ich hätten je damit gerechnet. Zwar zweifelte niemand von uns an seinen Gefühlen Isi gegenüber, aber es war eine Sache, verliebt zu sein, eine andere, jemanden zu heiraten, der gesellschaftlich so weit unter einem rangierte.

Gewiss hatte der Krieg die Ständegesellschaft in Stücke gesprengt, aber das bedeutete nicht, dass es sie nicht mehr gab. Und Aldos Familie hatte über Jahrhunderte strategisch geheiratet, das Wohl des Clans stand stets über allem und nährte Einfluss und Macht. Aldo war der Erste, der gedachte, damit zu brechen, und das in einer Zeit, in der solche Ehen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa vollkommen undenkbar waren. Unabhängig davon, wer den Krieg gewonnen oder verloren hatte, wer Kaiser, König oder Graf war: Hochadel und Proletariat mischten sich nicht.

Es erforderte also Mut, jemanden wie Isi zu heiraten.

Und es erforderte Langmut, sich Arturs und mein Gefrotzel anzuhören, dass die ehemalige Revolutionsmieze, die unermüdliche Kämpferin für die arbeitende Klasse, der Engel der Armen, jetzt Frau Luise Herzogin von Torstayn werden würde.

»Ich werde ein Blumenmädchen anheuern, das jeden deiner Schritte mit Rosenblättern bestreut!«, grinste ich.

»Ein Bett aus Frischgeld. Jeden Tag neu bezogen«, trumpfte Artur auf.

»Eine Krone!«

»Ein Zepter!«

Isi hatte die Arme vor der Brust verschränkt und mit leicht geschlitzten Augen geantwortet: »Einen Kerker für Idioten wie euch!«

Wir standen in unserem Wohnzimmer, hörten Musik und tranken etwas Wein.

»Jetzt im Ernst, Isi!«, begann ich. »Meinst du, Aldo ist der Richtige?«

»Weiß mans?«, fragte Isi zurück. »Aber ich bin glücklich mit ihm – und nur das zählt, oder?«

»Und du wirst unglaublich reich sein«, ergänzte Artur.

»Ich will sein Geld nicht. Ich habe bisher für mich sorgen können, ich werde auch in der Ehe für mich sorgen!«

Artur runzelte die Stirn: »Du meinst, du willst weiter den abergläubischen Damen der Gesellschaft das Geld aus der Tasche ziehen? Ich glaube nicht, dass das bei Hofe allzu gut ankommt.«

»Ich mache was anderes …«

»Was denn?«, fragte ich.

»Ich habe eine Agentur gegründet.«

Wir sahen sie beide neugierig an.

»Was für eine Agentur?«, fragte ich.

»Eine Agentur für Arme. Ich werde die feinen Herrschaften dazu bringen, sich in Berlin und Umgebung zu engagieren.«

»Mit so etwas wie Suppenküchen?«

»Suppenküchen, Kleiderkammern, Krankenversorgung. Aber es braucht auch Beratungen für Frauen und Mädchen: Beruf, Recht, Verhütung.«

»Verhütung?«, fragte ich ein wenig verschämt. »Das … äh … Wie berät man … also …«

»Ich dachte an ein Institut für Sexualwissenschaft.«

»W-was?«

»Du könntest es leiten, Carl. Du bist sensibel und empathisch. Und vielleicht willst du auch ein paar Lehrfilme beisteuern?«

»Ich?! Du spinnst wohl?«, rief ich entsetzt.

Sie lächelte frech: Ich war ihr auf den Leim gegangen.

Artur brach in schallendes Gelächter aus.

»Es gibt bereits so ein Institut«, antwortete Isi geduldig. »Ein Herr Hirschfeld hat es im Juli letzten Jahres eröffnet. Ich habe schon Kontakt zu ihm aufgenommen und meine Kooperation angeboten.«

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen, Carl!«, rief Artur und wischte sich die Tränen aus dem gesunden Auge.

»Ja, ja, sehr witzig«, maulte ich und wandte mich wieder Isi zu. »Jedenfalls klingt das alles ziemlich gut.«

»Das wird auch ziemlich gut!«

»Und Aldo ist damit einverstanden?«, fragte ich.

Isi runzelte die Stirn: »Ehrlich, Carl, manchmal redest du wirres Zeug! Ich muss ja auch mit der Schande leben, dass er reich, gut aussehend und adlig ist. Und beschwer ich mich etwa darüber?«

Damit war dieses Thema dann geklärt.

Ich wandte mich an Artur: »Hast du eigentlich etwas über die Cureckens herausfinden können?«

Artur schüttelte den Kopf: »Nein, noch nicht. Aber ich bleibe dran. Mit diesem Phillip stimmt was nicht.«

»Hans hat er jedenfalls gerettet«, antwortete ich.

Artur nickte: »Ja, er war da. Wie durch ein Wunder.«

Isi stimmte zu: »Ich finde das auch komisch, Carl.«

»Den Putsch haben sich viele angesehen!«

»Ich glaube nicht an solche Zufälle, Carl«, antwortete Artur. »Du musst vorsichtig sein mit dem.«

»Meinetwegen, obwohl er wirklich nichts Böses getan hat«, seufzte ich. »Ich werde ihn die Tage besuchen. Dann erfahr ich vielleicht mehr.«

Artur öffnete eine neue Flasche, holte ein weiteres leeres Glas aus einem der Schränke und stellte es auf den Tisch.

»Übrigens, ich habe ein neues Kindermädchen für dich!«, sagte er.

»Oh, gut. Vielen Dank. Wer ist es denn?«

Er ging zur Tür, öffnete sie, schaute hinaus und nickte jemandem zu. Dann kehrte er mit dem neuen Kindermädchen zurück.

Anna.

Ich schluckte: War das sein Ernst? Oder nahmen mich die beiden wieder auf den Arm?

»Übrigens, sie kann nur tagsüber. Abends hat sie … andere Verpflichtungen.«

»Hallo, Carl!«, lächelte Anna.

Ich sah zu Isi, dann zu Artur, aber sie blieben beide ernst.

»Hallo, Anna«, grüßte ich zurück, dann nahm ich Artur am Arm: »Kann ich dich einen Moment alleine sprechen?«

Ich führte ihn hinaus in den Flur und flüsterte: »Was, wenn Hans erfährt, was sie sonst noch so macht?«

»Was, wenn er irgendwann erfährt, was seine Mutter sonst noch so gemacht hat?«, antwortete Artur ungerührt.

»Das ist was anderes.«

»Das ist haargenau dasselbe.«

»Aber … vielleicht wäre ein einfaches Dienstmädchen besser?«

»Hatten wir, Carl. Und wie hat es geendet? Du brauchst jemand Vertrauenswürdiges.«

»Und da fällt dir keine andere ein?«

»Sie ist genau richtig, Carl. Sie hat Verstand, kann den Mund halten und steht bedingungslos zu uns.«

Zögernd nickte ich.

Er hatte recht.

Wie immer.

Und ich musste endlich lernen, meine kleinbürgerlichen Vorurteile in den Griff zu kriegen.

50

Tatsächlich wohnten die Cureckens nicht allzu weit von uns entfernt in der Boxhagener Straße, in einem Neubau, wie mir schien, jedenfalls wirkte das Haus von außen so, da weder Farbe aufgetragen noch die Fenster und Türen eingefasst und verputzt worden waren. Ansonsten unterschied sich die Gegend nicht viel von unserer: Häuser, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, genau wie die Menschen, die in ihnen lebten.

Wenn auch nicht viel bessere Zeiten.

Phillip hatte mir die Adresse genannt, als er mir Hans in den Arm gedrückt und sich dann rasch entschuldigt hatte. Eine ganze Weile hatte ich darüber nachgedacht, welches Gastgeschenk ich mitbringen wollte, und mich dann für ein großes Stück Schinken entschieden, wenngleich Essensspenden den Beschenkten immer auch ein wenig bloßstellten. Doch Hunger war ein strenger Herr, und Scham musste man sich leisten können. In dieser Beziehung hatten die Berliner in den letzten Jahren eine derart harte Schule durchlaufen, dass eine Essensspende 1920 genauso wenig als Demütigung empfunden wurde wie 1914, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Vor dem Krieg war sie ein freundliches Mitbringsel, nach dem Krieg ein überlebensnotwendiges. Es war nur ein Stück Schinken, und ich dachte, wie sehr diese Geste in sechs Jahren an Unschuld verloren hatte. Nichts war mehr wie vor dem Krieg, dieselben Dinge hatten plötzlich einen anderen Beiklang.

Die Haustür sah nicht besonders vertrauenerweckend aus, schien eine Art Provisorium zu sein, das sich nicht abschließen ließ, sodass ich zögernd in den Flur trat, der sich grob verputzt und ungestrichen zu einer Treppe hin streckte. Vom Erdgeschoss gingen zwei Eingänge in zwei verschiedene Wohnungen ab, beide ohne Rahmen und mit genauso notdürftigen Bautüren, die ohne Schlösser schief in den Öffnungen saßen.

Ich klopfte an der linken und wartete, bis ein Mütterchen in Witwentracht öffnete.

»Verzeihung!«, sagte ich. »Ich suche die Familie Curecken.«

Da lächelte die Alte und fuhr sich mit der Hand ordnend über das etwas wirre Haar: »Du musst Carl sein!«

Ich nickte.

Sie gab mir die Hand: »Ich bin Elisabeth, Phillips Mutter.«

Ihre Kleidung schlotterte um ihre dürren Schultern – als sie die Tracht gekauft hatte, musste sie um einiges dicker gewesen sein.

»Komm doch rein!«

Damit trat ich hinter ihr in die Wohnung, deren Wände zwar verputzt, aber ohne Farbe oder Tapete waren. Der Boden war ebenfalls unbehandelt: purer Estrich, auf dem die Schritte knirschten.

Es gab, soweit ich das sehen konnte, drei Räume: die gute Stube, Schlafzimmer und Küche, wobei dort nur ein Tisch mit drei klapprigen Stühlen stand und ein Bollerofen, auf dem man kochen konnte. Das Wohnzimmer entpuppte sich als ähnlich karg: ein altes Sofa, ein abgewetzter Sessel, die beide aussahen, als wären sie aus dem Müll. Dazu ein Tischlein. Auch hier ein Ofen, der wie der in der Küche vor sich hin bollerte, obwohl es draußen nicht mehr kalt war.

Das war schon alles.

Phillip hatte sich vom Sofa erhoben und eilte mir entgegen: »Carl, wie schön, dass du uns besuchen kommst.«

»Ich habe euch etwas mitgebracht«, antwortete ich und gab ihm den Schinken, den er an seine Mutter weiterreichte.

Sie öffnete das Paket, und ich konnte sehen, wie ihr die Augen übergingen: das Gesicht eines Menschen, der Hunger hatte. Auch Phillip hatte kurz hingesehen und geschluckt, dann aber gelächelt und gesagt: »Sehr aufmerksam! Den schneiden wir gleich auf, ja, Mutter?«

Sie wirkte beinahe erschrocken, einen solchen Schatz anbrechen zu müssen, dann aber nickte sie und verschwand in der Küche.

Mit einer Geste bot Phillip mir einen Platz an.

Ich wählte den alten Sessel, dessen harte Federn mir in Hintern und Rücken stachen.

»Ich wollte mich eigentlich nur bedanken«, begann ich. »Ohne dich wäre Hans vielleicht verloren gegangen.«

»Aber bitte: Das ist doch nicht der Rede wert!«

Einen Moment zögernd fragte ich dann: »Was für ein Zufall, dass du da warst, nicht?«

Er verstand die Anspielung sofort.

»Nun, so ganz zufällig war es nicht …«, begann er mit einem Räuspern.

»Nicht?«

»Nein. Ich wollte dich an diesem Tag besuchen. Es war Samstag, und ich hatte gehofft, dass du nicht arbeiten würdest.«

Ich nickte.

»Jedenfalls lief ich gerade durch die Voigtstraße, als plötzlich das Kindermädchen aus dem Haus eilte, Hans an der Hand. Ich wunderte mich, und als ich dann bei euch klopfte, war niemand da. Und gleichzeitig riefen die Nachbarn, dass geputscht worden sei – und ich dachte nur: Warum geht ein Kindermädchen mit einem kleinen Jungen gerade jetzt in die Stadt? Niemand wusste doch, ob das nicht gefährlich sein könnte.«

»Du bist ihnen gefolgt?«

Er nickte: »Ja, bis zu den Linden. Den Rest kennst du ja.«

Ein glücklicher Zufall, aber nicht so, wie Artur oder Isi es unterstellt hatte.

Phillips Mutter kehrte zurück und hatte den Schinken in feine Scheiben geschnitten auf einen Teller gelegt: Sie bot mir davon an, aber ich schüttelte den Kopf: »Vielen Dank. Aber ich habe schon gegessen.«

Das entsprach nicht der Wahrheit, tatsächlich hatte ich Hunger, und der Schinken sah wirklich gut aus. Aber die beiden in einer so desolaten Situation zu erleben, rührte mich, und so beschloss ich zu fasten.

Sie nickte und stellte den Teller auf den Tisch.

Niemand nahm etwas davon, aber alle hatten Hunger.

So viel war wahr.

Aus dem Schlafzimmer hörte ich jemanden husten. Ein hässliches, gurgelndes tiefes Geräusch, das auf keinen guten gesundheitlichen Zustand schließen ließ.

»Meine Frau«, erklärte Phillip. »Es geht ihr nicht gut. Sie lässt sich entschuldigen.«

Erst jetzt spürte ich, dass es in der Wohnung klamm war, obwohl es draußen einen recht schönen Frühlingstag mit angenehmen Temperaturen hatte. Hier drinnen aber schien alles kälter zu sein, ungemütlicher, auch wenn der Ofen etwas wärmte. Was mich irritierte, denn trotz ihrer offensichtlichen Armut gaben die Cureckens wohl einiges für Heizmaterial aus.

Phillip war meinem Blick zum Ofen gefolgt und sagte: »Wir sind Trockenwohner.«

Ich sah ihn fragend an.

»Das Haus ist neu und noch baufeucht. Wir wohnen hier, bis Wände und Böden trocken genug sind. Dann wird alles fertiggestellt und an die richtigen Mieter übergeben. So lange zahlen wir nichts, und der Bauunternehmer spendiert uns Kohle zum Heizen, damit es schneller geht.«

Ich schluckte: In diesem Zusammenhang von »spendieren« zu sprechen schien mir vollkommen unangebracht. Ich hatte zuvor schon vom Konzept des Trockenmietens gehört, aber nie jemand getroffen, der es praktizierte. Es wurde kaum noch gebaut.

»Und deine Frau? Für sie ist die Raumfeuchte doch eine Qual, wenn sie es an den Lungen hat?«

Phillip antwortete nicht.

Das musste er auch nicht: Man sah die Antwort in seinen Augen.

»Wie geht es denn dem kleinen Hans?«, fragte Elisabeth und wechselte damit rasch das Thema.

»Oh, sehr gut. Danke.«

»Dass er so etwas erleben musste! Schrecklich!«

Sie lächelte mich an.

»Ich denke, er hat es gut verkraftet. Phillip war ja da.«

Für einen Moment senkte sich Schweigen über uns, eines von der unangenehmen Sorte, während Elisabeth nervös ihre faltigen Hände knetete und Phillip unsichere Blicke zuwarf. Irgendetwas stand im Raum, etwas, das besprochen werden wollte, aber es fiel ihnen augenscheinlich schwer, es anzuführen.

»Sicher habt ihr das Mädchen entlassen?«, fragte Elisabeth plötzlich.

Ich seufzte: »Das war gar nicht nötig. Sie ist verschwunden.«

Elisabeth nickte schnell: »Recht so.« Und setzte rasch an: »Aber ihr braucht doch Ersatz?«

»Ja, nur …«

»Also, ich könnte doch auf Hans achtgeben? Ich kann sehr gut mit Kindern, nicht Phillip?«

Der nickte scheu: »Sie ist ganz wunderbar mit den Kleinen.«

Betreten räusperte ich mich: »Eine gute Idee …«

»Nicht wahr? Dann ist es abgemacht?«

Sie sah mich freudig an.

Ich räusperte mich erneut und antwortete: »Ich habe schon jemanden.«

Sie riss erschrocken die Augen auf: »Aber, Carl, wir sind doch Familie! Wer könnte denn besser sein, vertrauenswürdiger als jemand aus der Familie?«

»Da hast du sicher recht, Elisabeth, aber …«

»Na, siehst du! Ich passe sehr gerne auf den kleinen Hans auf, Carl! Jeden Tag, wenn du willst!«

Ihr Blick war ein einziges Flehen.

Phillip tat unbeteiligt, aber seine Hoffnung war geradezu körperlich spürbar.

»Du kannst dem neuen Mädchen doch absagen, Carl. Sag ihm, dass jemand aus der Familie übernimmt. Sie wird das sicher verstehen.«

»Elisabeth …«

»Du hast selbst gesagt, es wäre eine gute Idee, Carl. Und es ist auch eine gute Idee. Und es wäre überhaupt nicht teuer! Nicht wahr, Phillip?«

»Es ginge allein gegen Kostgeld«, antwortete Phillip und mied meinen Blick.

»Hans soll hierhin kommen?«, fragte ich entgeistert, und ohne es zu wollen, versetzte ich ihnen damit einen demütigenden Schlag. In Elisabeths Augen schimmerten Tränen.

Dann aber fasste sie sich schnell und sagte: »Aber nein! Das ist kein guter Ort für ein Kind, Carl. Ich würde einfach zu euch kommen. Immer pünktlich. Und wenn es mal spät werden sollte, ist das wirklich nicht schlimm. Ich habe viel Zeit!«

»Das glaube ich schon …«

»Na, siehst du! Carl! Klingt das alles nicht gut?«

Das Gespräch war mir vollkommen entglitten, ihre Verzweiflung rührte mich, und doch fühlte ich mich in die Ecke gedrängt. Artur und Isi hätten eine solche Situation mit einem Fingerschnippen gelöst, ich dagegen tat mich schwer: Warum sollte Elisabeth nicht auf Hans aufpassen? Sie wäre sicher eine geduldige Erzieherin, wahrscheinlich qualifizierter als Anna. Andererseits misstrauten Artur und Isi den Cureckens, und die beiden einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen, nur weil ich ganz schlecht darin war, auch mal Nein zu sagen, war ganz sicher der falsche Weg. Artur und Isi waren meine Familie, nicht die Cureckens, obwohl ich sehen und fühlen konnte, wie desperat ihre Lage war.

»Ich denke drüber nach, Elisabeth«, antwortete ich ausweichend.

»Aber warum denn, Carl? Die Lösung ist doch perfekt!«, rief sie enttäuscht.

»Ich will das nicht jetzt entscheiden.«

»Aber, Carl …«

Phillip ging dazwischen: »Mutter, bitte! Du hast ihn gehört.«

Sie presste die Lippen aufeinander, wütend, fing sich aber rasch und sagte: »Ganz wie du willst, Carl. Ich bin jedenfalls immer für dich da.«

»Danke, das weiß ich zu schätzen«, antwortete ich ein wenig hilflos.

Einen Moment saßen wir alle still da.

Dann erhob ich mich und nahm meinen Hut: »Ich muss dann mal wieder …«

»Danke für deinen Besuch!«, antwortete Phillip und sprang auf. »Du bist uns immer willkommen.«

Er begleitete mich zur Tür.

»Nimm es ihr nicht übel, Carl«, sagte er leise. »Sie ist ein wenig … nervös.«

»Das tue ich nicht«, antwortete ich und gab ihm die Hand. »Richte deiner Frau meine besten Wünsche aus! Und baldige Genesung!«

»Mache ich gerne. Du bist ein guter Mensch, Carl. Das wusste ich gleich.«

Ich setzte meinen Hut auf und verließ das Haus.

Draußen blitzte die Sonne zwischen schäfchenweißen Wolken.

51

Fast mutete es wie ein Aprilscherz an, als Artur am Ersten des Monats sein neues Lokal auf der Andreasstraße eröffnete, denn das Publikum an diesem Gründonnerstag hätte kaum gottloser sein können als jenes, das hineinströmte, um in einer Weise in den Karfreitag hineinzufeiern, die Jesus dazu bewegt hätte, beleidigt vom Kreuz zu steigen und jedem Einzelnen mit einem Aufenthalt in der Hölle zu drohen.

Schon vor seiner Eröffnung war das Arcasi in aller Munde gewesen und der Andrang entsprechend. Da die grundsätzlichen Probleme zwischen Artur und Vergissmeinnicht zur allgemeinen Zufriedenheit in der Spree gelandet waren, stauten sich am Abend der Eröffnung bereits früh die Gäste auf dem Bürgersteig. Der größte Teil von ihnen Ganoven und deren Liebchen, denn die komplette Belegschaft von Vergissmeinnicht gab sich die Ehre, angeführt von Kino-Paule, der zwar nicht Pola Negri am Arm führte, dafür aber eine andere hoffnungsvolle und bildhübsche Schauspielerin, die ihren Auftritt als Erste Dame gekonnt zu inszenieren wusste.

Am Eingang strahlten die bunten Lichter einer Leuchtreklame. Artur hatte sie unbedingt haben wollen, weshalb in diesem Teil des Viertels jetzt keine Energie mehr gespart wurde. Zu verdanken war das denen, die die Geschicke der Stadt, um nicht zu sagen: des Reiches, bestimmten und sich in Arturs Eden nicht nur vergnügten, sondern ihm auch gerne einen Gefallen taten. So schlug Artur in gewisser Weise eine Brücke zwischen den Welten, und manchmal, wenn ich ihn ansah, dachte ich, dass er, der Mann mit dem halben Gesicht, dieses Nebeneinander perfekt verkörperte: Die klare, schlaue, weitsichtige Hälfte ging in die andere über, unter der Gewalt und Zerstörung lauerten.

Wir standen zu fünft auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachteten die gut gelaunte Wuseligkeit derjenigen, die sich dort in auffälliger und sündteurer Kleidung präsentierten, qualmten und den ebenfalls anwesenden Blaumännern des Polizeireviers Fünfzig, die wie die ganze Polizei nicht mehr Pickelhauben, sondern Tschakos auf dem Kopf trugen, Zigaretten oder einen Schluck aus mitgebrachten Flaschen anboten. Die Beamten lehnten höflich ab und ertrugen mit einem Schmunzeln den Spott der herausgeputzten Damen, die die Staatsdiener augenzwinkernd zur Sünde zu verführen suchten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so sentimental bist!« Isi lächelte.

Artur wandte sich ihr zu: »Wieso?«

»Arcasi? Wie unser Fuhrunternehmen in Thorn. Artur, Carl und Isi.«

»Schöner Name!«, ergänzte ich.

»Finde ich auch«, sagte Anna, die Hans auf dem Arm trug.

Der Kleine kam überraschend gut mit ihr aus, was sich zwar nicht in übermäßigem Mitteilungsdrang äußerte, aber offensichtlich fühlte er sich bei ihr geborgen: Er hatte seine Arme um ihren Hals geschlungen und kämpfte mit seiner Müdigkeit.

