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Zu Isis Eigenheiten gehörte unter anderem, dass sie nicht einmal in ihrer Unberechenbarkeit berechenbar war, ungeachtet natürlich ihrer politischen und gesellschaftlichen Grundüberzeugungen. Bisweilen hatte ich sie im Verdacht, dass sie bei ein und derselben Sache dienstags dafür sein konnte, mittwochs indes dagegen. Nur um ihr Gegenüber damit zu verblüffen. Das war zuweilen anstrengend, oft spannend, aber immer unterhaltsam.
Und auch, was Aldo anging, wusste sie zu überraschen. Wer sie kannte, hätte angenommen, dass sie, der aufgeklärte, wilde Freigeist, noch während ihrer Verlobungszeit munter durch Aldos Bett gepflügt wäre, aber dieselbe Frau, die 1914 mit Ausbruch des Krieges ohne Trauung das Bett mit Artur geteilt und den donnernden Satz von sich gegeben hatte, dass sie weder Pfaffen noch Ring bräuchte, um jemandes Frau zu sein, bestand jetzt darauf, dass die Dinge in ziemender Reihenfolge abliefen. Und das bedeutete für Aldo, dass er praktisch mit heraushängender Zunge vor dem Traualtar gestanden hatte, weil Isi seine Leidenschaft seit Monaten auf kleiner Flamme köchelte, ohne sich ihm je hinzugeben.
Vielleicht wäre sie bei jemandem wie Theo, dem ermordeten Matrosen, freizügiger gewesen, und wäre es nur aus dem Grund, die Bürgerlichen mit promiskem Verhalten zu schockieren, doch bei Aldo blieb sie hart – auch gegen sich selbst. Denn für sie, so verriet sie mir einmal reichlich beschwipst, wurde es genauso Zeit, den vielen Küssen und Liebkosungen endlich ein paar saftige Taten folgen zu lassen. Informationen, die ich in dieser Detailtreue wirklich nicht zu hören wünschte, aber mich verlegen zu machen amüsierte sie eben. Ich glaube, sie hatte vornehmlich aus einem Grund auf keusche Sittsamkeit bestanden, nämlich, weil sie keine der üblichen Eroberungen Aldos sein wollte. Und so verwandelte sich am 1. Oktober 1920, im Gegensatz zu den vielen Verflossenen Aldos, Isi Beese in Luise von Torstayn.
Als solche packte sie am Sonntag ihre Habseligkeiten in zwei große Koffer und zog zu Aldo, nach einer Sause, die insgesamt fast zwei Tage gedauert und das Arcasi wie einen Penner unter einer Spreebrücke alkoholgetränkt und verwahrlost zurückgelassen hatte. Sie gehen zu sehen tat weh, obwohl sich zwischen uns dreien natürlich nichts verändert hatte, aber ihre Heirat kam einer Zäsur gleich, die vor allem ihr, aber auch unser Leben in ein Davor und Danach zu teilen drohte.
So begleitete ich sie zum Auto, in dem Artur bereits wartete, und verstaute ihre Koffer. Dann ließen wir uns in die wunderschöne blitzend weiße Villa mit dem herrlichen Garten und den vornehmen Nachbarn fahren. Dort hielten wir, trugen jeder einen Koffer vor die Haustür, an die sie munter klopfte. Ich denke, ich kann sagen, dass uns allen mulmig zumute war, obwohl jeder sich um ein Lächeln bemühte, um Zuversicht und Freude, aber an den Augen sahen wir einander an, dass sich etwas verändert hatte und jeder wohl ein wenig fürchtete, unser gemeinsames Leben, unser Zusammensein würde nie mehr so sein wie früher.
Was, wenn sie Kinder bekam?
Was, wenn die mütterlichen Pflichten sie erwachsener werden ließen? Wenn all die wilden Abende im Arcasi oder im Eden mit ihren schrulligen und aufregenden Protagonisten vorbei waren? Allein, dass Isi und ich uns abends nicht mehr auf einen Wein im Wohnzimmer treffen konnten, um uns von unserem Tag zu berichten, schmerzte schon jetzt.
Zu unserer Überraschung öffnete Aldo selbst.
»Da bist du ja!«, rief er freudig.
Sie küssten sich vor Artur und mir ohne schamhafte Zurückhaltung ab. So standen wir ein wenig ratlos und natürlich reichlich überflüssig daneben.
»Wir machen uns dann mal wieder auf …«, sagte Artur schließlich und wandte sich bereits zum Gehen.
Aldo löste seinen Mund von Isis und rief schnell: »Wartet! Kommt doch bitte rein!«
»Wir stören sicher …«, antwortete ich zögernd.
»Aber nein! Kommt nur!«
Dann sah er Isi an, streckte beide Arme aus und gab ihr zu verstehen, dass er sie über die Schwelle zu tragen gedachte.
»Darf ich bitten?«
Isi nahm lächelnd an und ließ sich von Aldo ins Haus heben.
»Bringt ihr die Koffer mit?«, rief sie uns über die Schulter zu.
»Großartig!«, maulte Artur. »Keine zwei Tage Frau von Torstayn, und schon gehören wir zum Personal.«
Wir folgten den beiden in den Salon mit der großen Tafel, an dem unser Treffen mit Aldos Familie so aus dem Ruder gelaufen war. Damals hatte es vor Bediensteten nur so gewimmelt, jetzt schien das Haus beinahe verlassen zu sein. Dann aber trat endlich ein Diener dazu, ein älterer Herr, der uns die Jacken und Mäntel abnahm und gleich wieder verschwand.
Die schweren Koffer ließ er uns freundlicherweise da.
Aldo hatte derweil schon eine Flasche Wein geöffnet und vier Gläser auf den Tisch gestellt, die er nacheinander füllte.
»Wo sind denn deine ganzen Leute?«, fragte ich neugierig.
Ich hatte Aldo eigentlich noch nie etwas selbst tun sehen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er sich nicht nur abends von Dienern aus- und morgens wieder anziehen ließ, sondern auch heimlich daran arbeitete, seine Wünsche telepathisch zu vermitteln, weil er schon für die bloße Anweisung zu faul war.
»Ah!«, winkte Aldo jovial ab. »Das waren wirklich zu viele. Ich konnte mir ja kaum ihre Namen merken.«
»Hast ja jetzt Isi!«, grinste ich. »Die kann hier ein bisschen feudeln!«
Isis Augen verengten sich zu Schlitzen.
Aldo lächelte: »Isi haben die vielen Diener auch nicht gefallen!«
»Habe ich nie gesagt«, antwortete Isi überrascht.
»Ich habs angenommen«, fügte Aldo schnell an.
»Wie dem auch sei!«, sagte Artur. »Es ist ein schönes Haus. Und ihr habt jetzt eine Menge Zeit, es auf andere Weise zu bevölkern.«
Aldo und Isi grinsten.
»Aldo beweist in diesem Zusammenhang jedenfalls unerschrockene Könnerschaft!«, antwortete Isi belustigt.
Da räusperte ich mich schnell und sagte: »Äh, gut, dann wollen wir nicht weiter stören. Kommst du, Artur?«
»Nur noch das Fläschchen hier«, bat Isi und zeigte auf den Wein.
»Wie das läuft, weiß ich genau«, antwortete ich. »Wenn wir fertig sind, kann keiner mehr von uns stehen. Also, Allerliebste, ich wünsche … ähm … gutes Gelingen.«
Ich wusste selbst, wie sich das anhören musste, und ertrug mit Langmut das spöttische Gekicher und die belustigten Blicke.
Wir verließen mit Umarmungen, Küssen und besten Wünschen die Villa.
»Kannst du dir Aldo ohne Diener vorstellen?«, fragte ich auf dem Weg zum Automobil.
»Ich kann mir nicht mal vorstellen, dass er sich selbst die Schuhe bindet.«
»Wenn er glaubt, Isi putzt ihm die Bude, dann wird er feststellen, wie schnell man geschieden werden kann.«
»Hm«, machte Artur.
Er stieg ins Auto, während ich mit der Kurbel den Wagen startete.
»Sag mal, was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte …«
»Ja?«
»Was ist eigentlich mit Phillip?«
»Er wird dich nicht mehr belästigen.«
Ich nickte: »Schon, aber was … also, was hast du mit ihm gemacht?«
Artur sah mich ruhig an: »Willst du das wirklich wissen?«
»Ich …«
Einen Augenblick hielt ich noch seinen Blick, dann schüttelte ich den Kopf und steckte die Kurbel weg: »Lieber nicht.«
Wir fuhren los und sprachen nie wieder über dieses Thema.
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Eine Weile stand ich in Isis verwaistem Zimmer und blickte in den gähnend leeren Kleiderschrank, auf das abgezogene Bett, den Waschtisch mit der trockenen Kanne, aus der niemand mehr für die Morgentoilette Wasser in die Porzellanschüssel gießen würde. Aldo hatte in seiner Villa natürlich fließend Wasser, mehrere Bäder und jeden nur denkbaren Komfort, von der Weitläufigkeit der einzelnen Gemächer gar nicht zu sprechen. Sie würde sich umstellen müssen – wir uns allerdings auch.
Obwohl wir uns geschworen hatten, einander weiter regelmäßig zu sehen, ja sogar einen festen Tag im Monat verabredeten, an dem wir uns treffen wollten, schien sich jetzt gerade dieser kleine Raum in seiner Ödnis unendlich auszudehnen, während die Bilderschatten an den Wänden sich zu Abrisslöchern, eines verlassenen Zuhauses verzerrten.
Sie war wirklich fort.
Ich war allein.
Mit Hans.
Frau Schulze wurde nicht müde, ihn zu loben, weil er sich trotz des Vorfalls auf der Brücke so tapfer schlug, und tatsächlich war er nicht stiller als sonst, wobei das auch kaum möglich gewesen wäre. Zumindest hatte er die letzten beiden Nächte gut geschlafen, ohne Albträume jedenfalls, und in mir wuchs die Hoffnung, dass er den Sturz ins Wasser tatsächlich als harmlose Episode abgetan hatte. Aber als ich an diesem Abend an seinem Bett saß, um ihm etwas vorzulesen, konnte ich in seinen Augen sehen, dass es unentwegt in ihm arbeitete, dass er sich zwar Mühe gab, Anschluss an die ihn umgebende Welt zu finden, doch nicht wusste, wie.
Nach Isis Auszug waren wir das erste Mal wirklich allein, und ich fragte mich, wie wir unser beider Zukunft gestalten sollten, wenn es mir nicht gelang, zu ihm durchzudringen.
Wieder einmal versuchte ich es mit Musik.
Bat ihn ins Wohnzimmer, gab ihm seine Ziehharmonika, nahm meine. Wir saßen zusammen und spielten die Lieder, die er bereits beherrschte. Allzu groß war sein Repertoire nicht, sodass wir die Stücke wiederholten, zu denen ich ein wenig zu improvisieren begann, manchmal recht albern, was ihn tatsächlich ein wenig lächeln ließ. Dennoch wollte sich keine rechte Nähe einstellen.
Irgendwann brach ich ab, während Hans noch ein paar Takte weiterspielte, nicht, weil er sich in der Musik verloren hatte, sondern, ganz im Gegenteil, weil ihn das, was ihm offensichtlich im Kopf umherging, so sehr beschäftigte: Er hatte gar nicht bemerkt, dass ich ihn nicht mehr begleitete.
Dann aber brach auch er ab und starrte regungslos auf den Boden.
»Wollen wir reden, Hans?«, fragte ich.
Üblicherweise blieb er in solchen Momenten unbewegt, diesmal aber nickte er leicht.
Ich schwieg, suchte nach dem richtigen Einstieg und sagte dann: »Vielleicht kannst du mir ja ein bisschen helfen? Ich bin nämlich auch nicht so gut darin, über wichtige Sachen zu reden.«
Wieder nickte er leicht.
»Phillip hat dich erschreckt, oder?«
»Ein bisschen schon.«
»Mich hat er sehr erschreckt. Tante Isi und Onkel Artur auch. Und wir sind ja schon groß. Für dich war es bestimmt noch viel schlimmer …«
»Er war sehr nett zu mir …«, antwortete Hans leise.
»Aber dann hat er dich ins Wasser geworfen, Hans!«
»Ja, und Tante Isi hat mich wieder rausgeholt.«
Ich nickte, und er verfiel wieder in grüblerisches Schweigen.
»Was sorgt dich, Hans?«, begann ich erneut.
Stille.
»Ist es vielleicht die Schule? Gefällt dir die Schule?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Sind die Lehrer zu streng?«
»Ein bisschen.«
»Bist du bestraft worden?«
Er schüttelte den Kopf.
»Hast du denn schon einen Freund oder eine Freundin gefunden?«, fragte ich nach einer kleinen Pause.
Wieder Kopfschütteln.
»Wirst du vielleicht von jemandem geärgert?«
»Manchmal«, antwortete er zögernd.