Ein gewaltiges Tröten ertönte.

Aldo preschte die Straße hinab und hielt mit quietschenden Reifen. Vielmehr: Er ließ mit quietschenden Reifen halten, denn er selbst saß auf dem Rücksitz seines Benz-Monstrums, während sein Fahrer das tat, was er ihm zwischenzeitlich zurief.

Isis Verlobter hatte Frack und Zylinder an, dazu einen weißen Seidenschal um den Hals geschlungen, genau wie Artur und ich, nur dass er aussah, als hätte er nie etwas anderes getragen. Im Gegensatz zu uns. Er hob zwei Flaschen in die Höhe und rief: »Champagner!«

»Französisch? Wie kommt man denn an Ware vom Erbfeind?«, fragte ich verwundert.

»Möchte ich nicht drüber reden!«, antwortete Aldo gut gelaunt. »Vor allem nicht über den Preis!«

»Aldo …«, warnte Isi.

Artur legte ihr die Hand auf den Arm: »Wir feiern deine Verlobung und meinen neuen Laden. Politik dann wieder ab morgen, ja?«

Sie nickte seufzend.

Wir querten die Andreasstraße und traten durch den Hintereingang ein.

Im Gegensatz zum KaLeu war das Arcasi nicht nur außen, sondern auch im Innern aufwendig gestaltet. Es hatte eine Schaubühne, aber nicht nur für drei zusammengedrängte Musiker: Mit fünf mal vier Metern war sie geradezu ausladend, sodass sich auch mühelos größere Gesangs- oder Tanzdarbietungen zeigen ließen.

Es gab viele Spiegel, die Tanzfläche und Schankraum geradezu riesig wirken ließen, und an einer Seite vier Separees für die besonders zahlungsfreudige Klientel, die hier einen Samtvorhang um ihr Eckchen ziehen konnte, wenn sie ganz ungestört sein wollte. Der Tresen war mit vier Budikern besetzt, Kellnerinnen brachten die Getränke, Zigarettenmädchen mit kleinen Bauchläden die Kippen, die man auch einzeln kaufen konnte. Dazu hatte Artur gleich neben der Garderobe eine neue Position geschaffen, die er für die wichtigste des ganzen Ladens hielt: die Nachtigall.

Eine Concierge.

Die Dame, die die Gäste begrüßte und verabschiedete, die ihre Pappenheimer kannte, einschätzte und zur Not auch abwies, wenn sie sich am Spanner vorbeigeschlichen hatten. Eine, die in gleichem Maße treu und bestechlich war, attraktiv und unnahbar, herzlich und mit allen Wassern gewaschen. Die die Sprache der Ganoven, Künstler, Buchhalter und Huren sprach, wenn es sein musste, auch alle gleichzeitig. Die mit jedermann schäkerte und sich doch nur einem verpflichtet fühlte: Artur. Sie war das Gesicht des Arcasi.

Anna.

Hans war mittlerweile auf ihrem Arm eingeschlafen, sodass ich ihn hinter dem Tresen in einem Raum voller Vorräte auf unsere Mäntel bettete. Anna dagegen verwandelte sich, sobald sie mir den Jungen gereicht hatte, sofort in die Nachtigall, und sie so souverän im Eingang zu sehen machte mich ein wenig stolz: Diese Frau, die da gerade Kino-Paule in die Wange kniff und seinem neuen Liebchen einen Kuss auf die Wange hauchte, war mein Kindermädchen!

Nicht zu fassen.

Eine Kapelle heizte den Gästen ein.

Harry sagte in gewohnt gekonnter Manier die Bühnenattraktionen an, sorgte mit albernen Spielchen und eigenen Gesangseinlagen dafür, dass das Publikum gut gelaunt und durstig blieb.

Es wurde ein wildes Fest.

Auch für Isi und Aldo.

Es war schön, die beiden so ausgelassen zu sehen. Vor allem aber war ich erstaunt darüber, wie sehr sich Aldo seinem Umfeld anpassen konnte. Niemand der Anwesenden hatte nur annähernd eine solche Stellung wie er und keiner auch nur ähnliche finanzielle Möglichkeiten, obwohl die Ganoven alle gut bei Kasse waren. Ich hatte ihn im Eden als perfekten Gentleman erlebt, und hier wie im KaLeu gab er sich als nimmermüdes Feierbiest, das mit jedem gut konnte und keinerlei Berührungsängste kannte. Auf seine Art war er ein gesellschaftliches Chamäleon.

Eine Weile unterhielten wir uns über seine Familie, die spießig und langweilig war, die nichts wusste von den Genüssen der Großstadt und in ihrer versnobten Rückständigkeit auf ihren ostpreußischen Landgütern saß, den Kaiser verehrte und inständig hoffte, dass die Welt sich wieder zurückdrehen würde. Alles sollte so sein wie früher, fanden sie, und Aldo karikierte gekonnt eine sehr betagte Großtante, die bereits mit der Erfindung des elektrischen Lichts gehadert hatte, weil es ihr viel zu hell und zu unnatürlich schien. Sie war überzeugt gewesen, dass diese Art von Fortschritt die Jugend auf seltsame, umstürzlerische Gedanken bringen würde. Wie Automobile, versäumte Kirchgänge und natürlich die Sozialdemokratie.

»O Gott!«, rief ich vergnügt. »Was wird sie bloß zu Isi sagen?«

Aldo zuckte mit den Schultern und mied meinen Blick.

»Du hast doch deiner Familie mitgeteilt, dass du heiraten wirst?«, hakte ich nach.

»Na ja …«, wich er aus. »Schon … irgendwie …«

»Was heißt denn das?«

»Ich habe ihnen gesagt, dass mein Junggesellendasein enden wird! Das hat sie echt begeistert, weißt du?«

»Kann ich mir vorstellen, aber wann stellst du ihnen Isi vor?«

»Bald. Ich habe sie nach Berlin eingeladen.«

Mittlerweile war die fröhliche Unbeschwertheit aus seinem Gesicht gewichen, und er trank den Rest des Champagners in einem Zug aus.

»Du wirst doch keinen Rückzieher machen, Aldo?«, fragte ich misstrauisch.

»Ich?! Auf keinen Fall! Isi ist die Liebe meines Lebens. Und ich hatte schon viele, kannst du mir …!«

»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Ich gebe dir nur den guten Rat, sie besser nicht zu enttäuschen. Ich habe sie während der Revolution erlebt. Und glaub mir: Du willst dich nicht mit ihr anlegen!«

»Sie kann zuweilen ein bisschen impulsiv sein, was?«

»Ich meins ernst, Aldo! Wenn du denkst, du müsstest Angst vor deiner Familie haben, dann kann ich dir sagen: Was immer dich bei ihnen erwartet, ist ein Luftkurort für Tattergreise verglichen mit dem, was dir bei Isi an der Sturmfront droht.«

»Herrgott! Ja! Ich heirate sie doch!«

Er schenkte uns beiden nach, das Thema verlor sich, bis Isi ihn schließlich packte, um zu tanzen. Trotzdem machte ich mir meine Gedanken: im Gegensatz zu Aldo, der spätestens morgen alles vergessen haben würde. Er war wie ein großes Kind, das nur Sorglosigkeit, Vergnügen und unbegrenzte Möglichkeiten kannte. Wie brachte man so jemandem den Ernst des Lebens bei?

Sollte man es überhaupt? Es musste doch schön sein, so zu leben.

Anna drängte sich zu mir durch und gab mir einen Kuss auf die Wange: »Ist das nicht herrlich hier?«

Ich nickte lächelnd.

»Ich wollte nach Hans sehen«, rief sie mir zu.

»Ich hol ihn schon. Es ist spät!«

»Ach, Carl!«, rief sie. »Jede Frau wäre glücklich, wenn sie dich nur bekäme.«

Sie gab mir wieder einen Kuss, sanfter als der erste, dann stand plötzlich Anwalt Friedemann Fromm neben uns, mit eingeklemmtem Monokel und absurd geckenhafter Kleidung. Er war alles andere als nüchtern, und als er Anna entdeckte, ließ er gekonnt das Glas aus seinem Auge fallen und küsste ihr galant die Hand: »Darf ich Sie zu einem Glas, etwas Kokain und einem Leben unter Palmen einladen, Sie hinreißendes Abbild einer Göttin?«

Anna grinste: »Sie dürfen, Herr Fromm!«

»Für Sie Friedel, meine schöne Nachtigall!« Er winkte dem Budiker zu: »Sekt! Aber dalli!«

Dann wandte er sich Anna wieder zu: »Verfügen Sie über mich, begehrenswerte Aphrodite! Stellen Sie Ihren Fuß auf meine Brust und lassen Sie das köstliche Getränk über Ihre schneeweißen Schenkel in meinen Mund laufen!«

Ich räusperte mich hörbar.

»Oh, Verzeihung, wo sind nur meine Manieren: Herr Friedländer darf natürlich zuerst!«

Anna bog sich vor Lachen, während ich nur die Augen verdrehte und mich am Tresen vorbei Richtung Hinterraum wand, wo ich den schlafenden Hans aus einem Mantelberg barg. Ich zog mich an, hob den Kleinen auf den Arm, kehrte zurück in den Schankraum, fand Anna und Anwalt Fromm glücklicherweise stehend und angezogen vor dem Tresen, winkte ihnen wie auch Isi und Aldo zum Abschied zu. Dann suchte ich Artur und entdeckte ihn, wie er sich gerade mit einem neuen Gast, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, in einem der Separees niederließ. Er winkte mich heran und gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich mich einen Moment setzen sollte.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen, Carl!«, sagte er. »Das ist Oberkommissar Wilhelm Kennel. Der neue Leiter des Polizeireviers Fünfzig.«

Wir gaben uns die Hände.

»Wohl kaum der richtige Ort für ein Kind!«, meinte Kennel sauertöpfisch anstelle einer Begrüßung.

Ein durch und durch unscheinbarer Mann: schütteres Haar, fahles Gesicht, undefinierbare Augenfarbe. Weder gut aussehend noch hässlich. Wenn ich heute versuche, mich an ihn zu erinnern, fällt es mir immer noch schwer, ihn zu beschreiben. Es gab einfach nichts Außergewöhnliches an ihm.

Äußerlich.

Mit was für einem Charakter wir es zu tun hatten, machte Kennel uns in den wenigen Minuten, in denen ich am Tisch saß, schnell klar.

»Der Herr Oberkommissar und ich besprechen gerade, wie es weitergeht, jetzt wo sein seliger Vorgänger von uns gegangen ist«, erklärte Artur.

Kennel sah erst ihn, dann mich an: »Ich bin ein Freund offener Worte, daher werde ich jetzt auch ganz offen Ihnen gegenüber sein: Menschen wie Sie widern mich an. Sie sind wie eine Krankheit, die diese Stadt im Würgegriff hält, ein Geschwür, das sich nach dem Krieg gebildet hat. Aber seien Sie versichert, Herrschaften, ich werde der Arzt sein, der es herausschneidet. Und danach wird das hier wieder ein schönes Viertel sein, ein gesunder, gottgefälliger Körper. Also, gehen Sie besser gleich, denn ich werde das Übel an seinen Wurzeln herausreißen.«

Mir stand vor Schreck der Mund auf.

Artur dagegen ließ sich nichts anmerken: »Ich schätze einen Mann mit einer klaren Haltung. Darf ich Sie noch zur Tür begleiten?«

Kennel stand auf und setzte seinen Hut auf: »Sie werden einen Fehler machen. Ihresgleichen macht immer einen Fehler. Und dann werde ich da sein, Sie in einen Kerker sperren und den Schlüssel wegwerfen. Fürchten Sie mich!« Dann nickte er uns beiden zum Gruß zu: »Genießen Sie den Abend.«

Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, wo er Anna beinahe umlief. Er lüftete kurz den Hut, wohl eher aus Gewohnheit als aus Höflichkeit, dann schob er sich an ihr vorbei.

Ich wandte mich Artur zu. »Jetzt sag mir bitte nicht, dass du auf einen weiteren Putsch hoffst! Das ist ein Polizist, Artur! Den kann man nicht … Das hat noch nie jemand gewagt!«

Artur antwortete nicht.

Und das war nie gut.

Für andere.

52

Es mag seltsam anmuten, dass in einem Land, das von Revolution zu Putsch zu Putsch eilte, in dem die Wunden des Krieges immer noch weit aufklafften, die einen hungerten, die anderen schmausten, die einen von Kommunismus, die anderen von Diktatur träumten, dass in einem solchen Land trotzdem massenhaft Filme gedreht wurden. Vielleicht auch gerade deswegen. Denn viele ertrugen den Alltag nicht und wollten wenigstens für eine Stunde oder zwei irgendwo im Dunkel des Vorführraumes eins werden mit einer Welt, die nicht ihre eigene war.

Das meiste, was gezeigt wurde, war seicht oder überambitioniert, langweilig oder überdreht. Bei aller Betriebsamkeit war die Filmbranche, die sich immer noch ausprobierte, die gern übers Ziel hinausschoss oder weit unter ihren Möglichkeiten blieb, in jedem Fall eine, die ihre Mitte noch nicht gefunden hatte, vielleicht auch, weil sich darin, wie in einem großen Schwimmbad, Könner und Nichtskönner, Talentierte und Talentlose, Verrückte und Blasse, Geschäftsleute und Verschwender, Hasardeure und Zauderer, Wichtigtuer und Entscheider tummelten und man nie genau wusste, in welcher Kombination man sich für den nächsten Film traf. Überall gab es Glashäuser, wenn auch sämtlich viel kleiner als die beiden am Tempelhofer Feld. Es waren Dutzende, die sich über die ganze Stadt verteilten. Ich nahm sie selbst kaum je wahr, weil ich ja schließlich in meinem eigenen lebte.

Aber sie waren da. Und manchmal blitzten sie auf und versetzten mit ihren Produktionen alle in Staunen.

So war es auch bei Das Cabinet des Dr. Caligari.

Als sich zu Jahresbeginn die Krise in der Stadt bereits ankündigte und sich Offiziere mit dem Gedanken anfreundeten, die gewählte Regierung zu stürzen, fielen mir die ersten Plakate in der Stadt auf: verdrehte Hände oder hypnotische Wirbel. Überall prangten sie an den Litfaßsäulen, und darauf stand nur: Du musst Caligari werden!

Sonst nichts.

Menschen gingen daran vorbei oder blieben wie ich davor stehen und fragten sich, was es damit auf sich haben könnte. Wir alle hatten keine Ahnung, dass damit ein Film beworben wurde. Es tauchten mehr und mehr dieser Plakate auf, die wollten, dass man Caligari wurde, aber niemand wusste, wer oder was Caligari war.

Irgendwann lüftete sich das Geheimnis, sodass die Neugier riesig war, als der Film Ende Februar endlich startete: Er wurde ein gigantischer Erfolg! Und es gab nicht wenige, die während des Putsches im Kino gesessen und sich den merkwürdigsten und gleichsam brillantesten Film angesehen hatten, der in den frühen Zwanzigern gemacht worden war. Ich allein sah ihn dreimal hintereinander, weil ich einfach nicht glauben konnte, wie verrückt er war – und vor allem, wie geschickt er das Lebensgefühl der Deutschen getroffen hatte. Es war das erste Mal, dass ich bedauerte, nur im Union-Glashaus zu sitzen und kaum jemand anderes zu kennen als Lubitsch.

Wie gern wäre ich beim Dreh von Caligari dabei gewesen!

Eskapistische Filme gab es reichlich in jenen Zeiten. Mal fantastischer, mal historischer, mal gruseliger Natur, getreu dem Motto, dass alles besser war als die Wirklichkeit selbst.

Caligari dagegen ging weiter.

Viel weiter.

Der Film bemühte sich gar nicht erst, naturalistisch zu wirken. Nichts von dem, was man sah, war echt, alles verfremdet. Kulissen, die aussahen, als wären sie einem fiebernden Gehirn entsprungen: windschiefe Hexenhäuser, spitze Brücken, groteske Räume. Eine einzige künstliche, expressionistische Malerei, beinahe zwanghaft, was den Imperativ im Werbespruch Du musst Caligari werden geradezu genial machte.

Dabei war die Geschichte um den verrückten Hypnotiseur Dr. Caligari und sein willfähriges Ausstellungsobjekt Cesare, das unter der Kontrolle des Wahnsinnigen mordend eine Stadt in Schrecken versetzt, an sich gar nicht so fesselnd, aber dadurch dass sie in diesen albtraumhaften Bauten, den verwinkelten Fluchten und zerbrochenen Spitzen spielte, traf sie die Deutschen in ihrem Innersten. Denn auf subtile Art und Weise spiegelte der Film so die Schmach des verlorenen Krieges wider, den kaputten Traum einer besseren Zukunft, die Knute des Versailler Vertrags, das Zurückfallen einer ganzen Gesellschaft an einen Punkt, wo der Tod wie der somnambule Cesare durch die Straßen geisterte und sich nahm, was er wollte, vollkommen egal, ob jemand schuldig oder unschuldig war. Das war für mich das eigentliche Thema dieses Films. Das war das, was die Menschen im Innersten spürten – über die eigentliche Geschichte hinaus. Ein verzerrtes Dasein fand hier seinen Ausdruck, was sich sogar in der Schrift der Zwischentitel widerspiegelte, denn auch die war neu, bauchig und zackig in einem. Eine Hexenschrift in einem Hexenfilm, in dem es für keinen der Beteiligten, weder für Zuschauer noch Darsteller, einen Ausweg gab.

Das war eine neue, behauptete Welt, so eindringlich erzählt, dass ich sie bei jedem Mal Anschauen wieder für wahr hielt, obwohl nichts darin wahr war. Angeblich hatten die beiden jungen Autoren dieses Films, Hans Janowitz und Carl Mayer, beide vollkommen pleite, dem Produzenten Erich Pommer aus ihrem Drehbuch vorgelesen, der ihnen daraufhin nicht nur Geld zur Verfügung gestellt hatte, sondern aus dieser Vision mit den Baumeistern Walter Röhrig, Walter Reimann und Hermann Warm einen Film machte, der die Decla-Film vor dem Ruin rettete. Obwohl alles daran so gewagt war, dass wohl jeder andere gesagt hätte, dass dieser Film die Decla nicht retten, sondern ihr den endgültigen Todesstoß versetzen würde – mich eingeschlossen.

Ich sah ihn mir auch mit Isi und Artur an, die meine Begeisterung nicht teilten. Artur interessierte sich grundsätzlich nicht für Filme, und Isi lehnte die von mir so bewunderten Schauwerte ästhetisch ab.

»Da sah ja mein Puppentheater in Thorn besser aus«, maulte sie.

Ich seufzte, sah aber an ihrem Grinsen, dass sie mich schon wieder hochnahm. Dennoch gefiel ihr der Film nicht, er erschien ihr misanthropisch und war zu wenig das, was Film für sie sein musste: größer als das Leben.

Ich schimpfte sie beide ignorant und erntete nur noch mehr gutmütigen Spott. Dennoch unterhielten wir uns über das, was wir gesehen hatten, was mich am Ende des Abends auftrumpfen ließ: »Wenn das alles so blöd war, warum haben wir dann stundenlang darüber gesprochen?«

Zufrieden genoss ich den einzigen Stich, den ich setzen konnte. Allerdings fror mein breites Grinsen bald ein, denn Isi präsentierte nun eine Einladung zu einem Dinner bei Aldo. Seine Familie war da, bereit, die zukünftige Schwiegertochter in Augenschein zu nehmen. Ich schwieg und hoffte, dass dieser Abend nicht zu einem Cabinet derer von Torstayns werden würde, mit Zerrbildern einer stehen gebliebenen Welt. Wir tranken auf Isi und Aldo, bis sich meine dunklen Vorahnungen im sanften Nebel einer aufziehenden Trunkenheit verzogen.

Beschwingt ging ich nach Hause, um Harry von seiner unfreiwilligen Sonderschicht bei Hans abzulösen, und war in Gedanken schon wieder bei Caligari: Alles war möglich, wenn die Erzählung nur kraftvoll genug war, wenn alle dieselbe Sache wollten und sich allein ihr unterordneten. Für Mayer und Janowitz war Caligari der Beginn einer großen Karriere, und auch Regisseur Robert Wiene wurde dadurch bekannt, wenn auch nicht annährend so wie der, der den Film eigentlich hätte drehen sollen: Fritz Lang.

Ihn würde die Welt noch kennenlernen.

Genau wie ich.

53

Es war mir nicht leichtgefallen, den Cureckens abzusagen, vor allem weil ich das Gefühl hatte, ihnen unrecht zu tun. Isi dagegen nahm die bloße Andeutung des Vorschlags, Elisabeth bei uns zu Hause auf Hans aufpassen zu lassen, zum Anlass, mir den Kopf zu waschen. Es entspann sich schnell eine hitzige Diskussion darüber, warum ausgerechnet sie, die Anwältin der kleinen Leute, kein gutes Haar an denen ließ, die offensichtlich in Not waren.

»Weil sie nicht klein sind!«, behauptete Isi.

»Sie sind es!«, widersprach ich.

»Ja, jetzt. Aber als sie reich waren, war dein Vater nicht gut genug für sie. Und jetzt, wo sie arm sind, bist du ihnen auf einmal willkommen.«

»Phillip kann nichts für seinen Vater. Und zwing mich jetzt nicht, dich an deinen eigenen zu erinnern!«

»Mag sein, aber warum haben sie dich denn dann nicht eher gesucht? Seit Phillips Vater gestorben ist, hatten sie verdammt viel Zeit, dir und deinem Vater die Hand zu reichen. Warum haben sie es nicht getan?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich weiß es aber: weil es ihnen gut ging. Und euch schlecht. Jetzt, wo es umgekehrt ist, da tauchen sie wie aus dem Nichts auf und bitten dich um Hilfe. Wo war ihre Hilfe, als du sie gebraucht hättest?«

»Glaubst du nicht, dass sie das alles bereuen? Ist es nicht möglich, dass sie einen Neuanfang wollen?«

»Weil ihr Magen knurrt. Deswegen.«

»Du bist ungerecht!«

»Mach, was du willst, Carl. Aber eins sag ich dir: Es zählen nur Taten! Keine Absichtserklärungen, keine warmen Worte, keine frommen Fürbitten. Nur Taten! Kannst ja deine zusammenrechnen, dann ihre und vergleichen …«

Ich seufzte.

Da umarmte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Wange: »Ach, Carle, du bist so ein guter Mensch, dass man dauernd auf dich aufpassen muss …«

»Isi …«, warnte ich.

Sie grinste: »Schon gut! Du passt auf mich auf!«

»Immer schön, wenn wir uns verstehen«, grinste ich zurück. »Übrigens, ich habe eine Überraschung für dich!«

Isi klatschte vergnügt in die Hände. »Wirklich? Ich liebe Überraschungen!«

»Komm!«

Ich führte sie die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer, während Isi mich neckte: »Hui, Carl, du gehst aber ran! Dass ich verlobt bin, gilt wohl gar nichts für dich, was?«

»Halt die Klappe, Idiotin. Hier …«

Ich präsentierte ihr eine kleine Nähmaschine, eine schwarze Singer.