»Soll ich einmal mit den Lehrern sprechen?«
»Nein, es ist nicht so schlimm.«
Ich seufzte unhörbar: Ich konnte mir vorstellen, dass es für so einen stillen Jungen in der Schule nicht leicht war, dass einer wie er nur schwer Allianzen oder gar Freundschaften schließen konnte. Hans gehörte zu den Kindern, die leicht Opfer von Zänkereien oder Übergriffen wurden, weil er sich nicht wehrte und weil er zu verschwiegen war, um jemanden zu verpetzen. Da reichte ein einziger Raufbold in der Klasse, um ihm das Leben zur Hölle zu machen.
»Was ist denn schlimm für dich, Hans? Versuch doch mal, in Worte zu fassen, was dich bedrückt. Vielleicht kann ich dir ja helfen?«
»Es ist dieses Gefühl … so ein komisches Gefühl.«
»Was für ein Gefühl?«
»Ich weiß es nicht. Es ist hier …«
Er zeigte auf seinen Bauch.
»Und hier …«
Er zeigte auf seine Brust.
»Und wie würdest du das Gefühl beschreiben?«
»Es drückt. Und mir ist auch ein bisschen schlecht. Es ist immer da.«
Ich fragte: »Hast du vielleicht Angst?«
Er nickte.
»Wovor hast du Angst?«
Er zuckte mit den Schultern: »Dass meine Mama nicht mehr zurückkommt.«
Wie bequem von mir, davon auszugehen, dass er den Tod seiner Mutter verdrängt hatte, nur, weil er sie in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal erwähnt hatte! Wie bequem, zu glauben, dass das, was man nicht aussprach, gar nicht da war! Aber es war da – das ganze erlittene Trauma. Und ich war ein ignoranter Idiot. Natürlich sehnte er sich nach seiner Mutter. Ich tat es ja auch! Wie hatte ich nur annehmen können, dass sie für ihn in den Nebeln des Vergessens verschwunden war?
»Ich vermisse deine Mama auch, Hans. Aber … sie kommt nicht mehr zurück. Wir beide haben nur uns.«
Er schluckte hart, während gleichzeitig seine Mundwinkel zuckten und er tapfer versuchte, nicht zu weinen.
»Aber vielleicht wird ja alles besser, wenn wir beide zusammenhalten? Was meinst du?«
Er zuckte mit den Schultern.
Seine Wortkargheit half nicht gerade. Ich war ratlos, aber dann blitzte wie aus dem Nichts eine Kindheitserinnerung in mir auf: Als ich ein kleiner Junge war, wachte ich eines Nachts auf, weil ich Geräusche gehört hatte. Ein Kratzen oder Schaben an der Hintertür, die auf den Hof und schließlich auch zum Abort führte. Ich schlief in der Küche und war überzeugt, dass jemand versuchte, bei uns einzubrechen, aber als ich einen schnellen Blick aus dem Fenster wagte, sah ich nichts. Jedenfalls keinen Einbrecher. Trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals, und ich kroch zu meinem Vater, der hinter einem Paravent in der Schneiderwerkstatt schlief.
Er umarmte mich im Schlaf, und ihn so ruhig atmen zu hören gab mir eine solche Zuversicht, dass ich sofort mit dem Gefühl großer Geborgenheit wieder einschlief.
Am nächsten Morgen erwachte ich wieder auf der Küchenbank, beinahe überzeugt davon, dass ich alles bloß geträumt hatte. Dann aber zwinkerte mein Vater mir während des Kaffees zu und gab mir ohne Worte zu verstehen, dass er gar nicht geschlafen hatte, als ich zitternd unter seine Decke gekrochen war. Und da wusste ich, dass er immer da sein würde, auch wenn in der Nacht die Monster erwachten. Weil ein richtiger Vater niemals schlief, auch wenn man das vielleicht glaubte.
»Was hältst du denn davon, wenn du eine Weile in mein Zimmer ziehst?«
Hans sah mich überrascht an.
Auch in Marlies’ finsterem Souterrainzimmer hatte nur ein Bett gestanden. So hatte er sich immer an sie schmiegen können, wenn er glaubte, dass ihn aus der Dunkelheit böse gelbe Augen anfunkelten.
Er lief mir entgegen und umarmte mich.
Drückte sich gegen meine Hüfte, so fest, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Vorsichtig legte ich ihm eine Hand auf den Kopf, mit der anderen streichelte ich seinen Rücken.
»Danke, Papa.«
Das Wort stach mir so tief ins Herz, dass ich einen rauen Kloß im Hals spürte. Es war das erste Mal, dass er mich so ansprach, und ich fühlte mich an den Moment erinnert, an dem ich Vater das erste Mal Papa genannt hatte. Es war nur Minuten vor seinem Tod gewesen, und es hatte ihn so glücklich gemacht wie mich gerade.
»Du lässt mich nicht allein?«, fragte er und presste sich weiter an mich.
»Aber nein, Hans! Ich werde immer für dich da sein!«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Er lächelte.
Und obwohl er nichts weiter sagte, war ich mir doch sicher, dass er zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit seine Monster zurück in den Kerker gesperrt hatte.
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Es war erstaunlich, welche Wirkung der Umzug in mein Zimmer auf Hans hatte. Er blühte für seine Verhältnisse förmlich auf, was ihn nicht gerade zu einer Plaudertasche machte, doch er wirkte munterer, sprach zuweilen von sich aus, ohne dass ich erst fragen und dann auf einsilbige Antworten hoffen musste. Für Außenstehende war er zwar immer noch ein stiller Junge, der wirkte, als würde er beständig an der Formel für Unsichtbarkeit arbeiten, für mich aber war es der Beginn eines zartblättrigen Austauschs, der sich vor allem in kleinen Gesten und subtilen Botschaften ausdrückte.
Sonntags machten wir Ausflüge auf das Tempelhofer Feld, wo ich ihm die Filmbauten, aber auch das Glashaus zeigte, erklärte, was Filmemachen bedeutete, was es dazu brauchte, und ihm lächelnd dabei zusah, wie er neugierig durch die Kulissen schlich. Abends im Bett erzählte er mir dann, was für Geschichten er sich dazu ausgedacht hatte.
Auch Isi bemerkte den Wandel und fragte erstaunt nach, was ich getan hätte. Als ich es ihr erzählte, nickte sie zustimmend und murmelte etwas rätselhaft, dass es für jeden schön wäre, Probleme auf diese Art und Weise lösen zu können. Natürlich hakte ich nach, aber sie wechselte charmant das Thema, sodass die kleine Irritation vorbeiflog und am Horizont verschwand.