»Die kleine Amerikanische?!«, rief sie entzückt. »Du hast sie zurück?«

Ich schüttelte den Kopf: »Ist nicht die von Papa. Aber baugleich.«

»Du bist genauso sentimental wie Artur!«

»Ich habe mir gedacht, ich schneidere dir damit dein Hochzeitskleid! Das soll mein Geschenk für dich und Aldo sein!«

Sie starrte mich an.

Unfähig, etwas zu sagen, was selten genug vorkam.

Dann brach sie in Tränen aus, lachte, küsste mich, hielt mich fest und weinte: »Carle, mein Carle!«

»Schön!«, grinste ich. »Wie ich sehe, kommt die Idee gut an. Dann will ich mal schnell Maß nehmen, bevor deine Begeisterung wieder nachlässt …«

Ich wirbelte fast wie in alten Schneiderszeiten mit Zentimeterband und Schreibblock um sie herum, machte mir Notizen und fragte nebenbei, ob es schon einen Termin gäbe, denn so ein Kleid brauchte seine Zeit, und ich war gelinde gesagt aus der Übung.

»Weiß nicht«, antwortete Isi. »Vielleicht überrascht mich Aldo morgen damit. Beim großen Vorstellabend.«

Ich nickte und mied ihren Blick – sie bemerkte es sofort.

»Was?«

»Nichts«, antwortete ich schnell.

»Im Sommer!«, beharrte Isi. »Ganz sicher!«

Es klang beinahe trotzig.

Wir fuhren standesgemäß vor in Arturs schönem roten Benz-Coupé mit den geschwungenen Kotflügeln und Arnie als Chauffeur. Der Tag war frühsommerlich warm gewesen, die anbrechende Nacht erfrischte mit duftiger Luft und singenden Vögeln. Hier im Westen, im Villenviertel Grunewald mit den großzügigen Gärten und stillen Straßen, erinnerte nichts an die Tristesse der Wohnkasernen, der Kriegskrüppel oder der verpassten Umstürze. Hier war es grün, nicht grau, friedlich, nicht hasserfüllt, weitläufig und sauber.

Aldos Villa blitzte strahlend weiß im schwindenden Tageslicht, eine kleine Auffahrt gab dem Betrachter genügend Zeit, das Anwesen zu bewundern. Vor dem Eingang standen einige Automobile, darunter Aldos Benz-Monster. Kaum hatten wir gehalten, da flog auch schon die Haustür auf, aus der ein livrierter Diener heraneilte, um uns einzulassen.

Isi lächelte Arnie zu: »Geh in die Küche und lass dich bewirten … Wie sehe ich aus?«

»Wenn Aldo dich nicht heiratet, ich tus, Prinzessin«, antwortete Arnie gelassen.

Isi drehte sich zu uns: »Seht ihr, ihr Trampel: So spricht man mit einer Frau!«

Isi trug ein einfaches, aber elegantes Kleid und war mit unseren verhaltenen Komplimenten, als sie es uns präsentierte, nicht zufrieden gewesen. Vor allem weil ich angemerkt hatte, dass es für diesen Abend vielleicht zu schlicht wäre, ein Einwand, den sie hocherhobenen Hauptes beiseitegewischt hatte: Sie machte sich schick, wenn sie es wollte, nicht, weil irgendein Greis es erwartete.

»Können wir das jetzt hinter uns bringen?«, fragte Artur, der wie ich einen Frack trug und bereits jetzt an seinem eng sitzenden Vatermörderkragen herumnestelte.

Ein weiterer Diener nahm uns im Entree Mäntel und Hüte ab, bevor ein dritter uns in den Salon führte, der festlich eingedeckt und von Herrschaften in Abendgarderobe bevölkert war, die herumstanden und sich unterhielten.

Augenblicklich flachte die Geräuschkulisse ab, Köpfe wandten sich, die Blicke trafen Isi wie Pfeile die Zielscheibe beim Bogenschießen. Neben denen wie Christbäume glitzernden Damen wirkte Isis Garderobe puristisch, den Mienen der Anwesenden nach war sie provozierend falsch gekleidet. Artur, dessen Anblick sichtbar Abscheu und Verunsicherung verursachte, machte die Sache nicht besser. Nur ich fand wohl Gnade im Urteil der von Torstayns, wenn ich sie auch kaum mehr bewegte als ein Lüftchen die Ähren eines Weizenfeldes.

Ein Dienstmädchen mit Schürze und Häubchen huschte aus einer der Nischen des Raumes heran und bot Sekt auf einem Silbertablett dar: Ich nahm mir ein Glas und leerte es in einem Zug. Das hier würde nicht freundlich werden – ich ahnte es bereits jetzt.

Aldo entdeckte uns und eilte freudestrahlend heran: »Da seid ihr ja!«

Er war sichtbar nervös, was mich umso mehr erstaunte, weil ich ihn stets als souverän und weltgewandt kennengelernt hatte. Als einen Mann, den nichts erschüttern konnte. Nun, die hier Anwesenden konnten es augenscheinlich.

Er nahm Isi bei der Hand und führte sie herum: »Cousine Hedwig, das ist Luise! Onkel Otto, Luise!«

So ging er reihum und stellte Isi vor, während Artur und ich im Schlepptau ebenfalls die Cousinen, Cousins, Onkel, Tanten, Neffen, Nichten und zwei jüngere Schwestern Aldos begrüßten. Schließlich standen wir vor seinem Vater Wendell von Torstayn, einem hageren Herrn mit vollem grauen Haar, blauen Augen und unbewegtem Gesicht. Gleich neben ihm seine Frau Victoria, gut aussehend, wie ihr Mann in den Fünfzigern und mit dem Liebreiz der arktischen See an einem eisigen Januartag.

»Vater! Mutter! Das ist sie: Luise Beese.«

Sie zögerten, Isi die Hand zu geben, und ich dachte, dass wir es nicht einmal zum Tisch schaffen würden, wenn ihren abweisenden Blicken jetzt noch eine frostige Begrüßung folgen würde, aber sie besannen sich und rangen sich ein Lächeln ab: »Willkommen, Fräulein Beese!«

Wendell küsste ihr die Hand, Victoria reichte ihr die Fingerspitzen zum Gruß.

Wir setzten uns an eine Tafel für zwanzig.

Aldo und Isi saßen mittschiffs, Wendell und Victoria gegenüber.

Artur und ich wurden neben Isi platziert. Zwei Dienstmädchenpaare flogen herein, die eine hielt die Suppenschüssel, während die andere mit der Schöpfkelle unsere Teller füllte.

Erste Plaudereien kamen auf: Harmlose Themen wie das Wetter oder die schöne Villa, die Aldo bewohnte, wurden verhandelt. Aber auch ein paar Bonmots zur Familie wurden zum Besten gegeben, die, wie mir schien, allein dazu dienten, beiläufig zu erwähnen, in welchen Kreisen man verkehrte beziehungsweise in welchen Verwandtschaftsverhältnissen man zu anderen großen Häusern stand. Besonders Victoria wurde nicht müde, von unfassbar öden Begebenheiten der Großtanten, Neffen oder Vettern vierten Grades zu berichten, die entweder im Haus Hannover, Hessen oder Bayern wandelten. Oder eher gammelten, je nachdem, wie man die Dinge betrachtete.

An diesem Punkt hatte ich noch Hoffnung, dass der Abend vielleicht doch friedlich verlaufen würde, erstarrt in Zwängen und lähmender Langeweile zwar, aber friedlich.

Doch mit dem Hauptgang, exquisite Königinpastete mit Kalbsragout, endete die Zeit des Abtastens. Victoria pickte ein Stück Fleisch auf die Gabel und lächelte Isi an: »Wo haben Sie eigentlich meinen Sohn kennengelernt, Fräulein Beese?«

Ich schluckte.

Das Eden.

Bevor Isi jedoch antworten konnte, kam Aldo ihr zuvor: »Im Theater.«

»Sind Sie Schauspielerin?«, fragte Victoria spitz.

»Manchmal …«, antwortete Isi hintersinnig.

Aldo lachte falsch und antwortete: »Aber nein, Mutter, sie war Gast wie ich. Wir trafen uns im Foyer, nicht wahr, Isi?«

»Isi?«, fragte Victoria.

»Ein Kosename«, nickte Aldo.

»Klingt wie das englische easy«, antwortete Victoria und wandte sich Isi wieder zu. »Sie kennen die Bedeutung?«

Niemand von uns sprach Englisch – Victoria schien es geahnt zu haben.

Mit der nötigen kunstvollen Pause schoss sie die giftige Spitze ab: »Es bedeutet leicht. Oder einfach.«

Niemand sprach, Blicke huschten umher.

Victoria steckte mit einem zufriedenen Lächeln das Stückchen Kalb in den Mund und sah Isi mit unschuldigem Gesicht an.

»Kein Grund, unfreundlich zu werden, Mutter!«, mahnte Aldo.

»Oh! Natürlich nicht«, nickte Victoria, »verzeihen Sie, Fräulein Beese. Es ging mir gerade nur durch den Sinn.«

Isi sah ihr direkt in die Augen: »Na, wohl eher über die Zunge.«

Ein schnorchelndes Geräusch Arturs verriet, dass es ihm gerade noch gelungen war, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Selbst ich, der Konfrontationen hasste, grinste in mich hinein.

Victoria vereiste unsere Seite des Tischs mit Blicken.

Wendell blickte Artur an: »Sie scheinen guter Laune zu sein, Herr Burwitz. Teilen Sie sie doch mit uns!«

Artur lehnte sich zurück und sah von einem zum anderen: Die meisten wandten sich ab, die Maske verfehlte selten ihre Wirkung.

»Warum nicht?«, nickte Artur. »Was würden Sie denn gerne wissen, Herr von Torstayn?«

Wendell, gewohnt, mit Hoheit angesprochen zu werden, starrte Artur unbewegt an.

»Nun, vielleicht verraten Sie uns, womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen?«

Aldo ging nervös dazwischen: »Artur ist Gastronom, Vater. Eine Legende in Berlin!«

»Ist das so?«, fragte Wendell.

»Unbedingt! Wenn du und Mutter euch einmal vergnügen wollt, dann sprecht mit ihm! Artur bringt euch überall rein!«

Wendell sah seinen Sohn kalt an: »Dazu brauche ich sicher keinen Gastronomen, Aldo. Für einen von Torstayn existieren keine verschlossenen Türen.«

Aldo sackte ein wenig in sich zusammen.

Eine gespenstische Stille senkte sich über die Tafel. Nur das verhaltene Messer- und Gabelgeklapper war noch zu hören.

Da nahm Aldo mich ins Visier und lächelte: »Carl! Erzähl doch mal von deiner Arbeit!« Er wandte sich seinen Eltern, aber auch allen anderen zu. »Ihr müsst wissen, Carl ist ein berühmter Kameramann bei der UFA

Den Gesichtern nach zu urteilen waren die meisten wohl überrascht, dass ich einer derart glamourösen Beschäftigung nachging. So stieg ich nicht nur sichtbar im Ansehen der Gesellschaft, sondern sorgte auch wieder für Bewegung am Tisch: Die Geräusche kehrten zurück.

Aldo entspannte sich zusehends, erfreut über den Themenwechsel, der eine angeregte, aber harmlose Konversation versprach.

»Nun, ich … ähm …«, begann ich stockend und spürte, wie die Blicke auf mir brannten.

»Er ist mit vielen berühmten Menschen befreundet!«, half Aldo. »Nicht, Carl?«

»Also, befreundet ist vielleicht ein wenig …«

»So bescheiden!«, rief Aldo lachend. »Aber doch ist es wahr! Mit Lubitsch zum Beispiel. Oder auch mit der Negri!«

»Wie aufregend!«, rief eine jüngere Schwester Aldos, die neben mir saß und gleich einen strafenden Blick ihrer Mutter dafür kassierte.

»Er hat bei Madame Dubarry Kamera geführt!«, wusste Aldo.

»Ja, also, schon, aber …«

»Und!«, triumphierte Aldo: »Stellt euch vor: Bei Lubitschs neuestem Werk wird er auch dabei sein: Anna Boleyn. Nicht wahr, Carl?«

»Ich denke schon, nur …«

»Emil Jannings, Henny Porten!«, nickte Aldo beeindruckt. »Das ist schon was!«

Ich spürte, wie interessiert die Jüngeren am Tisch waren, während die Älteren ratlos schienen, weil ihnen die Filme nichts sagten und sie wahrscheinlich kaum Berührungspunkte mit dem Medium hatten.

»Madame Dubarry?«, fragte da Victoria. »Ist das nicht diese Mätresse, die im Bett des Königs gelandet ist?«

Aldos Lächeln gefror.

Er tat mir wirklich leid. Es war vollkommen gleichgültig, was er auch versuchte: Seine Eltern hatten ihr Urteil längst gefällt.

»Apropos«, wandte sich Victoria Isi zuckersüß zu: »Warum erzählen Sie uns nicht etwas über sich?«

Diesmal ballte sogar ich unter dem Tisch die Fäuste. Die Anspielung war überdeutlich: Isi als Madame Dubarry, die Mätresse des Königs.

»Oder über Ihre Eltern?«, setzte Victoria nach.

Isi schwieg, vermutlich weil sie gerade abwog, ob sie über den Tisch springen und Victoria ihr silbernes Messer ins Herz rammen sollte.

Dann aber antwortete sie kühl: »Sind beide tot.«

»Ihr Vater war Reichstagsabgeordneter!«, merkte Aldo an und lächelte Isi zu, unermüdlich im Bemühen, diesen Abend doch noch irgendwie zu retten.

»Interessant!«, antwortete Wendell. »Für welche Partei?«

»Die NLP, nicht wahr, Liebling?«, sagte Aldo schnell.

Die Nationalliberale Partei hatte vor allem in Ostelbien als Auffangbecken stramm nationaler imperialistischer Großbürger gegolten, die die Sozialdemokratie fürchteten wie der Teufel das Weihwasser.

»Ach ja«, seufzte Wendell, »die NLP

Seit der Revolution gab es sie nicht mehr.

»Und Ihre Mutter?«, fragte Victoria.

Der Ton gab die Richtung vor. Um das nun folgende Fiasko noch abzuwenden, hätte Isis Mutter wenigstens Cousine achtzehnten Grades der Hohenzollern oder zumindest irgendwie mit den Romanows verwandt sein müssen, an deren Schicksal man großen Anteil genommen hatte. Von den Bolschewiken ermordet! Seit der Revolution war eben nichts mehr so, wie es sein sollte: Kaiser, König, Vaterland … alles dahin.

Und ihr Sohn liebte eine Mätresse.

»Meine Mutter?«, fragte Isi zurück und suchte nach den richtigen Worten. »Meine Mutter starb schreiend an Krebs, nachdem ihr mein Vater, der feine Reichstagsabgeordnete der NLP, die Schmerzmittel verweigert hatte. Glücklicherweise erschoss er sich, nachdem auf dem Polterabend zur Feier seiner zweiten Ehe alle erfuhren, was für ein bigotter, verlogener Hurensohn er war.«

Ich glaube nicht, dass irgendjemand am Tisch, außer uns dreien und Aldo, jemals ein solches Wort in freier Wildbahn gehört hatte, aber jetzt galoppierte es so wild ausschlagend über den Köpfen der Anwesenden herum, dass sich die meisten von Torstayns hilflos abduckten. Allein Victoria, die ihre Gabel halb zum Mund geführt hatte, hielt reglos inne, während sich in unendlicher Langsamkeit ein Stückchen Pastete von ihrer Gabel löste und auf den Teller plumpste.

»Übrigens haben Aldo und ich uns in einem Bordell kennengelernt, das Artur betreibt.« Sie blickte Aldos Vater an und lächelte: »Sie sollten unbedingt einmal vorbeischauen, Wendell. Die Tänzerinnen kommen vom Bolschoi-Theater und sind zu Verrenkungen fähig, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigen.«

Aldo schloss die Augen.

Artur lächelte amüsiert.

Dann legte sie ihre Hand auf meine und sagte: »Und wo wir schon dabei sind: Mein lieber Carl hier hat das Kind einer Prostituierten bei sich aufgenommen. Und ich habe ein gutes Jahr wegen Anstiftung zur Rebellion im Gefängnis gesessen.«

Sie blickte von einem zum anderen: »Noch Fragen? Nein? Dann wollen wir uns jetzt verabschieden. Es war wirklich ein ganz zauberhafter Abend. Wir sollten das unbedingt wiederholen!«

Sie stand auf, genau wie wir.

Gemeinsam verließen wir den Tisch.

Der Rest blieb sitzen.

Auch Aldo, der offensichtlich nicht mehr die Kraft hatte, irgendetwas zu tun.

Draußen trafen wir auf Arnie, der freundlich fragte: »Und? Wie wars?«

»Bestell das Aufgebot, Arnie! Wir können heiraten!«, fauchte Isi, marschierte an ihm vorbei, riss die Tür auf und setzte sich mit verschränkten Armen auf den Beifahrersitz.

Arnie sah zu uns: »So gut?«

Wir zuckten ratlos mit den Schultern.

Dann stiegen wir ins Auto und fuhren nach Hause.

54

Ein paar Tage herrschte totale Funkstille: Isi schmollte, und Aldo meldete sich nicht. Um sie nicht noch weiter zu reizen, verschonten Artur und ich sie mit Wir habens ja leich gewusst-Klugscheißereien und mieden das Thema komplett, zumal es in diesen Tagen auch durchaus anderes gab, das die allgemeine Stimmung drückte, nämlich die Konferenz von Boulogne. Wie in anderen Konferenzen auch hatten dort die Siegermächte über Deutschland beratschlagt und diesmal zusätzliche Reparationszahlungen beschlossen.

Als die Summe bekannt wurde, detonierte im Reich das pure Entsetzen: Unvorstellbare zweihundertneunundsechzig Milliarden Goldmark sollten zu den bereits mit dem Versailler Vertrag auferlegten zwanzig Milliarden Goldmark hinzukommen. Zahlbar in zweiundvierzig Jahresraten bis ins Jahr 1962.

Diese Forderung war so absurd, so maßlos, dass sie auch die politisch gemäßigten Kräfte im Reich auf die Barrikaden brachte. Sogar Artur und Isi waren geschockt. Ich erinnere mich an eine Diskussion, die sich entfaltete, weil mir, ungläubig staunend über die Summe, die Bemerkung »Du meine Güte, hier darfst du aber echt keinen Krieg verlieren!« herausgerutscht war.

Die beiden hatten mich in einer Art und Weise angesehen, dass mir schnell gewahr wurde: Diese Art von Humor war im Moment nicht gefragt.

»Dir ist schon klar, dass wir damit in die nächste Katastrophe steuern?«, zischte Isi wütend.

»Wir haben das in Brest-Litowsk mit den Russen genauso gemacht!«, gab ich zu bedenken.

»Es geht aber nicht darum, was war, sondern allein darum, was sein wird!«, fauchte Isi. »So wird es niemals Frieden geben! Der Krieg geht weiter. Nur mit anderen Mitteln.«

»Wieso?«

»Weil die anderen voller Hass sind. Und hier entsteht auch immer mehr Hass! Was soll dabei rauskommen?«

Sie hatte leider recht. Die SPD hatte bei der letzten Wahl die Mehrheit verloren, wobei die Schlächtereien der Noske-Garden natürlich eine Rolle gespielt hatten, aber vor allem die Empörung über den Versailler Vertrag. Die Zuschreibung der alleinigen Kriegsschuld hatte es den rechten Parteien sehr leicht gemacht, gegen die Ratifizierung zu agitieren, obwohl sie genau wussten, dass die Regierung überhaupt keine Wahl gehabt hatte. Wie würden sie jetzt erst triumphieren, wenn sie zu Recht damit argumentieren konnten, dass diese zusätzlichen Forderungen einem ganzen Volk die Zukunft nahmen?

Artur nickte: »Selbst wenn wir unsere Industrie oder Bergwerke noch vollständig hätten, könnten wir diese Summe nicht zahlen. Niemand kann das. Es sei denn, wir fangen an, das Geld selbst zu drucken.«

»Vielleicht besinnen sie sich ja …«, antwortete ich matt.

»Hast du bisher das Gefühl, dass sie das vorhaben?«, fragte Isi kühl.

Ich schwieg und musste mir daraufhin von Isi einen Vortrag anhören, dass ich, wenn ich mich denn für Politik interessieren würde, die Zusammenhänge auch selbst begreifen würde. Ich dagegen fand, dass man mir den Rückzug in die schillernde Fiktion des Glashauses als sinnvolle Alternative zur bitteren Realität wirklich nicht anlasten konnte, weil die liebe Politik die Welt erst in einen Weltkrieg und anschließend in immer neues Chaos geführt hatte. Ganz offensichtlich war niemandem zu trauen und damit jede Anteilnahme sinnlos, weil sich weder für mich noch für sonst wen irgendetwas je ändern würde.

Vielleicht hätte ich es weniger ignorant formulieren können, aber Isi lief jetzt richtig heiß, sodass ich nach einer halben Stunde mit einer billigen Ausrede aus dem Haus floh, um mir die Füße so lange zu vertreten, bis sie wieder heruntergekühlt war.

Der Zufall wollte es, dass ich vor dem Bahnhof Frankfurter Allee Phillip sah. Aus der Entfernung winkte ich ihm zu, aber er bemerkte mich nicht und schlich mit gesenktem Kopf weiter über den Vorplatz. Es gefiel mir nicht, ihn so bedrückt zu sehen, und da ich außerdem keine Lust hatte, mir zu Hause weitere Vorträge anzuhören, ging ich ihm heimlich nach, denn trotz aller Niedergeschlagenheit schien er nicht ziellos zu sein.

So folgte ich ihm mit gebührendem Abstand, bog mal in diese, mal in jene Straße, bis wir plötzlich die Mauern des Zentralfriedhofs Friedrichsfelde in Lichtenberg erreichten und er dort in einem Seiteneingang verschwand. Irritiert fragte ich mich, ob er vielleicht Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg aufsuchen wollte, die hier beide begraben lagen, aber er passierte ihre Ruhestätten, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und hielt gut fünfzig Meter weiter. Den Kopf auf die Brust gesenkt, begab er sich in stumme Zwiesprache mit dem, der dort lag.

Ich dagegen wartete am Grab der beiden Revolutionäre, starrte auf die schmucklosen Steine und sah ihre letzten Momente vor mir, deren stiller Zeuge ich gewesen war. War das wirklich erst eineinhalb Jahre her? Mir schien das alles plötzlich wie aus einer anderen Epoche. Ob sie heute, mit kühlerem Kopf, immer noch versuchen würden, einen Sturz herbeizuführen, den das Volk gar nicht gewollt hatte? Oder wäre ihr Stern ohne den Aufstand im parteipolitischen Gezänk verglüht?

Phillip hatte sich mittlerweile bekreuzigt und war weitergegangen, sodass ich zu der Stelle aufschloss, an der er innegehalten hatte: ein Grabstein, zwei Namen. Fritz Curecken, Emmi Curecken. Geboren 1908 und 1910. Gestorben 1919. Beide im Frühjahr, mit nur drei Tagen Abstand.

Das mussten seine Kinder sein.

Was war ihnen wohl zugestoßen?

Krankheit, Kämpfe, Hunger?

Ich blickte mich um, aber Phillip war schon nicht mehr zu sehen.

So kehrte ich zurück nach Hause und traf im Wohnzimmer zu meiner Überraschung auf eine beschwingte Runde: Isi, Artur und Aldo. Sie hielten alle ein Glas Wein in der Hand und grinsten, als ich verwundert an sie herantrat.

»Rat mal?«, fragte Isi fröhlich.

»Was denn?«

Isi nickte Aldo zu: »Sag du es ihm!«

»Ich bleibe dabei: Ich werde Isi heiraten!«, verkündete der feierlich.

»Und deine Familie?«, fragte ich staunend zurück.

»Kann mich mal!«, behauptete er fest.

»Nicht schlecht, oder?« Isi grinste.

Ich nickte beeindruckt und gab ihm die Hand: »Dann gratuliere ich!« Artur reichte mir ein frisches Glas. »In diesem Sinne: auf das glückliche Paar!«

Wir stießen an.

Isi lachte.

Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich daran, dass alles gut werden würde.

55

Später traf ich Artur im Arcasi und schilderte mein Erlebnis auf dem Friedhof und auch, wie mir Isis Vortrag die Augen geöffnet hatte. Es war falsch, Krieg mit anderen Mitteln fortzuführen, und das galt nicht nur für Nationen, sondern auch für Menschen. Nur wer den Schmerz überwand, wer nach Versöhnung strebte, war in der Lage, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich einer Zukunft zuzuwenden. Daher fand ich, dass Phillip eine Chance verdient habe.

Artur sah mich lange an.

Dann aber nickte er: »Du hast recht.«

Ich hob erstaunt die Augenbrauen: »Ich hab recht? Einfach so?«

Er grinste: »Du hast ziemlich oft recht, Carl. Das Problem ist nur, dass die Welt, in der wir leben, meistens im Unrecht ist und es auch durchsetzt.«

»Hast du vielleicht etwas für ihn?«, fragte ich.

»Er kann hier als Thekenkraft arbeiten. Die Bezahlung ist nicht besonders, aber wenn er gut mit Gästen kann, kommt richtig was an Trinkgeldern rein.«

»Danke.«

Er zuckte mit den Schultern: »Wir werden sehen, wie er sich anstellt.«

Gut gelaunt war ich schon im Begriff, das Arcasi wieder zu verlassen, als er mir nachrief: »Carl?«

Ich drehte mich um: »Ja?«

»Du triffst ihn ziemlich oft. Ich meine: so ganz zufällig.«

»Und?«

Wieder zuckte er mit den Schultern: »Nichts, es fällt mir nur auf.«

Ich maß seiner etwas rätselhaften Bemerkung keine Bedeutung zu, sondern freute mich wenig später zu sehen, wie Phillip geradezu ein Stein vom Herzen fiel, als ich ihm die gute Nachricht brachte. Er versprach, mir keine Schande zu bereiten, und auch Elisabeth dankte mir überschwänglich. Ich hörte das Husten seiner Frau nebenan und sagte: »Deine Frau muss hier unbedingt raus.«

Phillip nickte knapp.

Voller Tatendrang legte er los.

Für die Gastronomie aber musste man geboren sein.

Die Abende waren lang, die Nächte noch länger, und im Gegensatz zu seinen Gästen musste ein Budiker nüchtern bleiben, denn die, die das nicht konnten, ruinierte es.

Ein guter Gastronom war taub für den Lärm der Betrunkenen und hellhörig für die Sorgen der Stammgäste. Geduldig mit denen, die außer dem Mann an der Theke keinen Abnehmer für ihr besoffenes Gefasel fanden, und gut gelaunt bei jenen, die erwarteten, dass man über jeden noch so hohlen Witz lachte. Er entspannte die Nervösen, besänftigte die Wütenden und ermunterte die Trübsinnigen. Kannte die Namen, die Berufe, die Schicksale – war Freund, Ratgeber und manchmal auch Rausschmeißer. Das alles musste er sein, und wenn er seine Rolle gut spielte, merkten die Gäste nicht einmal, dass sie ihn für all das mit ihrem Trinkgeld bezahlten.

Phillip dagegen tat sich schwer.

Es fehlte ihm an Jugend.

An Frische.

An Schlagfertigkeit.

Er war ein Mann in den Fünfzigern, der von klein auf gelernt hatte, dass andere für ihn arbeiteten, dass andere mit guter Laune aufwarteten, wenn er selbst keine hatte. Dass man ihm zuhörte, ohne dass er selbst zuhören musste.

Und so war es wenig verwunderlich, dass allmählich die Skepsis ihm gegenüber wuchs, dass man ihn für humorlos hielt und wenig empathisch. Ein Kerl, bei dem Gespräche nie auf eine Pointe zusteuerten, von dem kein Witz zu erwarten war und dem nie eine passende Replik auf ein freches Wort einfiel. Einer, der gewissenhaft seine Arbeit erledigte, der den Bestellungen zügig nachkam, der freiwillig Gläser polierte oder Aschenbecher leerte, ohne dass man ihm das sagen musste. Aber keiner, der innehielt, nachfragte, zwinkerte oder im Berliner Idiom eine Vertrautheit schaffen konnte.

Phillip erfüllte seine Pflicht, aber wenn er betrunkene Sprüche abbekam, sah er manchmal so verletzt aus, als wüsste er nicht, dass das, was zu später Stunde so leichtfertig durch den Raum geflogen war, sich im Qualm der Zigaretten und im scharfen Geruch des Schnapses bereits auflöste, bevor es überhaupt in die Herzen sinken konnte.

Schnell dünnten die Trinkgelder aus.

Ihm blieb zwar der Stundenlohn, doch der war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Erst recht, da er zu Hause eine Schwerkranke und eine Mutter zu versorgen hatte.

Eines späten Nachmittags, ich war gerade vom Glashaus zurück, klopfte Artur an unsere Tür und trat ins Wohnzimmer.

»Wir müssen über Phillip reden«, sagte er.

»Was ist denn?«

»Ich glaube, das Arcasi ist nicht das Richtige für ihn.«

Seufzend setzte ich mich in einen Sessel und nickte: »Hat er was angestellt?«

»Nein. Aber die Gäste mögen ihn nicht – und ehrlich gesagt: Ich mag ihn auch nicht.«

»Schmeiß ihn nicht raus, Artur. Er hat es wirklich schwer.«

»Er ist nicht gut fürs Geschäft, Carl!«

»Aber es geht dir doch gut! Er stört doch nicht weiter!«

»Darum geht es nicht, Carl. Wir alle müssen funktionieren: Du, ich, Isi. Was glaubst du, was passiert, wenn sie bei der UFA nicht mehr mit dir zufrieden sind? Wird dann auch einer sagen: ›Ach, den schleppen wir weiter durch! Uns gehts ja gut‹?«

»Gib ihm noch ein paar Wochen, ja? Ich spreche mit ihm.«

Artur seufzte.

»Hast du nicht selbst gesagt, dass ich meistens recht habe? Nur die Welt da draußen nicht?«

»Ich habs dir nicht gesagt, damit du es gegen mich richtest«, maulte er.

»Bist ein guter Mensch, Artur. Du wirst sehen: Er zahlt es dir zurück. Ganz sicher!«

Einen Moment lang zögerte er, dann sagte er: »Da ist noch etwas …«

»Ja?«

»Einer meiner Leute hat einen alten Herrn aus Riga aufgetan. Er ist sich sicher, die Familie Curecken zu kennen. Vielleicht solltest du mal mit ihm reden.«

Ich nickte: »Wo finde ich ihn?«

»Er ist jeden Tag im Café Datscha. In der Tauentzienstraße.«

Artur nannte mir noch seinen Namen, dann stand er auf und ging.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

56

Es mussten mittlerweile Hunderttausende sein, die vor dem Bürgerkrieg und dem Wüten der Bolschewiki aus Russland geflohen waren: Reiche, Arme, Politische, Unpolitische, Künstler, Intellektuelle, Deserteure. So viele, dass Berliner Witzbolde Charlottenburg, wo die meisten Dissidenten lebten, in Charlottengrad umbenannt hatten. Selbst die Schaffner in der Elektrischen kündigten ab dem Wittenbergplatz die nächste Haltestelle zuweilen mit Nächster Halt: Moskau an.

Das Datscha mit der Nummer zehn lag genau zwischen den Häusern zweier prominenter Berliner, von denen einer gar keiner war: Emil Nolde lebte in der Acht, der Künstler aus Norddeutschland, mit dessen Bildern ich genauso wenig anfangen konnte wie mit den frühen Ansichten Gustav Stresemanns aus der Zwölf, dem ich in jenen ersten Jahren des Jahrzehnts ebenso misstraute wie seiner Partei, der DVP.

Ansonsten war die Tauentzien eine ausgesprochen hübsche Straße mit vielen Gründerzeithäusern, mit je einer Spur für Automobile, getrennt durch einen alleenhaften Flanierstreifen in der Mitte, an dem die Elektrische rechts und links vorbeiruckelte. Von der einen Seite hatte man dort einen schönen Blick auf die Gedächtniskirche und auf der anderen auf den Wittenbergplatz, wo es einen riesigen Schwarzmarkt gab, auf dem man absolut alles kaufen konnte, außer vielleicht Prostituierte, weil die vor allem in der Augsburger nebenan patrouillierten. Für deutlich mehr Geld als hinter dem Schlesischen.

Ich trat in ein schmales Café, in dem fast ausschließlich Männer über ihren Gläsern hockten und sich entweder betranken, Schach spielten oder lasen. Alle rauchten, sodass das Sonnenlicht bläulich im Raum waberte. Am Tresen fragte ich eine junge Bedienung nach dem Mann, den ich suchte, und obwohl sie nur Russisch sprach, verstand sie mich doch und zeigte auf einen Alten mit grauem Bart, runder Brille und einem aus der Mode gekommenen, aber tadellos gepflegten Anzug.

»Herr Rosenberg?«, fragte ich und drehte ein wenig unschlüssig meinen Hut in den Händen.

Er sah zu mir auf: »Ja?«

»Carl Friedländer. Sohn des Schneiders Friedländer aus Riga.«

Einen Moment starrte er mich an, dann huschte ein Lächeln um seinen Mund: »Sie sehen Ihrem Vater nicht besonders ähnlich …«

Mein Herz tat einen kleinen Hüpfer: Er kannte Papa! Obwohl mein Vater mir so viel von seiner Schneiderei am Domplatz in Riga erzählt hatte, wusste ich nichts von dem, was sein Leben dort sonst noch ausgemacht hatte. Und jetzt saß da jemand, der ihn gekannt hatte.

»Setzen Sie sich doch, Herr Friedländer.«

Er sprach wie Phillip ein eigenartiges, etwas altertümliches Baltikum-Deutsch.

»Was kann ich für Sie tun?«

Ich bestellte Tee und bot auch ihm ein Getränk an, das er gerne annahm.

»Ich würde gerne mit Ihnen über meinen Vater sprechen«, begann ich vorsichtig, nachdem man uns alles gebracht hatte. »Ich bin ein wenig, wie soll ich sagen: auf Spurensuche.«

»Wie kann ich helfen?«

»Mein Vater hat mir viel über Riga erzählt. Aber nie, warum er es verlassen hat.«

»Wohin ist er denn gegangen?«, fragte Rosenberg interessiert.

»Thorn.«

»Ah, schöne Stadt.«

Ich nickte: »Schon, nur … ich würde gerne wissen, wieso ich nicht in Riga aufgewachsen bin.«

Er sah mich fragend an.

»Bitte verzeihen Sie mir, ich will versuchen, etwas klarer zu werden. Mein Vater hatte eine sehr gut gehende Schneiderei in Riga. Das stimmt doch?«

Herr Rosenberg nickte. »Die größte, soweit ich weiß.«

»Warum hat er sie dann aufgegeben? Ich meine, so was macht man doch nicht einfach so, oder?«

Herr Rosenberg schien nachzudenken, dann sagte er: »Das stimmt. Aber ich fürchte, es blieb ihm damals gar nichts anderes übrig.«

Gespannt sah ich ihn an: »Darf ich fragen, warum?«

»Das war eine sehr unschöne Geschichte. Ich glaube, es fing damit an, dass Ihr Herr Vater heiraten wollte.«

»Amelie Curecken.«

Er nickte: »Eine entzückende junge Dame.«

»Und was ist passiert?«

»Nun, vieles von dem, was damals so erzählt wurde, stellte sich später als Lüge heraus. Zu dem Zeitpunkt aber haben es die Leute geglaubt.«

»Was geglaubt, Herr Rosenberg?«, fragte ich.

»Zuerst hieß es, Ihr Vater hätte sich Amelie willfährig gemacht, um durch eine Heirat gesellschaftlich aufzusteigen. Und vor allem: sich damit eine üppige Mitgift zu sichern. Amelie aber war eigentlich einem Grafen versprochen, der zu dieser Zeit um sie freite. Als die Gerüchte immer lauter wurden, trat der Graf von seinem Heiratsversprechen zurück, und die Hoffnung der Cureckens, in den russischen Adel aufzusteigen, platzte wie eine Seifenblase.«

Ich runzelte die Stirn: »Aber das ist doch bloß Klatsch? Deswegen gibt man doch kein Geschäft auf und zieht fort?«

»Deswegen nicht, nein. Aber als sich die geplante Hochzeit mit dem Grafen zerschlug, hieß es plötzlich, Ihr Vater hätte Amelie Gewalt angetan. Und dass sie deswegen in anderen Umständen wäre. Sogar die Polizei ermittelte, aber nachgewiesen wurde ihm davon nichts.«

»Das ist eine infame Lüge!«, rief ich wütend.

Die Männer an den Nachbartischen drehten sich neugierig zu uns, wandten sich aber wieder ihren Tassen zu, als nichts weiter geschah.

Nach einer Weile sagte Herr Rosenberg leise: »Ein jüdischer Schneider und eine reiche Bürgerstochter, die einen Grafen hätte haben können … Für die Leute war klar, dass an den Gerüchten etwas dran sein musste. Sie konnten nicht glauben, dass sich Ihre Eltern wirklich geliebt haben.«

»Aber das haben sie!«

Herr Rosenberg tätschelte beruhigend meine Hand und sagte: »Wenn es Ihnen ein Trost ist: Ich habe diese Gerüchte nie geglaubt. Ich kannte Ihren Vater nicht gut, aber immerhin genügend, als dass ich ihm eine Vergewaltigung niemals zugetraut hätte. Außerdem habe ich die beiden zu verschiedenen Gelegenheiten gesehen und will Ihnen gerne bestätigen, dass ich nie ein verliebteres Pärchen erlebt habe.«

»Danke«, antwortete ich leise.

»Dennoch redeten die Leute. Es hörte einfach nicht auf, und letztlich ruinierten sie den Ruf Ihres Vaters vollständig. Niemand ging mehr zum Friedländer, niemand sprach mehr mit ihm, nicht einmal grüßen wollte man ihn. Eine Weile hielt er durch, dann verkaufte er alles, weit unter Preis, und zog mit Amelie fort.«

Ich schluckte hart: »Das hat er mir nie erzählt …«

»Das Ganze ist sicher nichts, was man seinem Sohn mitteilen möchte. Leben Ihre Eltern noch?«, fragte Herr Rosenberg.

Ich schüttelte den Kopf: »Meine Mutter starb bei meiner Geburt, mein Vater vor dem Krieg.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut. Immerhin weiß ich jetzt, was passiert ist.«

»Ihr Vater war ein guter Mensch, Herr Friedländer. Aber gegen das Gerede war er machtlos.«

Ich nickte traurig.

Dann fragte ich: »Nur eines noch: Wissen Sie, wer an der Intrige gegen meinen Vater beteiligt war?«

Herr Rosenberg dachte lange nach, dann antwortete er: »Nein. Es hieß lange, dass Eduard Curecken, der alte Herr, so enttäuscht von Amelie war, dass er sie nicht nur verstieß, sondern auch enterbte. Es hieß aber auch, dass er sich von dem Schock nie erholt habe. Er starb ein knappes Jahr später. An gebrochenem Herzen, sagte man.«

Ich stieß spöttisch Luft aus.

»Es muss in Ihren Ohren lächerlich klingen, Herr Friedländer.«

»Und Phillip? Sein Sohn?«

»Soweit ich weiß, standen er und Amelie sich nahe. Es hieß, er hätte seiner Schwester beigestanden, aber es wurde so viel geredet! Die ganze Stadt hat sich über Monate das Maul zerrissen. Wer weiß schon, was stimmte und was nicht. Wahr ist nur, dass die Zeit uns alle eingeholt hat. Die Sünder, die Heiligen und die dazwischen. Nichts ist mehr, wie es war. Die, die nicht tot sind, haben sich angepasst oder sind geflohen. Viele von ihnen mit kaum mehr als dem, was sie tragen konnten.«

Eine Weile schwiegen wir.

Dann erhob ich mich und gab ihm die Hand: »Ich danke Ihnen, Herr Rosenberg.«

»Nichts zu danken. Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»Ja?«

»Versuchen Sie, Frieden zu finden. Sehen Sie mich an: Ich bin ein alter Mann und werde meine Heimat nie wiedersehen. Aber es ist nicht alles gut, was man verlässt, und nicht alles schlecht, was neu in ein Leben tritt. Zum Schluss werden wir alle begraben sein, und nichts von dem, was einmal wichtig war, ist dann noch von Belang. Leben Sie im Hier und Jetzt! Das ist mein Rat!«

Ich lächelte ihn an.

Da schmunzelte er: »Gerade sehen Sie Ihrem Vater doch etwas ähnlich, Herr Friedländer. Der Sohn von Carl und Amelie. Wer hätte gedacht, dass wir uns je kennenlernen würden?«

»Wir mussten beide erst unsere Heimat verlieren …«

Er nickte: »Sehen Sie! Das Hier und Jetzt!«

»Das Hier und Jetzt!«, bestätigte ich.

57

Ein seltsamer Friede erfüllte mich nach diesem Gespräch.

Wie der ruhige Atem eines Mannes, der nach einem harten Tag zufrieden einschläft. Das, was war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ich begriff, dass Papa die wahren Umstände seiner Flucht aus Riga für sich selbst so verklärt hatte, dass nur noch die Romanze geblieben war: Meine Mutter hatte sich aus Liebe zu ihm gegen einen Grafen entschieden.

Nichts weiter.

Wenn ihm also diese Vergangenheit genug war, warum sollte sie mir dann nicht reichen? Warum nicht an diesem einzigen, wunderbaren Gedanken festhalten, dass die beiden niemanden gebraucht und mit Freuden denen den Rücken gekehrt hatten, die ihnen Böses wollten?

Auf dem Weg zurück machte ich halt im Arcasi, in dem sich in diesen frühen Abendstunden nur wenige Besucher verloren. Phillip polierte gerade Gläser und begrüßte mich mit einem Lächeln.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er.

Ich bestellte ein Bier, sah ihm beim Zapfen zu und hing meinen Gedanken nach.

Wie anders doch das Leben vor dem Krieg war und noch einmal anders in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts! Alles hatte seinen Platz gehabt, seine Ordnung. Ein Schneider war ein Schneider. Ein Graf war ein Graf. Eine reiche Bürgerstochter eine reiche Bürgerstochter.

Das Etikett des Lebens.

Unabänderlich.

Es sei denn, man kam zu Reichtum.

Dann wurde aus dem Bauern ein Großgrundbesitzer, aus dem Krämer ein Kaufmann, aus dem Schneider vielleicht ein Immobilienfürst. Mit dem Geld ließ sich für die eigenen Kinder ein anderes Etikett erwerben, sie stiegen auf, während man selbst trotzdem immer nur der Bauer, Krämer oder Schneider blieb. Das alte Ich nur durchgestrichen, das neue von Hand darübergeschrieben.

Für jeden gut sichtbar.

Ganz gleich, wie prächtig man sich kleidete.

»Ich muss mit dir sprechen, Phillip.«

Er sah so erschrocken aus, dass ich eine Vorstellung davon bekam, wie er wohl reagierte, wenn ihm die harten Burschen von Vergissmeinnicht oder einfach nur ein paar Betrunkene mit flotten Sprüchen kamen.

»Ist etwas passiert? Hab ich was falsch gemacht?«, fragte er hastig.

»Hm«, machte ich und versuchte, ihm mit einem Lächeln ein wenig die Angst zu nehmen. »Gerade eben zum Beispiel.«

»Was?«, fragte er irritiert.

»So wie du auf mich reagiert hast, Phillip.«

»Ich verstehe nicht …«

»Sieh dich um! Du arbeitest im angesagtesten Lokal weit und breit. Die Leute kommen hierher, um den Alltag zu vergessen. Sie wollen animiert werden, nicht deprimiert. Du musst einfach ein bisschen lockerer werden. Mit ihnen scherzen. Und wenn sie dir zu nahe treten, dann lächle es weg oder erwidere etwas Witziges. Verstehst du?«

»Artur will mich entlassen, oder?«, fragte er niedergeschlagen.

»Siehst du: Das meine ich. Du darfst dir hier nicht alles zu Herzen nehmen. Das ist ein Amüsierbetrieb. Und du bist ein Teil davon.«

Er senkte den Blick.

Dann sagte er ohne Überzeugung: »Ich versuche es! Ich verspreche, dass ich mich bessern werde.«

Leise seufzend trank ich von meinem Bier.

Phillip würde sich kaum von heute auf morgen ändern können.

Dann aber sah er auf, blickte verstohlen nach links und rechts, bevor er mich zu sich heranwinkte: »Es gibt da übrigens etwas, das du wissen solltest. Oder eigentlich Artur, aber du kannst es ihm ja sagen …«

»Ja?«

Er blickte zur Tür, an der Anna später am Abend die Gäste begrüßen würde.

»Es geht um Anna.«

»Ja?«

»Sie spricht schlecht über Artur.«

Das kam so überraschend, dass ich ihn anstarrte, als hätte er den Verstand verloren.

»Wie bitte?«

»Es ist wahr, Carl!«

Einen Moment hielt ich inne, dann fuhr ich ihn scharf an: »Pass mal auf, Phillip. Ich meine es nur gut mit dir, aber wenn du glaubst, du verbesserst deine Situation, wenn du andere schlechtmachst, dann fliegst du hier noch heute raus! Hast du mich verstanden?«

Er schluckte und schüttelte schnell den Kopf: »Nein, nein, Carl, bitte versteh mich nicht falsch! Ich will doch nur …«

Er hielt inne und sammelte sich.