Ansonsten kehrte eine ungewohnte Ruhe ein, verglichen mit den Aufregungen, die ich durchlebt hatte, seit ich im Dezember 1918 das erste Mal Berliner Boden betrat. Es passierte nichts. Einfach nichts. Selbst von Anna, die Artur bittere Rache geschworen hatte, war nichts zu hören, und Oberkommissar Kennel, der bibeltreue Vorzeigepolizist, schien sich nach der Durchsuchungspleite vorerst zurückgezogen zu haben. Vielleicht hatte man ihm auch von höherer Stelle auf die Finger geklopft, denn nicht nur er hatte Möglichkeiten, Artur hatte sie auch: Das Eden erfreute sich stetig wachsender Beliebtheit, was fast ganz automatisch zu guten Beziehungen in die besseren Kreise führte.
Ja, man hätte sagen können, es waren herrlich langweilige Wochen, beinahe zu schön, um wahr zu sein, wenngleich ich bereits ahnte, dass es so nicht bleiben würde, denn schon mein Vater hatte immer gewarnt, dass Dinge, die zu schön waren, um wahr zu sein, in aller Regel auch nicht wahr waren.
An einem Novembersamstag klopfte es dann am späten Nachmittag an unsere Haustür. Vor mir stand eine dicke Frau in den Fünfzigern mit Dutt im Haar und einem Kittel, wie ihn viele Hausfrauen werktags anstelle eines Kleides trugen, um ihre wenige gute Kleidung zu schonen. Obwohl es empfindlich kalt war, hatte ihr Kittel keine Ärmel, aber Frauen wie sie froren nicht, weil sie immer in Bewegung waren.
»Herr Friedländer?«, fragte sie.
»Ja?«
Sie kam mir vage bekannt vor, wenn mir auch nicht gleich einfallen wollte, wo ich sie schon einmal gesehen hatte.
»Is’ Frollein Isi da?«
Ich schüttelte den Kopf: »Isi wohnt nicht mehr hier. Sie hat geheiratet.«
»Wat denn, etwa den Herzoch von Torstayn?«
»Ja.«
»Ick … Ham Se da vlleicht ’ne Adresse?«
Endlich erkannte ich sie: Sie war eine der Köchinnen in der Armenküche, die Aldo mit großer Geste eröffnet hatte, als er Isi von sich überzeugen wollte.
»Ah, Sie sind Frau Werner, nicht?«
Sie nickte.
»Worum geht es denn? Vielleicht kann ich ja helfen?«
Sie nickte erneut – diesmal erleichtert, wie mir schien. Offenbar war ihr die Vorstellung, bei den von Torstayns aufzutauchen, nicht geheuer. Der tiefe Respekt vor Aldos Stellung war mehr als spürbar.
»Det wär janz reizend, Herr Friedländer. Wir ham da ’n kleenet Problem mit die Armenküche …«
Ich nickte: »Welches Problem?«
»Wissen Se, et is’ mir furchtbar unanjenehm, aber wir ham keene Lebensmittel mehr.«
Ich seufzte: »Die Versorgung ist einfach furchtbar in dieser Stadt. Eine einzige Mangelwirtschaft.«
»Sie verstehen mir falsch, Herr Friedländer. Wir könnt’n Lebensmittel ham. Et is’ nur – wir ham keen Jeld mehr. Und Herzoch von Torstayn hat seit Wochen keene Rechnungen mehr bejlichen, so det uns die Lieferanten ooch nischt mehr jeben wolln.«
Ich nickte mitfühlend: »Aldo ist ein Hallodri. Er hat es sicher vergessen.«
»Janz bestimmt, Herr Friedländer. Nur, wat machen wir denn jetz? Wir könn’ die Menschen einfach nüscht anbieten.«
»Ich kümmere mich drum.«
»Dit wär janz reizend. Vielen Dank!«
»Gern geschehen!«, antwortete ich und schloss wieder die Tür.
Ich ging rüber zu Arturs Haus und rief von dort bei Aldo an. Zu meiner Überraschung hob er selbst ab – meines Wissens nach hatte das bisher ausschließlich sein Personal getan. Nach einigen herzlichen Worten verriet ich ihm dann den Grund meines Anrufs. Und schloss mit den Worten: »Du hast es sicher verschwitzt, oder?«
Er zögerte kurz mit der Antwort, dann sagte er: »Ja ja … ganz vergessen.«
»Ich könnte heute Abend vorbeikommen. Ich habe euch beide eh lange nicht mehr besucht.«
»Vorbeikommen?«, fragte er.
»Na ja, du gibst mir einfach ein bisschen Geld mit, und dann können die Frauen morgen oder übermorgen wieder die Küche eröffnen.«
»Also, ich müsste da erst zur Bank …«
»Ach komm, du hast doch immer was im Haus. Schon allein, um deine Leute zu bezahlen.«
»Die haben gestern ihre Lohntüten bekommen, deswegen.«
»Na gut, dann komme ich einfach so vorbei.«
»Weißt du, Carl, heute ist es schlecht. Aber ich erledige das. Gleich am Montag.«
Wir verabschiedeten uns.
Es kam der Dienstag, und am Abend stand Frau Werner vor meiner Tür mit einem entschuldigenden Lächeln und der scheuen Bitte, vielleicht noch einmal beim Herzog nachzufragen, denn die Menschen hätten großen Hunger, und es sei nicht leicht, sie fortzuschicken. Zudem nicht wenige sie aufs Übelste beschimpften und den Köchinnen unterstellten, das Essen für sich abzuzweigen, um es zu verkaufen.
»So wat jibs bei uns nich! Herr Friedländer, ick schwöre et Ihn’ bei allet, wat mir heilich is’! Da nimmt keena ooch nur een Fitzel, obwohl wa seit Wochen keen Fennich Lohn jekricht ham!«
»Das auch nicht?«, staunte ich.
»Wenn ick et Ihn’ doch sare.«
»Ich werde nachfragen, Frau Werner. Das Ganze kann nur ein großes Missverständnis sein.«
Wieder rief ich bei Aldo an, wieder nahm er ab. Diesmal fiel die Begrüßung kürzer aus, bevor ich zum Punkt kam: »Aldo, was ist mit der Armenküche?«
»O ja, die … Ich kümmere mich drum.«
»Die Köchinnen bekommen keinen Lohn mehr?«
»Das … Ich bringe das in Ordnung.«
»Weiß Isi eigentlich, was da los ist?«
Es klang wie eine Warnung und war auch so gemeint. Ich hatte Aldo im Verdacht, dass er das Projekt einschlafen lassen wollte, nachdem er Isi erobert hatte, aber die würde sicher nicht amüsiert reagieren, wenn sie davon erführe. Sie wäre erbost darüber, dass jemand mit Aldos finanziellen Möglichkeiten eine gute Sache abwürgte, nur weil er zu faul oder zu vergnügungssüchtig war, sich darum zu kümmern. Genau wie ich.
»Gleich morgen werde ich der Küche Geld bringen.«
»In Ordnung. Frau Werner wird mir sicher berichten.«
Er schwieg.
Dann verabschiedeten wir uns.
Kühler als sonst.
Am nächsten Abend stand Frau Werner vor der Tür.
Diesmal lächelte sie breit und sagte: »Ick bedanke mir vielmals für Ihre Hilfe, Herr Friedländer!«
»War Aldo bei Ihnen?«
Sie nickte heftig: »Wat soll ick Ihn’ saren – der Herzoch war höchstpersönlich da und hat alle Rechnungen bezahlt. Und ooch die Löhne.«
Ich lächelte: »Na, dann ist ja alles in bester Ordnung!«
Das war es aber nicht.
Der Zufall wollte es, dass wir uns just an diesem Abend im Arcasi einfanden, wo wir wie bei unserem ersten Treffen nach der Hochzeit unser Wiedersehen gründlich zu feiern gedachten.
Isi war spät dran, und als sie eintrat, nicht gerade allerbester Laune.
»Ich musste mit der Straßenbahn los. Da draußen dauert es ewig, bis mal ein Taxi kommt.«
Artur runzelte die Stirn: »Sonst bringt dich doch Aldo immer? Ärger im Paradies?«
Isi winkte ab: »Nein, er hat nur dieses Benz-Monster verkauft und vergessen, dass ich heute hier verabredet war.«
»Er hat sein Automobil verkauft?«, fragte ich irritiert. »Aldo?«
Sie nickte: »Er hat gesagt, dass es sich schlecht steuern ließe. Ich habe ihm gesagt, dass das am Fahrer liege. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass er es nicht mehr hat. Er fährt wie ein schielendes Kleinkind. Aber trotzdem: schlechter Zeitpunkt.«
Sie bestellte Wein und entschuldigte sich dann, um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Kaum war sie verschwunden, sah ich Artur an: »Aldo ist in Schwierigkeiten.«
Artur wirkte überrascht: »Ist ihm die Pomade ausgegangen?«
Ich schüttelte den Kopf: »Ich glaube, er hat kein Geld mehr.«
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Ich hatte gerade genügend Zeit, um Artur in knappen Worten ins Bild zu setzen und mit ihm zu verabreden, dass wir Isi gegenüber erst einmal Stillschweigen bewahrten. Es war schon demütigend genug für einen Mann, seine Frau nicht ernähren zu können, für jemanden wie Aldo sicher doppelt schwer. Wir wollten ihm Gelegenheit geben, sich zu erklären, damit wir vielleicht eine Lösung fanden, die ihn das Gesicht wahren ließ. Grundsätzlich war er ein netter Kerl, wenn auch mit dem verantwortungslosen Gemüt eines leichtsinnigen Verschwenders, aber das war eben Teil seines Charakters wie auch Teil seines Charmes.
Nach dem ersten Glas Wein machte Isi einen munteren Eindruck. Zwar erzählte sie wenig über ihre Erfahrungen als frischgebackene Ehefrau, dafür aber eine Menge von abergläubischen Damen aus den höheren Kreisen, denen sie nach wie vor mit Tarot und Geisterbeschwörungen das Geld aus der Tasche zog. Ihr Einfallsreichtum diesbezüglich schien unerschöpflich, sodass sie die, die ihren Rat suchten, jedes Mal mit etwas Neuem überraschte. Frau von Lossow hatte den Anfang gemacht, und obwohl man Isi ein wenig misstraute, war man doch zu ängstlich, es sich mit einer Hexe zu verscherzen.
»Das wird nicht ewig funktionieren«, mutmaßte sie. »Irgendwann wird ihnen langweilig, oder sie kommen mir auf die Schliche.«
»Und was machst du mit den Einnahmen?«, fragte ich.
»Meine Agentur füttern. Ich habe ein kleines Büro in der Stadt gemietet. Da können Frauen hin, die Rat brauchen oder in Not sind.«
»Du schenkst denen doch nicht etwa dein ganzes Geld?«, fragte Artur entgeistert.
»Ich helfe!«, schnappte Isi zurück. Um dann ruhiger anzufügen: »Bei Rechtsstreitigkeiten zahlen wir den Anwalt, und wenn wir gewinnen, bekommen wir das Geld zurück plus eine Gebühr. Wir helfen schwangeren Dienstmädchen, Kriegskrüppeln und Prostituierten. Fehlt nicht mehr viel, dann trägt sich das Büro von alleine.«
»Und Aldo?«, fragte ich unschuldig.
Sie zuckte mit den Schultern: »Treibt so durch den Tag.«
»Tut er das nicht immer?«, fragte Artur.
»Sonst schläft er am Tag und erwacht in der Nacht. Wie ein Vampir.«
»Und jetzt nicht?«
»Er wirkt irgendwie traurig. Er sagt, es wäre alles in Ordnung, aber irgendetwas hat er …«
»Vielleicht schlägt ihm das Novemberwetter aufs Gemüt?«, half ich.
Isi nickte: »Vielleicht …«
Artur und ich warfen uns einen kurzen Blick zu, dann wechselten wir das Thema und beendeten den gemeinsamen Abend später wie üblich: lachend und betrunken.
Schon am nächsten Tag bat Artur Aldo zur Audienz in mein Haus. Ich brachte erst Hans ins Bett und traf anschließend die beiden im Wohnzimmer, wo wir Aldo auf unseren Verdacht hin ansprachen.
Zunächst versuchte er es mit beharrlichem Leugnen, aber da er weder Artur noch mich überzeugen konnte, sackte er schließlich in sich zusammen und gestand: »Meine Familie hat mir die Gelder gekappt.«
»Wegen der Heirat?«
Er nickte.
»Sie sind also immer noch sauer?«, fragte ich.
»Mehr als das.«
»Darum hast du deinen Fahrer entlassen? Und die Angestellten? Um zu sparen?«
Er seufzte: »Das Leben ist die Hölle ohne Diener!«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, Aldo, das Leben ist die Hölle ohne Brot, Arbeit, Gesundheit oder Anerkennung.«
»Für mich …«, fügte er erklärend an.
»Isi hat keine Ahnung?«, fragte Artur.