»Ich hätte dir das schon viel früher sagen sollen, aber ich bin neu hier und dachte am Anfang, dass der Umgangston halt ein bisschen rau ist. Und ich wollte auch niemanden verraten, doch ich schwöre dir Carl, bei allem, was mir heilig ist: Anna spricht schlecht über Artur. Und außerdem auch über …«

»Ja?«

»Hans. Es tut mir wirklich leid, Carl. Wir sind Familie, auch wenn wir uns kaum kennen. Ich erfinde das nicht, bitte glaub mir!«

Während Wut in meinem Bauch brannte und meine Gedanken wild rasten, blickte ich Phillip stumm ins Gesicht, konnte aber beim besten Willen keine Arglist ausmachen. Er sah eher noch erschrockener aus als zu Anfang unseres Gespräches, jedenfalls nicht wie ein Mann, der mir freche Lügen auftischte, um seine Haut zu retten.

»Was sagt sie über Hans?«, zischte ich mühsam kontrolliert.

»Beruhige dich, Carl. Bitte!«

»Was sagt sie?!«

Er nickte scheu und flüsterte fast: »Dass sie keine Lust mehr habe, auf den kleinen Blödmann aufzupassen. Dass sie kein Kindermädchen sei und sich besser mal eine Krankenschwester um den Kleinen kümmern sollte.«

»Das hat sie dir gesagt?!«, fauchte ich.

Er schüttelte den Kopf: »Nein, nicht mir. Ich habe es nur zufällig mitbekommen. Sie hat es einem Gast gesagt.«

»Welchem Gast?«

»Ich weiß es nicht. Irgendeinem. Es war schon spät. Und sie war wohl auch nicht mehr ganz nüchtern.«

»Und was hat sie über Artur gesagt?«

»Nur, dass er gerne den Chef geben würde, sie aber die ganze Arbeit hätte. Dass ohne sie hier nichts laufen würde. Und dass sie viel zu wenig verdient. So etwas in der Art!«

»Zu wem hat sie das gesagt?«, fragte ich scharf.

»Zu einem Budiker.«

»Und der hat dir das gesagt?«

Phillip sah sich wieder verstohlen um.

»Die trauen mir nicht. Jedenfalls reden die kaum mit mir. Aber ich hab sie tuscheln hören.«

»Die?«

»Ein paar, die hier arbeiten. Anna hat sie wohl auf ihre Seite gezogen.«

Ich starrte ihn an und fragte mich, ob ich ihm trauen konnte. Andererseits: Warum sollte er etwas in die Welt setzen, was sehr leicht als Lüge zu entlarven wäre? War er wirklich so verzweifelt, oder sagte er einfach nur die Wahrheit?

Artur vertraute Phillip nicht, warum aber Anna? Nur weil sie aus Thorn kam? Hatte Artur nicht selbst einmal gesagt, dass man Prostituierten keinen Glauben schenken konnte? Warum dann ihr? Aber war es wirklich vorstellbar, dass sie ein Komplott gegen Artur schmiedete? Gegen jemanden, der mit Silber-Kurt fertiggeworden war? Mit Vergissmeinnicht? Würde sie das wirklich wagen?

Unvorstellbar.

Ohne es zu bemerken, schüttelte ich den Kopf.

»Ich hätte es dir nicht sagen sollen, Carl. Du glaubst mir nicht … Wahrscheinlich würde ich mir selbst auch nicht glauben.«

Er nahm die Schürze ab.

»Sag Artur, dass er aufpassen muss. Und dir möchte ich für deine Hilfe danken, Carl. Ich werde das nie vergessen.«

Da hielt ich ihn fest und sagte: »Bleib! Ich werde mit Artur sprechen. Er wird entscheiden, niemand sonst.«

Er nickte scheu und band sich die Schürze wieder um.

An der Tür hörte ich eine Frau lachen.

Die Nachtigall war da.

Fertig für die Nacht.

58

Zu Hause traf ich Isi und Aldo in Hochstimmung.

Mit geradezu kindlichem Vergnügen planten sie die Hochzeit, zählten auf, was gemacht werden sollte, was gekauft werden musste, was wie zelebriert werden könnte, auf dass es die herrlichste Hochzeit aller Zeiten werden würde, gefeiert von Berlins schillerndstem Paar. Ein Tag mit Konfettiregen und Feuerwerk sollte es werden, und Isi schien über ihre Begeisterung für all dies nun vollends vergessen zu haben, dass sie eigentlich eine Revoluzzerin war.

Es standen schon reichlich leere Sektflaschen auf dem Boden, als ich eingetreten war, und sogleich wurde ich genötigt, mit ihnen zu trinken, mit ihnen herumzualbern, um dann meine Vorstellungen für ihre Hochzeit kundzutun.

»Also, mir würde ein kleines Fest reichen«, sagte ich lächelnd und erntete von Aldo ein »Pah!« und von Isi gleich eines hinterher.

»Ein Spektakel wird das!«, rief Aldo gut gelaunt. »Das wird in der Zeitung stehen, so groß wird das!«

»Genau!«, bestätigte Isi.

Ich grinste sie an: »So ein Fest willst du? Ausgerechnet du?«

Isi winkte ab: »Wie hat Artur so schön bei der Eröffnung des Arcasi gesagt: Heute feiern wir, morgen dann wieder Politik! Menschen, die nur eines können, sind langweilig. Man sollte von allem etwas sein!«

»Na gut!«, lächelte ich und stellte mein Glas zur Seite. »Ich seh mal nach Hans.«

»Och komm, bleib«, bat Isi.

»Ich komme später wieder. Ich muss eh noch was mit dir besprechen.«

Hans schlief bereits, als ich an sein Bett trat.

Eine Weile betrachtete ich ihn, dann, aus einem Impuls heraus, schob ich seinen Schlafanzug hoch, um zu sehen, ob er vielleicht blaue Flecken haben könnte wie damals bei Frau Meng, aber es war nichts zu entdecken. Unabhängig davon, was ich Anna zutraute und was nicht, Hans machte mir Sorgen. Am Ende des Sommers würde er in die Schule kommen.

Wie sollte er da nur Fuß fassen, so still, wie er war?

Zwar hatte sich sein Zustand verbessert, und musikalisch bewies er wenn nicht Talent, dann wenigstens Durchhaltevermögen, sodass unsere Musikstunden, in denen wir einander nahe sein konnten, für mich mittlerweile zu den Höhepunkten meiner Woche zählten. Aber in seinem jungen Leben hatte er viel durchmachen müssen: Er hatte dem Tod der eigenen Mutter beigewohnt, eine Kinderfrau gehabt, die ihn geschlagen, und eine andere, die ihn im Gedränge zurückgelassen hatte. Und jetzt war da eine, die ihn vielleicht nicht mochte. Die möglicherweise herumerzählte, dass er nicht ganz richtig im Kopf wäre und sie ihre Zeit mit ihm verschwendete. Würde ein Kind eine solche Abneigung, selbst wenn Anna sie überspielte, nicht spüren?

Warum mochte ihn denn keiner?

Was hatte er denn getan?

Sogar Isi hielt immer noch freundliche Distanz zu ihm.

Eine Weile blieb ich bei ihm, dann verließ ich sein Zimmer und kehrte zu Isi zurück, die mittlerweile wieder alleine war und ein wenig torkelnd versuchte, die Sektflaschen zu entsorgen.

»Ich würde gerne deine Meinung hören …«, begann ich ruhig.

»Zu was denn?«

Ich bat sie, sich zu setzen, und erzählte vom Gespräch mit Phillip. Zwischendurch machte sie ein empörtes Gesicht, als ich endete, schwieg sie jedoch. Dann stand sie auf, verließ das Wohnzimmer, das Haus und kehrte fünf Minuten später wieder zurück.

»Was hast du gemacht?«, fragte ich.

»Artur im Eden angerufen. Er ist in einer halben Stunde hier.«

Ich nickte.

»Glaubst du Phillip?«, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern: »Was mich so irritiert, ist, dass Phillip eigentlich ohne jedes Selbstvertrauen ist. Er ist so ängstlich, dass ich dagegen wie der Vorsitzende eines Ringvereins wirke. Würde so einer sich mit einem wie Artur anlegen? Würdest du dich mit Artur anlegen?«

»Ich lege mich oft mit Artur an.«

»Und wenn du ihn nicht kennen würdest?«

»Bist du verrückt?!«

Wir lachten beide, dann aber nickte sie und sagte: »Ich verstehe, was du meinst. Und was den Rest angeht … Was wissen wir eigentlich über Anna? Sie kommt aus Thorn. Und sie war lange Zeit Prostituierte, bis Artur ihr eine neue, viel bessere Betätigung gegeben hat. Müsste man da nicht Dankbarkeit erwarten? Loyalität?«

»Etwas Ähnliches ließe sich auch über Phillip sagen. Er liegt am Boden. Würde er riskieren, das wenige, das er jetzt hat, zu verlieren?«

»Artur wollte ihn schon rausschmeißen«, gab Isi zu Bedenken.

»Mag sein, aber was nützt es ihm, darum Anna anzuschwärzen? Artur würde auch zwei Leute vor die Tür setzen, aber nicht einen mitschleppen, von dem er nichts hält.«

Isi seufzte: »Ich bin betrunken. Hättest du nicht morgen damit kommen können?«

Ich lächelte und kochte uns beiden Kaffee.

Irgendwann hörten wir Arturs Automobil vor dem Haus.

Ein paar Momente später trat er ein.

»Was gibts so Dringendes?«, fragte er.

Ich erzählte ihm von meinen Gesprächen, auch der Unterhaltung mit Herrn Rosenberg.

Artur hörte sich alles ruhig an.

»Was denkst du?«, wollte ich anschließend wissen.

»Dass das eine ernste Sache ist«, antwortete Artur.

»Glaubst du Phillip?«, fragte Isi verwundert.

»Ich glaube nur euch«, sagte Artur. »Aber dass Phillip sich so vorwagt – ich muss darüber nachdenken.«

»Was machen wir mit Anna?«, fragte ich. »Ob sie bei dir arbeitet, ist eine Sache. Aber wenn Sie Hans wirklich hasst … dann darf ich ihr den Jungen nicht länger anvertrauen!«

Artur nickte.

»Lass mich die Sache beobachten, Carl. Anna ist verdammt gut als Nachtigall. So eine kriegst du nicht einfach so ersetzt.«

»Aber …«

»Ich weiß, Carl. Aber es ist ein Unterschied, ob sie mit ihrer Arbeit als Kindermädchen unzufrieden ist oder das Kind wirklich hasst. Was ich mir nicht vorstellen kann. Lass sie eine Weile noch ihren Dienst tun. Ich muss wissen, was da läuft, nicht dass sie tatsächlich gerade überschnappt und etwas gegen mich plant.«

»Und wenn Phillip gelogen hat?«, fragte Isi.

Artur antwortete nicht.

59

Nicht nur Artur hatte jetzt Anna im Visier, sondern auch ich.

Plötzlich war alles von Bedeutung, was sie tat oder auch nicht tat. Lächelte sie Hans zu? Was spielte sie mit ihm? Sprach sie ausreichend sanft? Wie verbrachten die beiden überhaupt ihre Zeit, wenn ich im Glashaus in fremden Welten feststeckte? Da Hans so gut wie nichts über Tante Anna erzählte, begann ich, ihn des Abends mehr oder minder geschickt auszufragen: Hatte Tante Anna was Leckeres zum Mittag gekocht? Waren sie spazieren gegangen? Hatte sie mit ihm geschimpft und wenn ja, warum?

Das Ergebnis war ernüchternd.

Hans antwortete einsilbig: Ja zum Spazieren, Ja zum Spielen, Nein zum Schimpfen, Ja zum Essen. Es war nicht herauszufinden, ob er Anna mochte oder nicht, Angst hatte oder Freude empfand, wenn er mit ihr zusammen war. Auf seine stille Art und Weise machte er einen gleichgültigen Eindruck, vielleicht war er aber auch einfach zufrieden, ich konnte es nicht sagen.

Eine Weile versuchte ich mich als Spion, nahm mir stundenweise frei, folgte den beiden auf ihren täglichen Wegen, konnte aber nichts erkennen, was in irgendeiner Weise alarmierend gewesen wäre. Sie gingen zusammen einkaufen. Sie spielte geduldig mit ihm Ball. Sie trafen sich mit anderen Müttern und deren Kindern, wobei Hans stets direkt Deckung unter Annas Rock suchte und keinerlei Anstalten machte, Freundschaften zu schließen.

Seit sie Hans betreute, lebte Anna bei uns im Haus, aber sie hatte auch noch ein eigenes Zimmer in der Graudenzer Straße. Sie hatte mir gesagt, dass sie es sich deswegen genommen habe, weil der Straßenname so nach der alten Heimat klinge. Nach dem, was man ihr damals dort angetan hatte, war ich über so viel Nostalgie verwundert, wenn ich es auch sympathisch fand.

An dem Tag, an dem ich gerade beschlossen hatte, meine laienhaften Versuche als Agent einzustellen, sah sie sich mit einem Mann. Ich erspähte zunächst ein junges Mädchen, das in unser Haus ging und Hans offenbar übernahm. Dann eilte Anna fort, um sich für etwa zwei Stunden mit einem mir unbekannten Kerl zu treffen. Ein bulliger Typ, der nicht den Eindruck machte, als hätte er ein gesteigertes Interesse daran, sich seinen Lebensunterhalt ehrlich zu verdienen.

War das ein Ganove, den sie brauchte, um sich mit Artur anzulegen? War es ein heimlicher Kontakt zu Vergissmeinnicht, dessen Mitglieder vielleicht nur darauf warteten, dass Artur verschwand, um das Arcasi selbst zu übernehmen? Mit ihr als Nachtigall und neuer Geschäftsführerin? Oder drehte ich gerade durch, traf nichts von dem zu und war sie nur eine junge Frau, die eine kleine Pause von Hans genommen hatte, um sich für zwei Stunden mit ihrem Liebhaber zu vergnügen?

Abends fragte ich sie, ob es etwas Besonderes gegeben habe, was sie mit einem Lächeln verneinte. Sie versicherte mir, dass Hans das unkomplizierteste Kind aller Zeiten wäre. Als sie das so sagte, sah sie wirklich so aus, als würde sie Hans gernhaben. Jedenfalls konnte ich nichts Verdächtiges an ihrem Verhalten ablesen, außer dass ich nun mal mitbekommen hatte, dass sie sich mit einem Fremden traf. Aber würde ich es an ihrer Stelle erwähnen? Wohl kaum.

Ich wusste einfach nicht mehr, was ich denken sollte.

Da war dieses schleichende Gift, das Vertrauen in gleichem Maße wegspülte, wie es Vorurteile anschwemmte. War ich wirklich der Meinung, dass allein ehrlich war, wer ehrlich lebte? Dass man einer Angestellten mehr vertrauen konnte als einer Bardame? Dass Loyalität das Banner der Arbeiterschaft war, während andere erst beweisen mussten, ob sie dieser Flagge würdig waren? Arbeitete ich nicht selbst in einem Gewerbe, dem man allerlei Unseriösität und Flatterhaftigkeit unterstellte?

Ich sprach mit Isi und Artur darüber, aber auch die hatten keinen anderen Rat, als weiter wachsam zu sein. Artur hatte sich Phillip vorgenommen und ihm überdeutlich gemacht, was er von Menschen hielt, die Unbescholtene beschuldigten, und auch, wie er ein solches Verhalten zu bestrafen gedachte. Ich hatte diesbezüglich nicht nachgehakt, aber eine gewisse Vorstellung davon, dass es sich dabei nicht unbedingt um eine übliche Kündigung handeln würde. Phillip war angemessen eingeschüchtert, blieb aber bei seiner Behauptung: Anna sprach schlecht über uns, und es schien ihm, als plante sie etwas.

Dann, Ende August, kam Hans endlich in die Schule.

Wie zu erwarten, reagierte er erschrocken, um nicht zu sagen: panisch, auf die ungewohnte Umgebung und klammerte sich an Annas Kleid, als wir das erste Mal zusammen auf dem Schulhof standen. Wir versuchten es mit gutem Zureden, aber irgendwann verließ mich die Geduld: Ich nahm ihn bei der Hand und versuchte, ihn Richtung Eingang zu zerren. Dabei hielt er sich so fest, dass er Annas Kleid zerriss.

Sie fluchte wütend: »Hans, Herrgott! Bist du verrückt geworden?!«

Hans hatte bestürzt losgelassen und begann seinen ersten Schultag, während ich Anna nach Hause begleitete und aufforderte, mir ihr Kleid zu geben.

»Ich repariere es. Du wirst nichts mehr von dem Riss sehen.«

Anna brachte mir das Kleid in sehr reizvoller Unterwäsche ins Zimmer, wobei mir ihr freches Grinsen verriet, dass sie sehr wohl wusste, welche Wirkung sie auf Männer ausübte. Nur ein Eunuch hätte ihre Kurven nicht bewundert. Dann sagte sie: »Schaffst du es bis heute Abend? Ich will es bei der Arbeit anziehen!«

Ich nickte und machte mich an die Reparatur.

Mit Isis Hochzeitskleid hatte ich noch nicht angefangen, aber immerhin schon den Stoff gekauft, der in einem großen Paket neben meiner Nähmaschine stand.

Ich besah mir den Schaden an Annas Kleid und stellte fest, dass nicht nur der Stoff von fantastischer Qualität, sondern auch der Schnitt und die Nähte exquisit waren. Dieses Kleid war das Werk eines großen Könners und musste ein Vermögen gekostet haben. Zahlte Artur Anna wirklich so viel? Hatte sie sich nicht angeblich über zu wenig Einkommen beschwert?

Ich richtete das Kleid, und es war wie neu.

Hans kehrte aus der Schule zurück und schien immer noch verängstigt.

Ich rief im Glashaus an und nahm mir ein paar Tage frei, denn ehrlich gesagt machte mir Hans’ verstockte Haltung Sorgen. In den nächsten Tagen würde ich ihn begleiten, auch mit seinen Lehrern sprechen und hoffen, dass sie Verständnis für ihn hätten. Er war nicht das einzige traumatisierte Kind, der Krieg hatte mit Hunger, Krankheit und Verlust auch vor den Kleinen nicht haltgemacht. Ich dachte mit Schaudern an die rüden Methoden der Pädagogen meiner Schulzeit zurück. Was Hans jetzt sicher nicht gebrauchen konnte, war ein auf seinem Hosenboden tanzender Rohrstock oder ein paar schallende Ohrfeigen.

Abends begann ich mit den Zuschnitten für Isis Kleid. Ich arbeitete die halbe Nacht und brachte Hans am nächsten Tag zur Schule. Anna war nicht nach Hause gekommen, sodass ich vermutete, sie würde den Vormittag in ihrem Zimmer in der Graudenzer verbringen, um sich richtig auszuschlafen.

Als ich zurückkehrte, warteten Artur und Isi im Wohnzimmer auf mich.

»Ist was passiert?«, fragte ich.

»Jemand stiehlt«, antwortete Artur ruhig.

»Im Arcasi

Artur nickte: »Wer es auch ist: Er macht es gut. Nicht zu viel. Jeden Tag etwas, gerade so viel, dass es fast nicht auffällt.«

»Und jetzt hast du es gemerkt?«

»Ich habe es bemerkt«, antwortete Isi. »Ich kümmere mich ein wenig um die Bücher und bin die letzten Tage mal alles durchgegangen. Es fehlt Geld.«

Einen Moment sah ich die beiden an.

Dann sagte ich: »Es gibt da etwas, das ihr vielleicht wissen solltet.«

60

Zwar hatte Oberkommissar Wilhelm Kennel angekündigt, sich Artur vorzunehmen, aber es war wochenlang, um nicht zu sagen: monatelang, ruhig geblieben, bis er plötzlich, zwei Tage nachdem ich mit meinen beiden Freunden wegen Annas Kleid gesprochen hatte, gegen Arturs Haustür hämmerte und dabei ein solches Spektakel veranstaltete, dass die ganze Straße auf ihn und die Beamten hinter ihm aufmerksam wurde.

Da Artur nicht gleich öffnete, traten sie die Tür ein, stürmten das Haus und zerrten ihn hinaus. Auch Isi war rausgelaufen und sah, wie Kennel Artur in Handschellen auf einen kleinen Lastkraftwagen mit offener Ladefläche schubste, auf dem bereits Polizisten wie Gauner Platz genommen hatten. Neben Artur begleiteten auch Arnie und zwei weitere von Arturs Männern die Schupos auf das Revier Fünfzig.

Artur blieb bemerkenswert ruhig, fast als hätte er mit einem Hausbesuch der Polizei gerechnet, und nickte Isi zu: »Ruf Fromm an!«

Das tat sie, und Friedemann Fromm, der Anwalt mit der Vorliebe für auffällige Kleidung und Monokel, brauchte nicht lange, um alle vier wieder aus dem Gewahrsam zu befreien.

Abends saß Artur dann bei uns und erklärte die ganze Aufregung.

»Die haben einen Hinweis bekommen!«

»Einen Hinweis? Was für einen Hinweis?«, fragte ich.

»Dass ich Kokain in meinem Haus lagere«, antwortete Artur.

»Und?«

»Sie haben nichts gefunden.«

»War denn da was?«, fragte ich.

Artur seufzte, was ich so deutete, dass ich aufhören sollte, Fragen zu stellen, deren Antwort mir sowieso nicht gefallen würde. Ich nahm den unausgesprochenen Rat an und schwieg, auch weil Isi mich gegen die Schulter stieß und meckerte: »Nerv jetzt nicht mit Kleinkram, Carl!«

Dann fragte sie Artur: »Warum gerade jetzt?«

»Es gibt einen Maulwurf.«

»Einer deiner Männer?«, fragte Isi.

»Theoretisch möglich. Aber die verdienen alle gut. Und uns verbindet mehr als nur Geld.«

»Wer hätte denn von dem Kokain gewusst?«, fragte Isi.

»Du meinst, wenn es welches gegeben hätte?«

»Jahaaa«, drängte Isi. »Also, wer?«

»Meine Männer.«

»Sonst niemand?«

»Nein.«

»Anna?«, fragte ich.

Die beiden sahen mich an – mir war, als hätte ich nur ausgesprochen, was ohnehin jedem im Kopf umherging.

»Vielleicht …«

»Aber nur, wenn einer deiner Leute geplaudert hätte?«, fragte ich.

»Wie lange, glaubst du, brauche ich, um einen Mann dazu zu bringen, mir ein paar Geheimnisse zu verraten?«, fragte Isi. »Und Anna ist gut. Ich habe sie gesehen. Wenn die ernst macht, widersteht ihr keiner auf Dauer.«

Artur nickte.