»Nein. Wir gehen weniger aus, das schon, aber sie weiß nichts.«
»Wie wäre es, wenn du mit ihr reden würdest?«, fragte ich.
»Um ihr was zu sagen? Dass ich nichts mehr habe? Eher sterbe ich.«
»Und wie soll das jetzt weitergehen?«, fragte ich. »Ohne Einkommen wird deine Situation nicht besser.«
»Ich nehme einen Kredit auf«, beschloss Aldo.
»Und wenn dieses Geld dann weg ist?«, bohrte ich.
»Dann nehme ich noch einen auf«, antwortete Aldo trotzig.
Ich seufzte: Er war wirklich wie ein Kind in diesen Dingen.
Artur schüttelte den Kopf: »Isi ist schlau. Sie wird das herausfinden.«
»Kannst du mir nicht helfen?«, fragte Aldo.
»Mit einem Kredit? Nein, Aldo. Ich vergebe keine Kredite. Und schon gar nicht an Freunde.«
»Was ist denn mit deinen reichen Freunden?«, fragte ich. »Es gibt doch niemanden, den du nicht kennst!«
»Und was soll ich denen sagen? Dass ich pleite bin? Da sterbe ich lieber gleich noch mal!«
»Sprich mit deinem Vater!«, schlug Artur vor.
Aldo verzog das Gesicht. »Sag mal, Artur, du warst doch bei unserem Essen dabei, oder? Selbst wenn mein Vater nicht so ein bornierter alter Knochen wäre, meine Mutter würde uns eher alle töten, bevor sie Isi in der Familie willkommen hieße.«
»Dann sitzt du ziemlich in der Klemme«, beschied Artur ungerührt.
»Du musst mir helfen, Artur!«, bat Aldo.
»Wie denn?«
»Ich könnte doch Teilhaber im Eden werden?«
Artur runzelte die Stirn: »Ich brauche keinen Teilhaber. Mal davon abgesehen, dass du kein Geld hast, um dich da einzukaufen!«
»Könnte ich mir doch bei dir leihen?«
»Nein danke.«
»Aber irgendwas muss ich doch tun!«, rief Aldo verzweifelt.
»Wie viel hast du denn noch?«, fragte ich neugierig.
»Kaum noch was. Ich musste ja die Armenküche bezahlen – deinetwegen!«
Ich schüttelte den Kopf: »Nicht meinetwegen, sondern wegen der Menschen, die hungern.«
»Ja ja, wegen denen auch!«, pflaumte Aldo zurück.
»Dann nimm erst mal einen Kredit auf«, riet ich. »Wenn du flüssig bist, könntest du doch ein großes Abendessen geben. Für all die Reichen und Mächtigen, die du kennst. Und dann unterbreitest du denen einen geschäftlichen Vorschlag und sammelst dafür Geld ein.«
»Was soll das für ein Geschäft sein?«, fragte Aldo.
»Eines, das dir bis dahin eingefallen ist! Herrgott, Aldo, ein bisschen was musst du schon selbst machen!«
Er hielt inne und schien über meinen Vorschlag nachzudenken.
Dann sagte er: »Ist gar keine schlechte Idee, Carl.«
»Siehst du! Ich bin sicher, dein Name wird dir alle Türen öffnen.«
Er nickte: »Es gibt nur ein Problem …«
»Welches?«
»Ich bekomme von meiner Bank keinen Kredit«, sagte er kleinlaut.
»Aber … hast du nicht eben gesagt, du willst einen Kredit aufnehmen?«
»Ja, aber nicht bei meiner Bank.«
»Wo denn sonst?«, fragte ich.
»Ich hatte an Artur gedacht!« Er lächelte unsicher.
Artur atmete tief durch: »Das haben wir ja schon geklärt. Geh zu einer anderen Bank. Du bist ein von Torstayn.«
Aldo winkte ab: »Bin ich schon. Die geben mir alle nichts. Mein Vater hat da ganze Arbeit geleistet. Die wissen alle, dass er nicht für mich bürgt.«
Einen Moment lang kehrte Stille ein.
Aldos Familie hatte ihm die Daumenschrauben angesetzt, und seine Eltern wussten genau, wo sie ihn treffen konnten. Sein bisheriges Leben war für ihn ein einziger Rausch gewesen. Von klein auf hatte er nichts selbst tun müssen, sich nie sorgen müssen, alle Wünsche waren ihm immer erfüllt worden, und er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Geld erwirtschaftet werden musste und sich nicht heimlich im Geldschrank seines Vaters vermehrte. Sein schlimmster Albtraum war es, ein Leben ohne Personal führen zu müssen. Wie sollte so jemand ohne die Ressourcen seines Clans überleben?
Artur fragte: »Willst du eigentlich mit Isi zusammenbleiben?«
Aldo sah ihn überrascht an: »Aber ja. Warum fragst du?«
»Weil ich wissen muss, wie du dich ihr gegenüber verhalten wirst, bevor ich auch nur darüber nachdenke, dir zu helfen!«
Aldo sah ihn beinahe schon empört an: »Ich liebe sie! Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie sie!«
Artur nickte langsam.
»Gut, das ist schon mal eine Basis.«
»Wirklich, Artur, sie ist das Beste in meinem Leben«, versicherte Aldo.
»Das hoffe ich«, gab Artur zurück.
Aldo witterte Morgenluft: »Du siehst einen Ausweg?«
Artur zögerte mit der Antwort, dann beugte er sich zu mir herüber und sagte: »Ich glaube, ich habe gerade Hans gehört …«
Ich sah ihn stirnrunzelnd an: »Ich nicht.«
»Doch, sieh doch mal nach, was er hat.«
Ich war kurz ein bisschen beleidigt, dass er mich abwimmeln wollte, aber ehrlich gesagt hatte ich ihn schon des Öfteren gebeten, mich an seinen Plänen teilhaben zu lassen, und es hinterher immer bereut, wenn er es wirklich getan hatte. Seine Welt war einfach nichts für mich.
Also stand ich auf und ging hinauf zu Hans.
Er schlief tief und fest.
70
Als ich zurückkehrte, war Aldo allerbester Stimmung und bestand darauf, ins Arcasi zu fahren, um zu feiern. Da sie mir nicht verrieten, was sie ausgeheckt hatten, blieb ich ein wenig eingeschnappt zu Hause. Am nächsten Morgen brachte ich Hans in die Schule. Seit unserem Gespräch zeigte er ein unerwartet großes Interesse am Unterricht, obwohl seine Klassenlehrerin überaus streng war. Vor allem die Kleinen hatten einen Heidenrespekt vor ihr, aber auch die Größeren, die ihre konsequenten und manchmal auch ziemlich harten Strafen fürchteten. Mir gefiel der Umstand nicht, dass es ständig Ohrfeigen setzte und ihr der Rohrstock und das Lineal ziemlich locker in der Hand saßen, aber seit meinen Schultagen hatte sich der Unterricht leider nicht groß geändert.