»Aber warum das alles?«, fragte ich entgeistert. »Du hast ihr geholfen, oder, Artur? Sie von der Straße geholt und zu einer der bekanntesten Personen im ganzen Viertel gemacht. Sie müsste eigentlich für den Rest ihrer Tage auf Knien vor dir rumrutschen.«

Artur verzog nachdenklich den Mund: »Es gibt fast nichts, was so verführerisch ist wie Erfolg. Plötzlich springt da ein Tor auf, und dahinter lockt ein Land mit unendlichen Möglichkeiten. Alles, was du dir erträumt hast, könnte plötzlich wahr werden. Da muss man schon ein charakterlich gefestigter Mensch sein, der seine Wurzeln noch spürt, um zu widerstehen, und wissen, wer man ist, was man kann und wem man vertrauen sollte.«

Isi nickte: »Das Schlimme ist: Sie könnte es wirklich schaffen! Sie ist geboren für diese Arbeit und könnte einen Laden wie das Arcasi leicht führen.«

»Grundsätzlich ja«, gab Artur zurück, »aber in diesem Gewerbe sind überall Ganoven, überall lauert Gefahr. Das ist kein Geschäft, in dem eine Frau alleine bestehen kann.«

»Sie hat sich doch mit diesem Typen getroffen«, merkte ich an. »Ich habe euch davon erzählt. Der sah nicht gerade wie ein Finanzbeamter aus.«

»Würdest du ihn wiedererkennen?«, fragte Artur.

»Ich denke schon.«

»Gut, ich werde heute Abend ein Treffen mit Vergissmeinnicht einberufen. Wenn er dabei ist, sagst du es mir.«

Allein, es kam nicht mehr dazu, denn als ich früh am Abend im Arcasi eintraf, winkte Phillip mich bereits verschwörerisch zur Theke heran, an der nur ein paar verlorene Säufer saßen und in ihre Gläser starrten.

Trotzdem versicherte er sich, dass uns niemand zuhören konnte, beugte sich dann an mein Ohr und flüsterte: »Ich hab gesehen, wie Anna Geld gestohlen hat!«

Ich sah ihn überrascht an, dann fragte ich. »Ist Artur schon hier?«

»Ja, oben. Im Büro.«

Wie im KaLeu hatte Artur die Wohnung über seinem Laden gleich mitgemietet, denn niemand lebte gern über einer lärmenden Budike und kam deswegen nachts nicht in den Schlaf. Artur hatte dort ein Lager sowie drei Schlafzimmer und ein kleines Büro eingerichtet, in dem auch ein massiver Geldschrank für die Tageseinnahmen stand.

Dort fand ich ihn und bat ihn hinab.

Vor ihm wiederholte Phillip seine Anschuldigung.

Artur fragte: »Ein bisschen genauer, bitte. Was hast du gesehen?«

»Ich war gestern früher da und hab noch im Keller Fässer umgeräumt. Als ich hochgekommen bin, hab ich gesehen, wie Anna aus der Kasse Scheine gefischt hat. Es war sonst keiner im Schankraum, und sie dachte wohl, sie wäre alleine.«

»Kann das sein?«, fragte ich Artur.

»So früh ist die Kasse noch leer.«

Phillip schluckte, dann nickte er hektisch: »Schon, aber sie hat das Geld nicht aus den Fächern rausgeholt, sondern darunter.«

»Darunter?«, fragte ich verwundert.

Artur nickte: »Sie hat es gebunkert.«

»Äh …«, machte ich ratlos.

Artur klärte mich auf: »Du nimmst Scheine an, legst sie aber nicht in die Kassenfächer, sondern schiebst sie darunter. Da sieht man sie nicht, und wenn man nicht weiß, dass einer bunkert, merkt man es auch nicht. Am nächsten Tag kommst du, wenn keiner da ist, und holst dir das Geld.«

Phillip nickte zustimmend.

»Lass uns allein!«, befahl Artur, und Phillip stob davon.

»Und jetzt?«, fragte ich.

Arnie trat ins Arcasi. Artur winkte ihm zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf Arnie sich umdrehte und nach draußen verschwand.

»Ich kann das einfach nicht glauben!«, sagte ich leise.

»Wir werden sehen!«, antwortete Artur ruhig.

Anna kam knapp zwanzig Minuten später zum Dienst, bestens gelaunt. Sie trug wieder das teure Kleid und gab mir und Artur einen Kuss auf die Wange.

»Meine Lieblingsmänner!«, lächelte sie. »Phillip? Sekt bitte!«

Sie wandte sich uns mit einem Strahlen zu: »Na, was macht das Leben?«

»Es ist so schön wie du«, antwortete Artur.

»Oho, Artur, so charmant heute! Los, Carl, da darfst du unmöglich zurückstehen!«

»Ich … äh … du …«

Sie seufzte theatralisch: »O Gott, Carl. Du triffst jeden Tag die schönsten Frauen und die interessantesten Männer. Da muss doch mal was hängen bleiben?«

»Ich glaube, wir können alle froh sein, dass die im Film nicht zu hören sind.«

Sie lachte.

Phillip servierte ihr den Sekt, den sie in zwei großen Schlucken trank.

Dann wandte sie sich wieder mir zu: »Hans schläft übrigens. Der Junge ist ein solcher Schatz!«

Ich schluckte und zwang mich zu einem Lächeln: »Wirklich?«

»Unbedingt! So ein lieber Junge. Bisschen still vielleicht, aber ich mag stille Kinder. Und was machen Aldo und Isi? Ich freue mich ja so auf die Hochzeit!«

»Äh, denen gehts gut, denke ich«, gab ich lau zurück.

»Ich muss mich unbedingt mal mit Isi zusammensetzen. Uns fällt bestimmt was ein, wie wir das Fest noch ein bisschen anpfeffern können!«

So plauderte sie.

Als ob nichts geschehen wäre, kein Verdacht im Raum stünde, keine Gerüchte schwirrten. Und je länger sie plauderte, desto weniger konnte ich glauben, dass sie schuldig sein könnte. Da war nichts in ihrem Gesicht, was sie verriet, nichts, was Unsicherheit aufschimmern ließ.

An jedem anderen Tag wäre ich ihr amüsiert gefolgt, hätte mich um sie bemüht, wäre vielleicht sogar auf ihre Schäkereien eingestiegen. Aber ich spürte, wie sich Minute für Minute mein Magen mehr verkrampfte, wie ich sie ungläubig anzustarren begann, weil sie vielleicht ein einziges Schauspiel veranstaltete. Ich sah auf ihren schönen roten Mund und ward misstrauisch: Log sie gerade? Oder war sie tatsächlich unschuldig?

Ich blickte rüber zu Phillip, der Gläser polierte, abwesend wirkte und doch angespannt zuhörte. Der uns nicht anzusehen wagte und sich weitere Arbeiten suchte, damit er es nicht musste.

Dann trat Arnie ein, ging an Artur heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Artur nickte und wandte sich Anna zu: »Pack deine Sachen! Du bist entlassen!«

Sie sah aufrichtig schockiert aus.

»Was? Das … das kannst du doch nicht machen … Warum?«

»Warum?!«, fauchte Artur. »Das fragst du auch noch?!«

»Ja, frage ich!«, zischte Anna zurück.

Sie hatte sich von dem Schock offenbar schnell erholt.

»Du redest zu viel, Anna! Du redest über mich, über Carl, du redest mit Kennel!«

Sie runzelte die Stirn: »Kennel? Wer soll das sein?«

Das war frech: Sie, deren Beruf es war, alles und jeden zu kennen, gab vor, noch nie von Oberkommissar Kennel gehört zu haben. Das war auch für mich der Punkt, an dem ich ihr nicht mehr glaubte.

Artur sagte: »Du hast den Boden verloren, Anna. Und jetzt schlägst du auf!«

»Verdammt noch mal: Wovon sprichst du nur?«

»Glaubst du wirklich, du könntest mir das Arcasi wegnehmen? Hast du das wirklich geglaubt?«

Sie starrte ihn an.

Sprachlos.

»Aber was noch schlimmer ist: Du stiehlst!«

»WAS?!«

Sie funkelte ihn wütend an.

»Du stiehlst! Und jetzt pack deinen Scheiß zusammen und mach dich fort!«

Sie trat an ihn heran: »Ich weiß nicht, was mit dir ist, Artur, aber wenn du willst, dass ich gehe, gehe ich natürlich. Nur eines lass ich mir nicht nachsagen: dass ich stehle! Das nimmst du zurück!«

Artur betrachtete sie kalt: »Arnie war bei dir in der Wohnung und hat Geld in deiner Jacke gefunden. Dreihundert Mark.«

»Das kann nicht sein!«

»Verschwinde jetzt besser!«, knurrte Artur wütend. »Bevor ich dich dazu zwinge!«

Sie sah verletzt aus.

Suchte Halt bei Arnie, der nur sanft den Kopf schüttelte.

Dann wandte sie sich mir zu: »Carl, bitte sag doch auch etwas! Du kennst mich! Ich bin keine Diebin! Das glaubst du doch nicht!«

Ich schlug den Blick nieder.

»Carl!«

Mittlerweile liefen ihr Tränen über die Wangen.

Sie blickte von einem zum anderen und fand doch nur steinerne Gesichter.

Da raffte sie sich plötzlich auf, streckte den Rücken durch und funkelte uns alle an: »Das werdet ihr bereuen! Ich schwöre es!«

Sie wirbelte herum und rauschte mit erhobenem Haupt dem Ausgang entgegen. Mittlerweile waren einige Gäste, unter anderem ein paar Mitglieder von Vergissmeinnicht, angekommen, unfreiwillige Zeugen ihres unrühmlichen Abgangs, was ihre Schmach nur noch vergrößerte, bis endlich die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und sich eine betäubende Stille breitmachte.

Da klatschte Artur in die Hände und rief in den Raum: »Herrschaften? Die nächste Runde geht aufs Haus!«

Die Geräusche kehrten zurück, Gäste hoben erfreut ihr Glas und prosteten Artur zu. Sie verließen alle nur allzu gern den Ort des schweren Unfalls, während hinter ihnen die Straße rasch geräumt und der Verkehr wieder freigegeben wurde.

Momente später war alles wieder wie immer.

Nur ich stand noch da.

Und rührte mich nicht.

61

Sie kehrte auch nicht ins Haus zurück, sodass Isi Annas Sachen packte und sie ihr mit einem Kurier zuschicken ließ. Wieder einmal stand ich ohne Kindermädchen da, wieder einmal verschwand vor Hans’ Augen jemand, der ihm eigentlich Halt hätte geben sollen und das Gefühl, dass er ein Zuhause hatte, Menschen, die ihn liebten. Aber es war wie verhext: Die Frauen in seinem Leben hatten ihn alle verlassen, nur ich war geblieben. Das Einzige, das zwischen ihm und dem bodenlosen Abgrund stand.

»Was ist mit Hans?«, fragte Isi.

»Könntest du vielleicht …«, begann ich vorsichtig.

Isi verschränkte die Arme vor der Brust: »Versuchst du gerade, dein Problem zu meinem zu machen?«

»Er ist kein Problem!«, konterte ich sauer.

»Nicht? Und warum fragst du mich dann?«

»Es wäre ja auch nicht für lange!«

Isi schüttelte den Kopf: »Es ist für immer, Carl, das war es von Anfang an. Du wolltest das nicht wahrhaben, als du ihn aufgenommen hast. Er braucht jede Menge Hilfe, mehr als einer alleine leisten kann. Und ich habe dir gleich gesagt: Komm nicht zu mir! Ich habe ein Recht darauf, mein eigenes Leben zu führen. Du hast eine Entscheidung für dich getroffen, die ich mit ausbaden soll. So geht das nicht, Carl!«

»Und was soll ich dann machen?«

»Finde jemanden, dem du vertrauen kannst!«

»Ihr habt mir gesagt, dass ich Anna vertrauen kann. Und ich habe euch geglaubt.«

Sie antwortete nicht gleich, sondern griff zu einer angebrochenen Flasche Wein, die auf dem Tisch stand, und schenkte uns zwei Gläser ein: »Ja, Anna ist eine große Enttäuschung. Aber …«, sie reichte mir das Glas, »du warst Marlies nie etwas schuldig. Und Hans ist nicht dein Kind.«

»Dafür ist es jetzt zu spät. Soll ich ihn jetzt einfach ins Heim bringen und ihm sagen: ›Wiedersehn, Hans. Versuch klarzukommen!‹, oder was?«

Sie seufzte: »Es ist kompliziert. Aber nur, weil du es kompliziert gemacht hast.«

»Schön, dann hören wir jetzt damit auf«, antwortete ich gereizt. »Die Dinge sind, wie sie sind.«

Da nahm sie meine Hand und sagte: »Ach, Carle, mein Carle … verstehst du mich denn gar nicht?«

Ich starrte in mein Glas und nickte: »Doch. Es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich da einzuspannen. Du heiratest. Wirst eine eigene Familie haben.«

Wir hielten uns an den Händen und schwiegen eine Weile.

Dann stand ich auf, nahm meine Jacke und sagte: »Ich finde jemanden. Und Hans wird es gut haben.«

62

Am Ende der Bromberger Straße befanden sich jene Häuser, die einem schon beim bloßen Anblick das Herz sinken ließen, die grau, kaputt und irgendwie schief dastanden, während von überallher Lärm über sie hinwegfegte, eingeklemmt zwischen dem Bahnverkehr des Schlesischen Bahnhofs, des Warschauer Bahnhofs und der Hauptwerkstatt für Züge, in der von den frühen Morgenstunden bis spät in den Abend hinein unablässig gehämmert, Metall gesägt und geschweißt wurde. Dazu der Autoverkehr und die Elektrische auf der Warschauer. Und trotzdem war es nicht schwer, hier Mieter zu finden, denn selbst diese Wohnungen waren besser, als in der Palme zu landen, einem Obdachlosenasyl im Prenzlauer Berg: ein großes rotes Backsteinhaus mit gut fünftausend Bewohnern, allesamt bitterarm, traumatisiert und oft aus ihrer Heimat im Osten vertrieben. Unablässig strömten immer neue Menschen in die große Stadt, die diese schon lange nicht mehr aufnehmen konnte.

Die Sonne war gerade hinter den Häusern versunken, ihre Schatten griffen mit langen Fingern nach den Straßen, um sie in eine dunkle Nacht hinüberzuziehen. Zwar gab es Beleuchtung, aber die würde in der Nacht nicht brennen: Sparmaßnahmen.

Wenigstens war der Abend sehr mild, der Winter jedoch würde durch das heruntergekommene Haus, vor dem ich jetzt stand, hindurchjagen und es monatelang einfrieren. Wann die Cureckens hierhin umgezogen waren, wusste ich nicht genau, aber sie hatten den Neubau trocken gewohnt, sodass sie gehen mussten, um zahlenden Mietern Platz zu machen.

Ich schob die Haustür auf, trat in einen verwahrlosten Flur und stieg die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo ich auf einem handgeschriebenen Fetzen Papier an einer der drei Wohnungstüren ihren Namen lesen konnte.

Dort klopfte ich.

Elisabeth öffnete und sah mich erstaunt an: »Carl?«

»Darf ich eintreten?«, fragte ich.

»Aber natürlich, nur: Phillip ist nicht da. Auf der Arbeit.«

Ich nickte und folgte ihr in eine kleine Wohnung mit einer Küche, einer guten Stube und einem Schlafzimmer, ganz ähnlich der Bleibe, die sie hatten verlassen müssen. Sie war aber ein wenig wohnlicher eingerichtet. Phillips Gehalt hatte ausgereicht, um ein paar Dinge zu kaufen, wenn sie auch alle gebraucht und in keinem guten Zustand waren. Sie bot mir einen Platz auf dem durchgesessenen Sofa an, ließ sich selbst auf einen Stuhl nieder.

»Was kann ich für dich tun, Carl?«

»Es gibt da etwas, das ich mit dir besprechen möchte«, begann ich.

»Mit mir?«

Ich nickte und fragte: »Hast du noch Interesse an der Kinderbetreuung?«

Ihr Gesicht hellte sich auf: »Du meinst Hans?«

»Ja.«

»Aber natürlich, Carl! Natürlich!«

»Es … es gab da einige Veränderungen …«

Sie nickte schnell: »O ja, Phillip hat es mir erzählt. Was für eine schreckliche Frau!«

»Wie dem auch sei, ich denke, ich würde es gerne einmal mit dir versuchen, Elisabeth!«

Sie strahlte: »Mit dem größten Vergnügen, Carl! Mit dem allergrößten Vergnügen! Weißt du, ich … also, Phillip und ich hatten ein wenig gehofft, dass du an uns denken würdest, aber wir wollten uns nicht aufdrängen!«

»Nun, ich bin hier.«

»Das bist du!«, antwortete sie zufrieden.

»Ich dachte, du könntest vielleicht von Montag bis Samstag zu uns kommen. Ab sieben Uhr in der Früh bis sechs Uhr am Abend. Es gibt Tage, da müsstest du vielleicht länger bleiben, an anderen kannst du dafür früher gehen. Es ist ein bisschen unregelmäßig bei mir.«

»Das klingt wunderbar!«

»Du bist damit einverstanden?«

»Selbstverständlich!«

»Was die Bezahlung betrifft …«

Sie unterbrach schnell: »Du zahlst, was du zahlen kannst. Das geht schon in Ordnung. Ich bin froh, wieder eine Aufgabe zu haben.«

Ich nickte.

Da sprang sie auf und rief: »Das müssen wir feiern, Carl! Warte!«

Sie verschwand in der Küche und kehrte mit einer angebrochenen Flasche Wein zurück.

»Da ist nur noch ein Schluck drin«, stellte sie fest, als sie uns gerade einschenken wollte.

»Das macht nichts«, antwortete ich und war im Begriff, mich zu erheben.

»Das kommt gar nicht infrage, dass du gehst! Du bleibst, wo du bist, und ich laufe schnell ins Arcasi und kaufe eine Flasche. Ach, Phillip wird sich vielleicht freuen!«

»Bitte keine Umstände, Elisabeth!«

»Das sind keine Umstände. In einer halben Stunde bin ich wieder zurück. Bitte bleib doch! Tu mir die Freude!«

Ich ließ mich zurück auf das Sofa fallen, während sie schnell aus der Tür huschte. Eine eigenartige Stimmung kehrte ein, es war, als ob Elisabeth allein durch ihr pure Anwesenheit die Räume beherrscht hätte. Alles wirkte plötzlich verlassen, ohne Leben, obwohl von draußen unablässig Lärm durch die Wohnung tanzte. Ich stand schließlich auf: Hier wollte ich nicht bleiben.

Da hörte ich aus dem verschlossenen Schlafzimmer nebenan eine dünne Stimme: Phillips kranke Frau. Einen Moment stand ich still, lauschte, dann vernahm ich deutlich meinen Namen.

Carl.

Hatte sie wirklich nach mir gerufen?

Vorsichtig trat ich an die Tür und öffnete sie langsam: Es war dunkel hier drinnen, die Jalousien geschlossen. Im Zwielicht konnte ich einen Schrank erkennen, ein Doppelbett und einen sehr schmalen, kleinen Körper unter einer Decke. Dann erst sah ich ihr Gesicht, das sich mir bleich und mit großen, dunklen Augen zugewandt hatte. Sie winkte mir mit einem ihrer dürren Hungerarme zu, bevor der kraftlos auf die Matratze zurückplumpste.

»Haben Sie mich gerufen?«, fragte ich vorsichtig.

Sie gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich mich zu ihr an den Bettrand setzen sollte. Ihre Haut spannte über den Wangenknochen und war an einigen Stellen geradezu durchsichtig, der Blick ohne Kraft genau wie ihre Atemzüge, sodass es keine medizinischen Kenntnisse brauchte, um zu wissen, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ihr fortwährender Husten war zu einem dumpfen Gurgeln zusammengefallen.

»Carl?«, fragte sie.

»Ja?«

»Ich hatte gehofft, Sie zu sehen.«

»Kann ich etwas für Sie tun, Frau Curecken? Brauchen Sie etwas? Vielleicht Wasser?«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Marlene«, sagte sie. »Bitte nenn mich Marlene. Ich hasse meinen Nachnamen.«

»Gut, in Ordnung. Warum hassen Sie Ihren Namen, Marlene?«

Sie schwieg, aber nicht weil sie nicht antworten wollte, sondern weil sie sichtbar Kraft sammelte.

Dann krächzte sie: »Ich habe nicht mehr viel Zeit, Carl …«

Ich nickte betreten.

»Es geht um Ihren Vater.«

»Meinen Vater?«, fragte ich überrascht zurück.

Sie nickte: »Die ganze Geschichte.«

Ich war völlig perplex und sah sie nur an, dieses Bündel aus Haut und Knochen, das kaum mehr als dreißig Kilo wiegen konnte.

»Bitte sprechen Sie!«, bat ich.

»Sicher wissen Sie, dass Phillips Vater Eduard wegen Ihres Vaters mit seiner Tochter gebrochen hat?«

»Ja, mein Vater war nicht gut genug für ihn. Sie sollte einen Grafen heiraten, aber meine Mutter hat sich aus Liebe für meinen Vater entschieden.«

Sie nickte: »Ja. Was wissen Sie noch?«

»Dass es hieß, meine Mutter sei schwanger geworden, weil mein Vater sie vergewaltigt habe. Man unterstellte ihm, mit der Heirat seinen gesellschaftlichen Aufstieg zu erzwingen. Dieses Gerücht hat ihn vollkommen ruiniert – niemand wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Oder mit ihr. Nur Phillip hat seiner Schwester beigestanden, so gut er konnte.«

Sie drehte ihren Kopf zu mir und antwortete fest: »Nein!«

»Nein?«

»Phillip hat das Gerücht mit der Vergewaltigung in die Welt gesetzt.«

Mir war, als hätte sie mir mit der Wucht eines Schwergewichtsboxers ins Gesicht geschlagen. Die Geräusche fielen in sich zusammen, ich sah diese gespenstische Frau wie durch einen Tunnel. Da war ein Rauschen in meinem Kopf und ein Wirbel in meinem Bauch, bevor ich Atemzug um Atemzug wieder an die Oberfläche fand, um dann wie ein Taucher in Not nach Luft zu schnappen.

»WAS?!«

Es war viel lauter als beabsichtigt, doch Marlene blieb bewegungslos und griff mit ihrer eisigen Hand nach meiner.

»Verstehst du, Carl? Nicht Eduard steckt hinter der Intrige. Phillip war es.«

Ich schluckte hart: »Aber … aber warum?«

»Die Mitgift, Carl. Deswegen.«

»Das kann doch nicht … Das ist nicht möglich …«

»Als deine Mutter zu ihrem Vater kam, um ihm mitzuteilen, dass sie einen jüdischen Friseur heiraten wollte, da war Eduard außer sich vor Zorn. Natürlich wollte er eine bessere Partie für seine Tochter, doch sie wollte eben deinen Vater. Phillip hat ihr beigestanden, aber nur weil die Mitgift für einen Schneider vergleichsweise lächerlich gewesen wäre. Eduard drohte Amelie: Sie sollte den Grafen heiraten! Oder er würde sie für immer verstoßen. Deine Mutter, Carl, hat ihre Familie sehr geliebt. Sie wollte nicht verstoßen werden, vielleicht kannst du nachvollziehen, wie unmöglich ihre Situation war.«

Ich nickte leicht.