An jenem Morgen, als ich Hans gerade verabschiedet hatte und ihm nachsah, wie er über den Schulhof zum Eingang lief, sprach mich eine junge Frau an, die plötzlich neben mir stand.
»Hallo. Sind Sie der Vater von Hans?«
Ich wandte mich ihr zu und sah eine brünette, hübsche Frau mit schmalen Lippen und dunklen Augen. Sie trug einen eleganten Wintermantel, den sie gekonnt um ihre Taille verschnürt hatte, sodass er ihre Figur betonte. Die Haare waren frisiert, ein keckes Hütchen ließ sie forsch aussehen. Im Gegensatz zu den anderen Müttern hatte sie nichts Hausfrauliches an sich.
»Ja?«, antwortete ich knapp.
Sie reichte mir die Hand und stellte sich vor: »Wilhelmine Zillinski. Aber alle nennen mich nur Lissi.«
»Hallo. Carl Friedländer.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Carl.«
Sie lächelte und hielt meinen Blick wie auch meine Hand länger, als es nötig gewesen wäre.
»Haben Sie auch ein Kind hier auf der Schule?«
»Ja. Eine Tochter. Chiara.«
»Chiara. Wie exotisch.«
»Gefällt Ihnen der Name nicht?«
»Doch. Natürlich. Aber unter all den Gerdas, Hildegards und Marthas fällt so was natürlich auf.«
»Ist italienisch«, antwortete sie. »Die Sprache ist so schön. Finden Sie nicht auch?«
Ich schwieg, weil das einzige Italienisch, das ich je gehört hatte, das von Sterbenden während der Isonzo-Schlachten im Weltkrieg gewesen war. Männer, die vor Schmerzen nach ihren Müttern geschrien oder um Wasser gefleht hatten und dankbar dafür waren, wenn man noch etwas bei ihnen blieb, bevor sich ihr Blick im Nichts verlor. Italienisch, Russisch, Ungarisch, Rumänisch, Deutsch, Galizisch, Polnisch: Der Tod beherrschte alle Sprachen. Und keine davon klang schön.
»Hat Hans meine Tochter nie erwähnt?«
Ich sah sie irritiert an: »Nein, warum?«
»Nun, weil meine Kleine nur noch von ihm spricht. Hans hier, Hans da. Da dachte ich, dass es mal an der Zeit wäre, Hans’ Eltern kennenzulernen!«
Überrascht strahlte ich sie an: »Das freut mich aber! Hans ist ziemlich still. Ich hatte schon etwas Sorge, dass er keine Freunde finden würde.«
»Also, meine Chiara mag ihn sehr!«
»Das ist einfach toll!«
»Aber vielleicht hat Hans zumindest Ihrer Frau von Chiara berichtet? Jungs erzählen ihren Müttern immer alles.«
Ich schüttelte bedauernd den Kopf: »Hans’ Mutter lebt nicht mehr.«
Ihr Lächeln erlosch augenblicklich: »Bitte verzeihen Sie mir! Ich hätte es mir denken können, dass … Ich meine, welcher Vater bringt sein Kind schon zur Schule?«
»Schon gut.«
Sie schüttelte verärgert den Kopf: »Ich bin so eine dumme Gans. Als ob wir keinen Krieg und keine Grippe gehabt hätten. Aber wissen Sie, ich kann einfach nicht anders, als optimistisch zu sein Ich blende die schrecklichen Dinge einfach aus und konzentriere mich auf die guten. Das Leben ist schon schwer genug.«
»Eine gute Einstellung. Ändern Sie nichts daran!«
Sachte legte sie mir ihre Hand auf den Unterarm, bevor sie ihn zurückzog und wieder lächelte: »Sie sind aber auch ganz anders als die, die aus dem Krieg gekommen sind.«
»Wie bin ich denn?«, fragte ich neugierig.
»Sie haben so eine besondere Ausstrahlung. Ich kann es leider nicht besser ausdrücken.«
»Ich nehme an, das ist als Kompliment gemeint?«
»Unbedingt.«
Einen Moment sagte niemand etwas, dann aber nickte sie mir zum Abschied freundlich zu: »Ich muss dann mal wieder. Hat mich gefreut, Carl Friedländer.«
»Ganz meinerseits, Wilhelmine Zillinski.«
»Lissi.«
Ich nickte zur Bestätigung. Da hielt sie, bereits halb abgewandt, plötzlich inne und fragte: »Vielleicht sollten wir uns mal zum Spielen verabreden?«
»Wie bitte?«
Sie starrte mich irritiert an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus.
»O Gott, ich kann vielleicht Sachen sagen … Was ich meinte: Vielleicht können sich unsere Kinder einmal zum Spielen treffen. Wir trinken dann zusammen Kaffee oder so etwas.«
»Oh. Ja, warum nicht.«
»Gut. Abgemacht. Na dann: Auf baldiges Wiedersehn.«
Sie ging davon.
Sie war attraktiv und wusste das auch. Eine Frau, die ihr Gesäß wie die Wiege eines Säuglings hin- und herschaukeln lassen konnte. So sah ich ihr nach und dachte daran, wie ich Masha kennengelernt und mir nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dass sie sich noch einmal zu mir umdrehen mochte. Lissi drehte sich nicht um, nicht wie Masha. Damals.
Am Abend würde ich Hans nach seiner kleinen Freundin fragen. Ich schmunzelte beim Gedanken daran, dass seine schöne Schullust vielleicht gar nichts mit unserem neuen Arrangement zu tun haben könnte. Allein, ich kam nicht mehr dazu, denn am frühen Nachmittag ließ man mir bei der Arbeit ausrichten, dass eine Luise von Torstayn um sofortiges Erscheinen gebeten hätte. Das war mehr als ungewöhnlich, denn Isi hatte mich im Glashaus noch nie angerufen, sodass ich Davidson bat, gehen zu dürfen.
»Ich wusste gar nicht, dass du solche Leute kennst, Carl!«, sagte er mit überraschend viel Bewunderung in der Stimme.
»Ist meine beste Freundin«, antwortete ich lässig und genoss heimlich lächelnd sein beeindrucktes Gesicht.