»Offenbar nahm der Graf deiner Mutter die Sache mit deinem Vater nicht krumm, denn auch er wollte das Geld der Cureckens. So erneuerte er seinen Heiratswunsch und versprach Eduard, Amelie nach der Hochzeit auf seinem Landsitz unterzubringen, weit weg von Riga. Phillip geriet in Panik. Die Mitgift wäre so unsagbar hoch gewesen, dass ihm kaum noch etwas geblieben wäre. Der ganze Reichtum dahin, weil seine Schwester in den Hochadel heiraten sollte! Und er, der Alleinerbe, würde mit leeren Händen dastehen. Also setzte er das Gerücht mit der Vergewaltigung in die Welt. Das konnte nicht ignoriert werden! Der Graf löste die Verlobung, und deine Mutter zog mit deinem Vater fort. Phillip bekam alles – dass es einmal eine Revolution geben würde und sein ganzer Reichtum dahin wäre, das konnte damals ja keiner ahnen.«

Mittlerweile war meine Hand eiskalt geworden. Mir war, als würde der Tod von ihr zu mir überspringen und sich langsam meinen Arm hinaufarbeiten.

»Dann aber, als Amelie fort war, wurde Eduard plötzlich sehr krank. Ausgerechnet er, der immer so kerngesund und voller Vitalität gewesen war, fiel mit einem Mal in sich zusammen. Und niemand konnte herausfinden, was er hatte. Sein Zustand wurde so schlecht, dass der Pfarrer ihm riet, seine irdischen Dinge zu regeln. Und weil er ein gläubiger Mensch war, dachte er, dass die rätselhafte Krankheit vielleicht Gottes Strafe dafür war, sich gegen seine Tochter gestellt zu haben. So machte er sich auf eine letzte Reise nach Thorn, um sich mit Amelie zu versöhnen. Und er fuhr nicht mit leeren Händen. Er nahm den gesamten Schmuck seiner Frau mit, um ihn Amelie zu schenken. Aber Amelie wollte ihn nicht sehen. Sie lag in den Wehen mit dir und befahl deinem Vater, Eduard fortzuschicken. So kam er wieder zurück, ohne sie gesehen zu haben und vor allem: ohne den Schmuck. Kurz darauf starb er, und Phillip trat sein Erbe an.«

Ich starrte sie an: »Du meinst, Phillip will den Schmuck?«

»Ja. Und seine Mutter genauso. Deswegen haben sie dich gesucht. In Thorn. In Berlin. Sie glauben, du könntest den Schmuck haben oder wenigstens wissen, wo er geblieben ist.«

»Bist du sicher?«, fragte ich entgeistert.

»Ich höre sie tuscheln, Carl. Ich höre sie, weil sie glauben, dass ich es nicht mitbekomme. Sie sind böse, Carl! Versteh das doch! Sie sind böse!«

Ich saß nur da und blickte auf das Bündel Mensch vor mir und bedauerte, dass ich diese Tür nicht schon eher geöffnet hatte, um sie aus der Umklammerung der beiden zu befreien. Es hätte sie nicht gerettet, aber ihr vielleicht noch ein paar schönere Tage bereitet.

»Weißt du, Carl, nachdem meine Mädchen an der Grippe gestorben waren, da habe ich jeden Tag gebetet, dass Gott mich auch zu sich rufen möge. Als er es nicht tat, da habe ich ihn verflucht, weil er gemein ist, hartherzig und rachsüchtig. Ich habe einfach nicht verstanden, warum ich nicht sterben durfte, wenn es doch keinen Grund mehr gab weiterzuleben. Und dann höre ich, wie sie über dich reden. Wie du plötzlich da bist. Da wusste ich: Ich habe noch eine Aufgabe, die ich erfüllen muss. Ich habe laut gehustet bei deinem letzten Besuch, damit du vielleicht nach mir siehst, aber du bist wieder gegangen. Jetzt aber weißt du alles. Und ich kann endlich zu meinen beiden Mädchen … Ich danke dir, Carl.«

»Nein, ich danke dir, Marlene.«

Für einen Moment schenkten wir uns ein Lächeln, dann küsste ich sie auf die Stirn.

»Ich hole dich hier raus!«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein. Geh jetzt, Carl. Es ist alles gut! Wirklich.«

So wie wir in das vertraute Du inmitten des Gespräches gefallen waren, so waren aus Fremden Freunde geworden, als ich jetzt im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.

Vielleicht auch Familie.

Wahre Familie.

Ich stand auf.

Es tat weh, sie so zu sehen, aber sie wirkte mit einem Mal so friedlich. Sie bewegte noch einmal die Finger zum Abschied und schloss dann die Augen. Sie würde diese Nacht nicht überstehen, dessen war ich mir sicher. Doch sie ging zufrieden, vielleicht sogar: glücklich.

Leise öffnete ich die Tür und trat hinaus.

Dort standen Phillip und Elisabeth.

Und starrten mich an.

Schweigend.

Ich presste die Lippen aufeinander, stieß sie zur Seite und ging nach draußen.

63

Es war lange her, dass ich im Eden gewesen war, aber als ich nach Hause kam und Isi von dem Gespräch berichtete, bestand sie darauf, es am Abend richtig krachen zu lassen, um den ganzen Mist in Champagner zu ertränken. Nachdem sie eine Nachbarin überredet hatte, auf Hans aufzupassen, rief sie erst Artur und anschließend Aldo an.

Der holte uns mit seinem Benz-Monster ab und warf sich gekonnt einen weißen Seidenschal um den Hals, als er im Smoking ausstieg, um Isi die Tür zum Fond aufzuhalten.

»Wo ist dein Fahrer?«, fragte ich neugierig. »Ich gehe mal davon aus, dass heute getrunken wird?«

»Den brauche ich nicht mehr. Ich will lieber selbst fahren!«

»… lernen!«, ergänzte Isi ironisch.

»Ich fahre ganz ausgezeichnet!«, protestierte Aldo säuerlich. »Also bitte: einsteigen!«

Mit quietschenden Reifen und schlingerndem Heck machten wir uns los und erreichten die Marienstraße tatsächlich in einem Stück und ohne irgendjemanden außer uns gefährdet zu haben. Mittlerweile war es dunkel, doch die Nacht herrlich warm. Wieder trat Arnie aus einem der Schatten und begrüßte Isi mit einem charmanten Handkuss.

»Wie ich sehe, muss ich mir die Heirat wohl aus dem Kopf schlagen, Prinzessin?«

»Sie müssen, junger Mann. Aber Sie sollten wissen, dass Sie eine fantastische Option waren!«

Beide grinsten.

Dann gab Arnie mir und Aldo zur Begrüßung die Hand. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass ihm Aldo dabei heimlich einen gefalteten Schein zusteckte. Die beiden gingen vor, ich gleich dahinter, während Arnie einen kurzen Blick in seine Hand warf und ein klein wenig den Mund verzog: Er schien schon einmal zufriedener mit dem Trinkgeld gewesen zu sein.

Oben öffnete wie bei meinem ersten Mal eine schöne junge Dame im Abendkleid, nahm uns die Jacken ab und fragte, ob Isi ein Cachenez benötigte. Das tat sie, und so überreichte die Frau ihr eine leichte Halbmaske aus weißer Seide, bevor sich die doppelflügelige Tür mit den Jugendstilintarsien wieder wie von Zauberhand öffnete und wir eintraten.

Vor uns der riesige Salon mit dem glänzenden Parkett, den hohen Stuckdecken, den schweren Samtvorhängen und dem glitzernden, diesmal eingeschalteten Kristallleuchter an der Decke. An den Spieltischen für Roulette und Baccara standen Männer im Frack und Damen in gewagten Abendkleidern. Eine von ihnen schwebte auf uns zu und hielt uns ein Silbertablett entgegen: »Guten Abend! Darf ich Ihnen etwas anbieten? Sekt? Cognac? Kokain?«

»In dieser Reihenfolge!«, bestellte Isi gut gelaunt.

Diesmal protestierte ich nicht.

Wir tranken Sekt, dann probierte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Linie Kokain. Es schmeckte bitter, meine Zunge wurde taub, und dann fühlte ich eine Stimulierung, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Mein Herz klopfte, ich war hellwach, und gleichzeitig war mir ein bisschen schlecht. Doch vor allem war ich plötzlich in Feierlaune und bestellte mehr Sekt, den wir in beschwingter Runde tranken, bis Artur zu uns trat und Isi uns bei Aldo entschuldigte, weil wir ein paar Dinge zu besprechen hatten.

Artur musste meine Zappeligkeit bemerkt haben, mein unentwegtes Nasehochziehen, obwohl ich keinen Schnupfen hatte, dazu die weit aufgerissenen Augen und eine Mitteilsamkeit, die mir sonst nicht zu eigen war. Er lächelte nur, sagte dann aber: »Ich denke, du belässt es lieber bei der einen …«

Ich nickte.

Dann erzählte ich auch ihm von dem Gespräch mit Marlene.

»Ist er heute Abend noch mal im Arcasi aufgetaucht?«, fragte Isi.

»Nein. Ich denke, er ist auch schlau genug, um zu wissen, dass er sich dort nie wieder blicken lassen sollte.«

»So ein Scheißkerl!«, fluchte Isi. »Ich wette, er hat seinen Vater vergiftet.«

»Was?«, fragte ich verdattert.

»Plötzlich wird der krank? Und keiner weiß, was er hat? Ach komm: Phillip hat nachgeholfen, bevor der Alte seiner Tochter noch mehr schenken konnte.«

»Das wissen wir nicht«, antwortete ich schwach.

»Ich schon!«, behauptete Isi. »Und wahrscheinlich hat er das Geld im Arcasi auch gestohlen und es Anna untergeschoben.«

Zu meiner Überraschung protestierte Artur nicht, sondern sah Isi nachdenklich an.

»Glaubst du das auch?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht.«

»Sie hat ziemlich heftig auf den Vorwurf reagiert«, sagte ich.

»Ja.«

»Red mit ihr!«, forderte Isi. »Vielleicht hast du ihr wirklich unrecht getan, Artur!«

Der nickte zögerlich.

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter! Sie ist verletzt und in der Lage, wirklich jeden in Teufels Küche zu bringen. Es ist nicht gut, eine wütende Frau als Feindin zu haben.«

»Schon gut«, wiegelte Artur ab und beendete damit das Thema. »Was mich gerade allerdings mehr interessiert, ist, wo der Schmuck ist, den Eduard seiner Tochter schenken wollte …«

»Typisch, du denkst nur ans Geld!«, schimpfte Isi.

»Sagt die zukünftige Frau von Torstayn!«, konterte Artur grinsend. »Aber mal im Ernst. Carl und sein Vater waren bitterarm. Genau wie wir, Isi. Stell dir vor, was ein einziger Diamant da bewirkt hätte!«

»Papa hätte damit spielend leicht eine ebenso große Schneiderei eröffnen können wie in Riga. Gleich neben dem Rathaus oder dem Kopernikus-Denkmal«, stimmte ich ihm zu.

»Dann hätten wir uns aber nie gefunden. Wir hätten nie Kometenpillen verkauft und wohl auch nie ein Fuhrunternehmen gegründet«, sagte Isi.

»Wahrscheinlich nicht«, bestätigte Artur. »Trotzdem, euch wäre viel erspart geblieben, Carl.«

»Ich weiß nichts von Schmuck. Und in unserer Schneiderei war sicher auch keiner versteckt.«

»Der alte Curecken ist aber ohne Schmuck zurückgefahren«, sagte Artur.

Ich zuckte mit den Schultern: »Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter zu stolz war, ihn anzunehmen. Und mein Vater hätte meine Mutter niemals hintergangen. Nicht mal nach ihrem Tod«, antwortete ich.

Da klatschte Isi mit den Händen: »Ich weiß, wo der Schmuck ist!«

»Wo?«, fragten Artur und ich unisono.

»Sie hat ihn mit ins Grab genommen!«

Wir sahen sie erstaunt an.

»Ist doch klar, oder? Carls Mutter lag in den Wehen und wollte auf keinen Fall mit ihrem alten Herrn sprechen. Also hat Eduard Curecken mit deinem Vater geredet, Carl. Und ihm den Schmuck für seine Tochter gegeben.

Dann aber starb deine Mutter – in den Armen deines Vaters. Sie wird ihm gesagt haben, dass sie das Geld ihrer Familie nicht will, und wir alle haben deinen Vater gut gekannt, Carl: Er hätte sich eher die Hände abgehackt, als den Schmuck zu behalten. Eduard Curecken war also abgereist, deine Mutter tot, und er hatte den Schmuck. Da die Steine nirgendwo wieder aufgetaucht sind, würde ich alles darauf verwetten, dass er deiner Mutter das schönste Kleid genäht, den Schmuck angelegt und sie dann damit begraben hat.«

Wir nickten uns stumm zu.

»Du meine Güte, wir hätten stinkreich sein können!«, stieß ich erstaunt aus.

»Du hättest jedes Fest mit den Boysens feiern müssen«, antwortete Isi.

Da hob ich mein Glas: »Auf meinen Vater!«

»Auf deinen Vater!«

Wir stießen an.

Und tranken die Gläser in einem Zug aus.

»Es gibt da noch etwas, das ich mit euch besprechen will«, begann Isi und winkte Aldo zu uns rüber. »Vielmehr: Wir möchten noch etwas mit euch besprechen …«

Aldo trat an uns heran.

»Ja?«, fragte ich.

»Unsere Hochzeit.«

»Hört! Hört!«, rief ich. »Wann ist es denn so weit?«

»1. Oktober!«

»Und wo?«

»St.-Thomas am Mariannenplatz.«

»Direkt hinter der Schillingbrücke? Das ist ja nur ’n Katzensprung zum Arcasi

Sie nickte erfreut: »Ja, das nehmen wir für das Fest. Geschlossene Gesellschaft. Nur wir und die ganzen Ganoven und Huren vom Schlesischen. Das wird ’ne Sause!«

Artur grinste Aldo an: »Ernsthaft? Im Arcasi? Deine Eltern trifft der Schlag!«

»Das hat er schon, als ich Ihnen gesagt habe, dass ich Isi weiterhin heiraten will!«

Isi winkte ab: »Die kommen nicht. Keiner von Aldos Familie!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. »Er hat jetzt uns. Wir sind seine neue Familie!«

Artur verzog beeindruckt den Mund: »Ich will dir nicht zu nahe treten, Aldo, aber das hätte ich dir nicht zugetraut! Du liebst sie wirklich, was?«

»He! Jetzt mal nicht so erstaunt!«, protestierte Isi.

Aldo lächelte: »Das tue ich.«

»In Ordnung!«, sagte Artur. »Der Erste ist ein Freitag. Das Arcasi gehört euch, wenn es sein muss das ganze Wochenende.«

»Da ist noch etwas!«, sagte Isi und blickte uns beide an. »Ihr seid unsere Trauzeugen, das ist klar, aber ich brauche noch jemanden, der mich zum Altar führt. Und ich möchte, dass du es bist, Artur!«

»Ich?«

»Ja, du.«

»Bist du sicher?«

Isi nickte: »Carl muss fotografieren. Und dann bleiben nicht mehr so viele …«

»Aber … vielleicht lenkt meine Maske zu sehr ab?«

Erstaunt nahm ich wahr, dass Artur sich tatsächlich darum sorgte, ob sein halbes Gesicht genügte. Dass es ihm doch etwas ausmachte, wie entstellt er war, und er offenbar fürchtete, bei solch einem festlichen Akt zu stören. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er uns je wissentlich so tief in sein Seelenleben hatte blicken lassen, wenn es auch auf eine sehr beiläufige Art und Weise geschah. Artur, der Unbesiegbare, unter dessen Panzerhaut und unerschütterlichem Selbstvertrauen ein empfindsamer Mensch wie in einem tiefen, dunklen Verlies kauerte.

Isi legte ihm ihre Hand auf die gesunde Gesichtshälfte und antwortete: »Dein Gesicht ist genau richtig. Ich könnte mir niemand Besseren vorstellen als dich. Nicht mal Carl.«

»Also, den letzten Satz hätte es jetzt nicht gebraucht!«, rief ich.

»In Ordnung?« fragte Isi Artur.

»In Ordnung«, antwortete Artur.

Sie klatschte erfreut in die Hände: »So, und jetzt wird gefeiert! Treten heute Nackedeis auf?«

»Natürlich.«

»Perfekt!« Sie zeigte auf mich: »Du holst uns Getränke!« Dann auf Artur: »Du noch etwas Zauberpulver!« Und schließlich auf Aldo: »Und du küsst mich gefälligst und bringst mich erst nach Hause, wenn ich nicht mehr stehen kann!«

So sprach sie.

Und so geschah es auch.

64

Lubitschs langer Abschied begann mit einem weiteren großen Historienfilm, den er für die UFA drehen sollte: Anna Boleyn. Das Vertrauen der Direktion in seine Fähigkeiten war schier grenzenlos, obwohl er seine Stärken meiner Meinung nach eindeutig nicht in Monumentalfilmen ausspielen konnte, denn Einfallsreichtum, Humor oder Warmherzigkeit waren bei Filmen dieser Art gar nicht gefragt. Groß mussten sie sein, gigantisch, mit Schauwerten, die das Publikum staunen machten und aus der Realität fliehen ließen. Ein Publikum übrigens, dem man zutraute zu verwinden, dass diese Filme in der Heimat der alten Kriegsgegner spielten: Madame Dubarry in Frankreich, Anna Boleyn in England.

Paul Davidson, der Mann, der mir die Chance gegeben hatte, in dieser Branche Fuß zu fassen, und den ich wegen seines Humors und seiner manchmal schroffen Art, seine Zuneigung zu zeigen, liebte, vertraute mir einmal an, dass Anna Boleyn mit unvorstellbaren acht Millionen Reichsmark Kosten kalkuliert worden war, er aber, dank Lubitschs Erfolgen mit Carmen und Madame Dubarry, bei den Amerikanern auf zweihunderttausend Dollar Lizenzgebühr hoffen konnte, inflationsbereinigt also auf vierzehn Millionen Mark. Selbst wenn kein einziger Zuschauer ins Kino gehen würde, hätte er damit der UFA einen satten Gewinn eingespielt. Das wirklich Erstaunliche jedoch war, dass weder Carmen noch Madame Dubarry, für die es vierzigtausend Dollar Lizenz gegeben hatte, bereits in den USA angelaufen waren. Offenbar war auch das Vertrauen der Amerikaner in Lubitsch schier grenzenlos.

Und das galt es, nicht zu enttäuschen.

Auf dem Tempelhofer Feld entstand ein London der Renaissance.

Noch prächtiger, noch detailversessener, noch gigantischer als das Paris der Madame Dubarry. So baute man neben den vielen historischen Fassaden auch Teile der Westminster Abbey nach, eigens errichtet für eine einzige Szene im späteren Film: den Krönungszug Heinrich des VIII., begleitet von Tausenden Statisten in Kostümen.

Es entstand ein Film der Superlative, der schon im Vorfeld Furore machte, sodass es auch nicht lange dauerte, bis sich die Politik dafür interessierte, denn nach den vielen Kämpfen und den fortwährenden Problemen kamen ein paar schöne, sorglose Bilder für die kritische Presse gerade recht: Reichspräsident Friedrich Ebert kündigte sein Kommen an, und die UFA jubilierte, denn nicht nur Ebert würde kostenlose Werbung für sich selbst generieren, sondern auch die UFA für ihren Film.

Sie bekamen ihre Schlagzeilen.

Nur nicht so, wie sie es sich erhofft hatten.

Am Tag von Eberts Besuch sollte der große Einzug gefilmt werden, und eingedenk der Tatsache, dass Millionen Dinge erledigt, Tausende von Komparsen nach Rittern, Geistlichen, Adeligen und Bauern sortiert und optisch arrangiert werden mussten, dass Kostümbildnerinnen letzte Korrekturen vornahmen, Handwerker die turmhohen Bauten kontrollierten, dass Hilfsregisseure auf Holzstapeln standen und per Sprachrohr Anweisungen in die Menge brüllten, dass das UFA-Direktorium nervös auf den hohen Besuch wartete, der dann auch endlich kam, nicht nur Ebert, sondern auch noch Minister und Staatssekretäre dazu, eingedenk all dieser Dinge: War es da verwunderlich, dass man eine Kleinigkeit vergessen hatte? Eine, die diesen wunderschönen Spätsommertag mit makellosem blauem Himmel und beinahe heißen Temperaturen in einem Fiasko enden ließ?

Friedrich Ebert war kurz vor Mittag gekommen, und zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass sein Auftritt wirklich bescheiden war, ohne großes Aufsehen. Davidson winkte mir hektisch zu und rief, dass ich doch ein schönes Foto machen solle, was ich dann auch tat. Ich positionierte Ebert neben Davidson, stellte Henny Porten und Emil Jannings, beide bereits im Kostüm, daneben, während sich allerlei andere, die ich bis auf den Drehbuchautor Hans Kräly gar nicht kannte, ohne dass ich darum bitten musste, rasch mit aufs Foto drängten.

»Herr Lubitsch fehlt!«, rief ich.

Tatsächlich aber lief Lubitsch noch durch die Reihen und dirigierte, bis auch er, durchgeschwitzt im schlichten Arbeitsanzug und kragenlosen Hemd, herankam und sich hinter der Gruppe von jemandem in die Höhe heben ließ. Am Ende guckten alle in die Kamera, nur er nicht.

Dann schüttelte man sich die Hände, jeder nahm seinen Platz ein, und die Aufnahmen mit viertausend Komparsen konnten beginnen. Viertausend hungrigen Komparsen in zwickenden, viel zu warmen Kostümen. Man hatte schlicht versäumt, ihnen ein Frühstück zu bereiten, sodass sie seit sieben Uhr morgens in der zunehmend prallen Sonne mal hierhin, mal dorthin gescheucht worden waren und mittlerweile recht gereizt herumstanden, weil die Vorbereitungen sich hinzogen und sie selbst sich nicht mehr rühren durften.

Da stieg Reichspräsident Ebert mit seinem Gefolge auf einen kleinen Lehmhügel, von dem er nicht nur eine gute Sicht auf die Filmbauten hatte, sondern vor allem auch von den Komparsen entdeckt wurde. Und obwohl die eigentlich Bauern oder Gefolge in Renaissancekostümen hätten sein sollen, wurde ihnen in dem Moment bewusst, dass sie in erster Linie Arbeitslose waren, deren Alltag ein bisschen dem glich, den sie gerade erlebten: hungrige Staffage, die man allenfalls zum Jubeln brauchte.

Getuschel kam auf.

Weder die Revolution noch die Putsche waren vergessen, schon gar nicht die vielen Toten, die man aus Landwehrkanal und Spree gezogen hatte. Zwar war Gustav Noske mittlerweile aus der Regierung entlassen worden, genau wie Philipp Scheidemann, Ebert aber noch da. So geriet die von Hunger und Durst ermattete Menge plötzlich in Bewegung. Hilfsregisseure ritten auf Pferden die Reihen entlang und mahnten zur Disziplin, aber es half alles nichts mehr.

»Nieder mit Ebert!«

Die Ersten schrien es aus dem Schutz des Gedränges heraus, aber bald schon rollte der Protest über alle Köpfe hinweg auf den kleinen Lehmhügel zu, auf dem sich Ebert zunehmend unwohl fühlte. Plötzlich brachen Reihen auf, blockierten Komparsen Durchgänge, wurde die Situation in ihrer ungewollten Dynamik bedrohlich. Leiber wogten in Wellen, Hände flogen durch die Luft, Münder und Augen waren wütend aufgerissen.

Und Lubitsch?

Er ließ filmen!

In all dem Chaos der jetzt rasch abziehenden Politik, entsetzten Direktion und entfesselten Komparserie ließ er die ganze wilde Erregung filmen! Ich weiß bis heute nicht, ob er Aufnahmen dieses Tages in den späteren Film hat hineinschneiden lassen. Aus der Entfernung und ohne Ton waren Zorn und Jubel nicht zu unterscheiden, und es war nicht ersichtlich, ob Heinrich VIII. oder Friedrich Ebert gemeint war.

So endete der Tag ohne Krönungszug.

Aber mit Kosten von etwa zweihundertfünfzigtausend Reichsmark.

Einer Summe, mit der man alle Komparsen lange hätte versorgen können, inklusive ihrer Familien, der Miete, Kleidung und Ausgaben für Vergnügungen.

Nur einer war zufrieden: Kino-Paule.

Irgendwann stand er neben mir im Kostüm eines Hofadligen und haute mir grinsend auf die Schulter: »Ick bin drin!«

Ich runzelte die Stirn: »Hm?«

»Na, ick ha’ direkt inne Kamera rinjejubelt!«

»Aha.«

»Wahnsinn! Kino-Paule is’ im Kino! Dank dir auch schön, Carl!«

»Nichts zu danken!«

Zufrieden stolzierte er davon.

Ich hatte ihm die kleine Rolle vermittelt, und irgendwann würde ich ihm die Sache mit dem Schnitt auch noch erklären müssen.

Aber nicht heute.

65

Der Riss zwischen Anna und Artur war nicht mehr zu kitten.

Ich war mir nicht sicher, ob Phillip hinter dem Diebstahl steckte oder nicht, wenn auch einiges dafürsprach, denn offiziell wusste niemand außer dem Dieb selbst von den heimlichen Griffen in die Kasse. Aber da Artur Phillip so sehr misstraute, hatte er, wie er mir erzählte, kurz nachdem ihm der Diebstahl aufgefallen war, eine Gelegenheit arrangiert, bei der Phillip scheinbar heimlicher Zeuge eines Gespräches zwischen ihm und Isi über die Vorkommnisse werden musste. Somit war er der Einzige, der vom Verdacht erfuhr. Ursprünglich hatte Artur wohl testen wollen, ob die Diebstähle so aufhören würden. Stattdessen aber beschuldigte Phillip Anna nach diesem Gespräch mit den entsprechenden Folgen.

Auch für Artur hatte die Sache Konsequenzen, denn Anna konnte ihm die Anschuldigung nicht verzeihen, unabhängig davon, ob sie Teil einer Verschwörung gegen ihn war oder nicht. Sie tobte immer noch vor Wut, als er das Ganze klarstellen wollte, und erneuerte ihren Schwur, ihm zu schaden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihre Chance sehen würde.

Einstweilen kam nicht nur der Tag der Hochzeit, sondern auch der Tag, an dem Berlin zu Groß-Berlin verschmolz: Lichtenberg, Schöneberg, Charlottenburg, Wilmersdorf, Spandau, Köpenick und Neukölln wurden zusammen mit neunundfünfzig Landgemeinden und siebenundzwanzig Gutsbezirken eingemeindet. Am 1. Oktober 1920 war Berlin zurück auf der Weltbühne, präsentierte sich mit einem Paukenschlag und vier Millionen Einwohnern nach London und New York als drittgrößte Stadt des Planeten. Und flächenmäßig war nur noch Los Angeles größer.

Doch im Innersten war die Stadt krank und schwach.

Die Bedingungen des Versailler Vertrags schnürten das Reich derart ein, dass es nur eine Möglichkeit gab, Volk und Entente zu bedienen: Man druckte das Geld selbst. Der Beginn einer beispiellosen Inflation, die das Leben enorm billig machte – für Besucher aus dem Ausland. Vor allem amerikanische oder englische Damen begleiteten ihre Töchter nach Berlin, wo sie für ein paar Dollar oder Pfund eine ganze Aussteuer erwerben konnten. Bald jeden Monat seit Kriegsende hatte die Reichsmark an Wert verloren und Deutschland sich so in ein Einkaufsparadies verwandelt. Nur nicht für Einheimische. Und ganz gleich, wen man in diesem schrecklichen Krieg auch verloren hatte, der Versuchung, ein Schnäppchen zu machen, stand die Trauer jedenfalls nicht im Weg.

Gleichsam war das erste Jahr des neuen Jahrzehnts der Beginn eines neuen Berlins, in dessen Mitte neben unsagbarer Armut, Hunger und Wohnungsnot auch eine unstillbare Vergnügungssucht zu wuchern begann. Und so besuchten nicht nur die ersten wohlhabenden Damen aus Übersee oder von der Insel den ehemaligen Todfeind, sondern auch deren Ehemänner und Söhne– dieselben manchmal, die zwei Jahre zuvor noch an der Front gekämpft hatten – und stürzten sich ins Amüsement. Denn alles war hier zu haben, vor allem: Sex. Das Land, dessen Bevölkerung einst als dienstbeflissen, obrigkeitshörig, nationalistisch, anständig und streng gläubig gegolten hatte, begann, sich zu einem Paradies für Erotomanen zu entwickeln, in dem man jeder noch so ausgefallenen Perversion nachgehen konnte und immer genügend fand, die sie erfüllten.

Erfüllen mussten.

Die Puppenjungs und die Tauentzienmädel. Die Minetten, Nutten und unattraktiven Steinhuren in der Oranienstraße. Die Fünf-Uhr-Frauen, die sich am Nachmittag ein Zubrot verdienten, oder die Münzis, Schwangere in der Münzstraße. Die Stiefelmädchen, die prügelten, die Rennpferde, die sich prügeln ließen. Die Stricher und Grashüpferinnen im Tiergarten, die mit schneller Erleichterung hinter einem der Büsche lockten. Und überall eröffneten Bars, Dielen und Spelunken, die noch mehr Spaß versprachen.

Doch nichts davon hatte den schillernden, sprühend wollüstigen Charakter späterer Jahre. Da war nichts von der Eleganz, dem Leichtsinn und der unstillbaren Gier nach Leben. Im Gegenteil: Alles war roh, dreckig, ungebremst und spiegelte allein eine erzwungene Liberalität wider, die in Wirklichkeit ein jeder gegen jeden war. Es war, als tanzte man mit schweren, nassen Stiefeln und hielte sich dabei gegenseitig im Würgegriff.

Isis Hochzeit dagegen sollte leichtfüßig sein.

Ein schwereloses Fest im Land des Vergessens.

Es sollte Essen und Wein im Überfluss geben. Musik und Gelächter. Küsse und Umarmungen. Ein Ereignis, dessen Bilder man mit nach Hause trug, um sie anzuschauen, wenn es kalt war, das Brot hart und das Leben schwer. Es sollte der Traum sein, in den man floh, wenn man Dinge für das Überleben tun musste, die vor dem Krieg undenkbar gewesen wären.

Alles sollte anders sein.

Und wurde es auch.

Noch Jahre später sprach man davon.

An jenem Morgen nahm ich letzte Korrekturen an ihrem Hochzeitskleid vor, wobei ich mir bei aller gegebenen Bescheidenheit zugestehen durfte, ein so schönes Kleid geschneidert zu haben, dass es sich mit den besten Kreationen meines Vaters messen lassen konnte. Zart schmiegten sich Seide und Chiffon an Isis schönem Körper hinab bis an die Füße, während die Schleppe luftig und spitzenbesetzt meterlang vom Haar herabfiel und ihr damit einen königlich dramatischen Auftritt garantierte. Dazu ein spitzenbewehrtes Häubchen, von dem ein feiner Schleier bis auf die Ellbogen reichte, ihr Gesicht und das recht gewagte Dekolleté dabei ätherisch verhüllte.

Isi weinte, als sie es anzog, und weinte erneut, als sie damit vor den Spiegel trat. Und ja, ich weinte ebenfalls, mal wieder, aber gleichzeitig lachten wir auch, und für einen Moment sah sie mich an, wie sie mich vor vielen Jahren auf dem Kosackenberg in Thorn angesehen hatte, als sie immer näher gekommen war und mir dabei das Herz geklopft hatte, weil sie so wunderbar war. Damals war sie Arturs Freundin gewesen, und die bloße Andeutung romantischer Gefühle für sie hätte ich als Verrat empfunden, sodass der Augenblick vorbeigezogen war und wir nie wieder darüber gesprochen hatten.

»Weißt du noch, damals?«, fragte sie da.

Ertappt starrte ich sie an, denn offenbar hatte sie an das Gleiche gedacht.

»Ja«, antwortete ich.

Sie lächelte und hielt meinen Blick.

Erwartete sie eine Reaktion von mir? Sollte ich etwas sagen? Was sollte ich sagen? Dass sie nicht heiraten sollte? Nicht Aldo, sondern mich? Sie war mir plötzlich so nah wie damals …

… aber dann klopfte es an der Tür, und Hans trat an der Hand von Frau Schulze, unserer Nachbarin, ein, die an diesem Tag auf ihn aufpassen sollte, wenn ich fotografierte oder das Kleid absteckte oder mich um die Gäste kümmerte. Für einen Moment sah sie uns irritiert an, schien sie die eigenartige Stimmung zu wittern, obwohl wir uns in keiner kompromittierenden Situation befanden.

Isi wandte sich ihr zu und lachte Hans an: »Na, kleiner Mann? Komm her! Willst du vielleicht einen Kuss von deiner Tante Isi?«

Hans grinste, und zu meiner Überraschung kam er der Aufforderung nach, ließ sich von Isi hochheben und auf die Wange küssen. Verlegen wischte er sich mit dem Handrücken über die Stelle.

»Kommt schon noch!«, lachte Isi und reichte ihn mir.

»Bereit?«, fragte die Nachbarin.

Eine Sekunde zögerte sie mit der Antwort, prüfte mit abwesendem Blick ihr Kleid, dann streckte sie sich und nickte: »Bereit!«

Während Hans an der Seite von Frau Schulze blieb, packte ich Fotoapparat, Stativ sowie eine gepolsterte Kiste mit unbelichteten Glasplatten und stieg dann zu den dreien in Arturs Auto, das Arnie für uns steuerte.

Während der kurzen Fahrt über den Schlesischen und die Schillingbrücke zur St.-Thomas-Kirche am Mariannenplatz scherzten Arnie und Isi, wobei man ihrem etwas zu schrillen Gelächter und den etwas zu forcierten Antworten anhören konnte, dass sie nervös war.

Die Kirche selbst war Berlins größte und schon der bloße Anblick imposant. Erbaut im Stil des Spätklassizismus ragten vorn zwei knapp fünfzig Meter hohe eckige Türme empor, während dahinter eine noch höhere Kuppel zu sehen war, die auf einem gewaltigen Zylinder saß, was den wuchtigen Bau zusammenrücken und kleiner aussehen ließ, als er war. Tatsächlich fanden hier dreitausend Gläubige Platz, was St.-Thomas nicht nur zum evangelischen Zentrum der Luisenstadt, sondern auch ganz Berlins machte.

Freilich war kaum einer der geladenen Gäste gläubig, und wenn, dann wohl eher dem Katholischen zugewandt, denn hier griff das überaus praktische Konzept der schnellen Beichte und anschließenden Vergebung, wobei Gott bei den täglich begangenen Sünden der Anwesenden reichlich zu tun gehabt hätte. Etwa zweihundert drängten sich vor den Türmen auf dem Kirchplatz, Männer mit Hüten in gut sitzenden Anzügen, die Damen in auffälligen Kleidern zur aufwendigen Frisur.

Als Arnie vorfuhr, brandeten Jubel und Applaus auf, den Harry gekonnt dirigierte. Offenbar hatte er die Zeit bereits genutzt, das illustre Publikum ordentlich anzuheizen. Und die Begrüßung war so frenetisch, dass es mich gewundert hätte, wenn weder Alkohol noch Drogen im Spiel gewesen wären. Isi jedenfalls verbeugte sich, noch auf dem Trittbrett des Automobils stehend, mit breit grinsendem Gesicht.

Aldo trat aus der Menge heraus an das Auto heran, half Isi hinab und ließ sich dann ebenfalls von den Gästen feiern. Ich sah Artur gleich neben dem Portal der Kirche auf die Braut warten, schleppte dann meine Ausrüstung aus dem Wagen und versuchte, lautstark zu annoncieren, dass wir schon vor der Trauung das eine oder andere Foto machen sollten. Und weil mir Inszenierungen nicht fremd waren, ließ ich das Vorfahren der Braut noch einmal wiederholen und schoss ein erstes Foto, das Isi im Fond des Wagens zeigte, neben ihr Hans und Frau Schulze, vorne Arnie, sie alle umrahmt von vielen Gästen, die sich ihnen zugewandt hatten und jubelten.

Ein zweites Foto zeigte Isi und Aldo, wie er sie vom Trittbrett des Wagens auf die Arme hob: die herrliche Fotografie einer ausgelassenen Braut, eines stolzen Bräutigams und einer euphorischen Menge um sie herum. Aldo setzte Isi ein Diadem ins Haar, dasselbe, das er ihr schon ganz zu Beginn ihrer Beziehung hatte schenken wollen, diesmal jedoch nahm Isi lachend an, und auch davon schoss ich ein Foto.

Jemand pfiff laut, sodass ich mich, wie die meisten anderen Gäste, zur Kirche drehte und Artur dort stehen sah, der mahnend auf seine Armbanduhr klopfte.

So setzte sich endlich der ganze Tross in Bewegung und strömte in die Kirche, bis nur noch Isi, Artur und ich vor der Tür standen. Wir warteten darauf, dass auf den Kirchenbänken langsam Ruhe einkehrte. Aldo stand bereits vorne vor dem Altar, auch der Priester war bereit.

»Gebt mir ein paar Minuten!«, sagte ich den beiden. »Ich bau mich vorne auf, damit wir ein paar schöne Bilder bekommen.«

Gerade bückte ich mich nach den Fotoplatten, als Frau Schulze aus der Kirche heraustrat und sich gehetzt umsah: »Habt ihr Hans gesehen?«

Wir blickten sie stirnrunzelnd an.

»Er hat sich eben im Durcheinander losgerissen, und ich dachte, er wäre vielleicht schon in die Kirche gelaufen, aber da ist er nicht«, erklärte sie.

»Haben Sie überall nachgesehen?«, fragte Artur.

Frau Schulze schien die Frage gar nicht mitbekommen zu haben und suchte mit blassem Gesicht den Vorplatz ab: »Ich verstehe das nicht. Eine Sekunde hab ich ihn aus den Augen verloren, und schon war er weg. Ich verstehe das wirklich nicht.«

»Ich muss ihn suchen, Isi!«, sagte ich alarmiert.

»Und die Fotografien?«, fragte sie enttäuscht.

»Es tut mir wirklich leid!«

Da nickte sie und sagte: »Wir suchen ihn zusammen! Ohne deine Bilder heirate ich nicht!«

»Isi!«, mahnte ich.

»Wir machen das so, wie ich es sage!«, beharrte sie.

»Ich frage mal die Gäste«, sagte Artur ruhig und verschwand in der Kirche.

Von dort konnte ich sehen, wie er Reihe für Reihe nach Hans fragte, gestisch seine Körpergröße beschrieb und weiterging, wenn Kopfschütteln die Antwort war. Dann aber hob eine Frau den Arm und beschrieb eine Richtung, in die Hans offensichtlich gegangen war. Artur hörte ihr aufmerksam zu, fragte nach, fragte erneut nach, ungläubig, dann drehte er auf dem Absatz um und kam uns im Laufschritt entgegen.

»Sie hat ihn gesehen!«, sagte er rasch und sah mich dann ernst an. »Aber er war nicht allein.«

»Was heißt das?«, fragte ich beunruhigt.

»Er ging an der Hand eines Mannes.«

»Was für ein Mann?«, fragte ich.

»Die Beschreibung passt auf Phillip.«

»O Gott!«, stieß Isi aus. »Wir müssen ihn finden!«

»Du heiratest jetzt!«, antwortete ich. »Ich kümmer mich drum.«

»Kommt nicht infrage. Wir holen ihn, dann wird geheiratet! Frau Schulze? Sagen Sie Aldo, dass ich ihn auf jeden Fall heirate. Er soll sich bloß nicht vom Fleck rühren!«

Sie nickte und trat dann ins Gebäude.

»Weißt du, wo er hin ist?«, fragte ich Artur.

»Richtung Schillingbrücke«, antwortete er.

Wir liefen los und müssen wohl ein wirklich komisches Bild abgegeben haben: zwei festlich angezogene Männer und eine rennende Braut dazwischen. Bald erreichten wir das Spreeufer und sahen Phillip, der mit Hans an der Hand im Begriff war, die Brücke zu überqueren. Als wir bis auf etwa vierzig Meter heran waren, hörte er wohl das rasche Trappeln unserer Schritte und drehte sich zu uns um: Er war blass, und seine Augen funkelten irre.

»HALT!«, schrie er. »KEINEN SCHRITT WEITER!«

Er hob Hans an seine Brust.

Mittlerweile hatte er fast die Mitte der Brücke erreicht, während wir sie gerade erst betraten.

»Phillip, gib mir bitte den Jungen!«, rief ich erschrocken.

»Ahhh, jetzt willst du plötzlich etwas von mir, Carl. Wo warst du denn, als ich etwas von dir wollte?«

»Ich habe dich immer gut behandelt, Phillip!«

»DU? Du hast mich bestohlen!«

Das war verrückt, und sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass es wenig Sinn hatte, dieses Gespräch weiter zu vertiefen.

»Er hat dir eine Arbeit vermittelt!«, rief Isi sauer.

»Eine Arbeit? Eine Scheißarbeit war das. Und noch beschissener bezahlt. Euer Freund da ist ein Blutsauger!«

»Die meisten verdienen ziemlich gut auf der Stelle!«, rief Artur zurück. »Nur du nicht. Denk mal drüber nach, Phillip!«

»Und was war mit Anna?«, schrie Phillip wütend. »Ohne mich hättest du die kleine Diebin nie erwischt! Ist das gar nichts wert?«

»Gib uns den Jungen!«, bat Isi. »Über alles andere können wir doch in Ruhe sprechen.«

»Was gibts denn da zu besprechen? Ich habe nichts mehr! Keine Frau, keine Kinder, keine Arbeit!«

»Phillip«, bat ich. »Beruhig dich bitte!«

»Ich soll mich beruhigen? Ich habe den Jungen damals gerettet, Carl! Hörst du? Ich habe ihn gerettet! Und so dankst du es mir?«

»Was willst du denn?«, fragte ich.

»Sag mir, wo der Schmuck ist! Er gehört mir!«

»Er gehörte deinem Vater, Phillip!«, rief ich zurück. »Und dein Vater hatte sich entschlossen, ihn zu verschenken!«

»ER GEHÖRT MIR! ER WAR MEIN ERBE!«

»Ich weiß nicht, wo der Schmuck ist! Du hast unsere Schneiderei in Thorn doch gesehen! Sieht so etwa das Geschäft eines reichen Mannes aus?«

»Du hast den Schmuck!«, beharrte Phillip. »Ich weiß, dass du ihn hast. Gib ihn mir, dann gebe ich dir Hans!«

Artur hatte offenbar genug gehört und marschierte Phillip entschlossen entgegen.

»BLEIB, WO DU BIST!«, kreischte Phillip.

Artur beschleunigte seine Schritte nur noch.

Da hob Phillip Hans auf die Brüstung der Brücke und schrie: »Ich werfe ihn ins Wasser! Ich schwöre es!«

»ARTUR!«, schrie ich entsetzt.

Er hielt inne und rührte sich nicht mehr.

Da zupfte Isi ihr Diadem aus dem Haar und wedelte damit durch die Luft: »Nimm das hier! Du kannst es haben!«

»Ich will mein Eigentum!«

»Wir haben den Schmuck nicht, Phillip. Alles, was ich dir anbieten kann, ist das Diadem. Die Diamanten gegen Hans. Das ist ein gutes Geschäft!«

Phillip zögerte.

Dann liefen Tränen über seine Wangen: »Ich wollte doch nur eine Chance!«

»Nimm das Diadem, Phillip!«, rief ich. »Damit kannst du neu starten. Das ist eine Chance.«

Wieder Zögern.

Dann nickte er: »Sie soll es mir bringen!«

Isi ging langsam auf ihn zu und streckte die Hand mit dem Diadem vor, als sie ihn fast erreicht hatte.

»Mach keine Faxen, Mädchen!«, zischte er ihr böse zu, hielt mit einem Arm Hans an der Brüstung, streckte Isi den anderen entgegen. Fünf Finger suchten vorsichtig den Schmuck und schnappten zur Faust zusammen, als sie ihn berührten. Gleichzeitig schielte er zu Artur, dessen Körper sich anspannte, fertig zum Sprung.

Im nächsten Moment stieß er Hans über die Brüstung.

Entsetzt schrien Isi und ich auf, sahen, wie der kleine Körper durch die Luft segelte, um in einer gischtigen Corona ins Wasser zu schlagen, wo er unterging wie ein Stein. Isi zögerte keine Sekunde und sprang dem Kleinen hinterher, eine wirbelnde weiße Braut, die mit den Füßen voran in die Spree stach und ebenfalls darin verschwand. Ich rannte von der Brücke runter zum Ufer, während Phillip sich bereits umgedreht hatte und davonlief. Artur im Rücken.

Isi stieß an die Oberfläche, schnappte nach Luft und tauchte erneut kopfüber hinab, während ich ihr am Ufer im Tempo der Strömung folgte. Endlose Sekunden verschwand sie, bevor sie wieder hochkam und Hans im Arm hatte. Da sprang ich, der ich kein guter Schwimmer war, ebenfalls ins Wasser und kam den beiden entgegen, übernahm Hans, brachte ihn ans Ufer, sprang zurück, um auch Isi zu retten, die langsam die Kräfte verließen, nicht nur, weil das Wasser empfindlich kalt war, sondern vor allem, weil das vollgesogene Kleid sie zum Grund herabzog.

Vollkommen außer Atem erreichten wir das Ufer.

Umarmten uns und Hans, der uns nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Oben auf der Brücke waren weder Artur noch Phillip zu sehen, wenn ich mir auch sicher war, dass Phillip nicht sehr weit kommen würde.

Und so endete der Tag dann mit einer klatschnassen, schminkeverschmierten Braut vor dem Altar, einem konsternierten Pastor und einem eleganten Lebemann, der dem ganzen Durcheinander mit bewundernswerter Haltung entgegentrat. Seine Zukünftige jedenfalls grinste ihn schelmisch an, als er ihr den Ring auf den Finger schob, während die Gäste hinter ihnen lachten.

Das Diadem funkelte wieder auf ihrem Kopf.

Ich drückte auf den Auslöser.

Was für ein Bild.