Dann nahm ich die Straßenbahn Richtung Westen und erreichte eine knappe Stunde später Aldos Villa. Was ich sah, ließ mich erschaudern: Die Villa war jetzt nicht mehr schneeweiß, sondern kohlrabenschwarz. Hier und da glommen noch Glutnester, stieg grauer Rauch aus dem Trümmerfeld, während Isi in der Einfahrt stand, die Hände in die Taille gestemmt, und ungläubig auf die Ruine starrte.
Ihr Zuhause war bis auf die Grundmauern abgebrannt.
Aldo spazierte mit den Händen in seinen Hosentaschen am Rand des Aschehaufens herum und sah dabei wie jemand aus, der zufällig vorbeigekommen war, um mit den gaffenden Nachbarn über die große Aufregung zu plaudern. Fast schien mir, als fachsimpelte er tatsächlich mit ihnen darüber, wie und wo der Brand ausgebrochen sein könnte und wie schnell das Feuer das Herrenhaus zunichtegemacht hatte.
Schließlich entdeckte er mich und kam mit einem Lächeln auf mich zu: »So was schon mal gesehen?«
»Hm, im Krieg.«
Aldo nickte zustimmend. »Ganz genau! Wie im Krieg!«
»Du warst nie im Krieg, Aldo«, antwortete ich trocken.
»Im Herzen schon!«
Seufzend wandte ich mich an Isi: »Was ist passiert?«
»Ist wohl heute Morgen ausgebrochen, der Brand. Die Feuerwehr hat alles versucht, aber es war nichts mehr zu retten.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht: »Es ist alles weg!«
Aldo nahm sie in den Arm und tröstete: »Es ist doch nur ein Haus.«
»Es war unser Haus, Aldo!«
»Es war eh zu groß!«
Isi sah ihn wütend an: »Mein Brautkleid ist verbrannt!«
»Carl macht dir sicher ein neues, nicht wahr, Carl?« Aldo lächelte unschuldig zu mir rüber.
Diesmal war ich es, dessen Augen sich zu Schlitzen verengten.
»Und was soll ich jetzt anziehen?«, fragte Isi verzweifelt. »Ich habe nur noch das, was ich gerade trage.«
»Ich kaufe dir neue Kleider«, antwortete Aldo entspannt. »Sobald die Versicherung gezahlt hat, suchen wir uns eine wunderschöne Wohnung in der Stadt, und dann feiern wir das Leben, mein Engel!«
Da war wirklich nicht der Hauch eines schlechten Gewissens in Aldos Miene auszumachen! Es fehlte nur noch, dass er Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben zitierte. Wenigstens die ahnungslose Isi nahm den Brand ernst: »Ein Glück, dass niemand verletzt worden ist.«
»Ja, ein Glück!«, bestätigte ich gedehnt. »Stell dir vor, es wäre jemand getötet worden, Aldo. Das hättet ihr euch doch nie verzeihen können, oder?«
Isi nickte, wenn ich auch nicht sie, sondern ihren Ehemann und Artur gemeint hatte. Immerhin, Aldo verstand die Anspielung sofort und schluckte kurz. Dann aber sagte er: »Wie der Zufall es wollte, hatte unsere Köchin heute frei.«
»So ein Dusel!«, bestätigte ich und war mir nicht sicher, ob ich den ironischen Unterton noch im Griff hatte.
Eine Nachbarin rief Isis Namen und winkte sie zu sich. Die beiden umarmten sich. Isi führte sie an der ausgebrannten Ruine entlang, während sie ihr offenbar erklärte, was passiert war.
Ich starrte Aldo an.
Bis der stirnrunzelnd sagte: »Du siehst irgendwie sauer aus!«
»Tu ich das? Warum wohl?«
Aldo zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hab doch mein Zuhause verloren!«
Ich atmete tief durch.
Dann fragte ich: »Wie viel?«
»Wie viel was?«
»Wie viel zahlt die Versicherung?«
Aldo dachte kurz nach, dann lächelte er versonnen: »Es reicht für ein Weilchen.«
»Und wenn sie nicht zahlt?«
»Warum sollte sie nicht zahlen?«
»Weil Versicherungen bei Brandstiftung nicht bezahlen, deswegen!«
»Also wirklich, Carl. Das war doch keine Brandstiftung. Nennen wir es doch lieber: Warmsanierung.«
»Du kannst es nennen, wie du willst. Wenn sie nicht zahlt, hast du gar nichts mehr.«
Aldo schüttelte den Kopf: »Artur sagt, sie zahlt. Und wenn Artur das sagt, dann stimmt es auch.«
»Mit dem rede ich auch noch, da kannst du ganz sicher sein!«
»Es ist doch nichts passiert, Carl. Ich bekomme das Geld, Artur das Grundstück. Alle gewinnen. Außer der Versicherung natürlich. Aber mal ehrlich: Das sind doch eh Gauner.«
Ich presste meine Lippen fest aufeinander: Selbst wenn Artur jemandem einen Gefallen tat, verdiente er noch dabei.
Der war doch wirklich unglaublich!
Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen und ging nach Hause.
71
Isi und Aldo zogen übergangsweise zu mir.
Es war schön, sie im Haus zu haben, und so gab ich mir die größte Mühe, den Grund ihres Einzugs einfach mal zu verdrängen. Aldo und Artur zeigten erwartungsgemäß keinerlei Gewissensbisse. Und ich war mir nicht sicher, ob mir ein moralisches Urteil überhaupt zustand nach allem, was in den letzten Monaten und Jahren gewesen war. Hatte ich nicht auch einen Anteil an Silber-Kurts vorzeitigem Ableben? Wusste ich nicht ganz genau, wer das Schloss der Hohenzollern ausgeräumt hatte? Hatte ich nicht geschwiegen, als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet worden waren? Natürlich konnte ich mir selbst für all das mit guten Gründen eine gewisse Absolution erteilen, aber war das noch ehrlich?
Jedenfalls verbrachten wir einige sehr amüsante Wochen in meinem Haus mit Artur als regelmäßigem Besucher und einem zunehmend missmutigen Aldo, der den Mangel an Luxus zwar stillschweigend, aber widerwillig ertrug. Isi und er hatten nur ein Zimmer und keine Diener. Es gab kein Bad, und der Abort war, wie einst bei uns in Thorn, im Hinterhof. Immerhin gab es elektrisches Licht, allerdings kein Telefon, und unser tägliches Essen musste nicht nur selbst gekocht, sondern das benutzte Geschirr auch noch abgespült werden. Letzteres verursachte in ihm einen solchen Widerwillen, dass er nach jedem Essen vorgab, einem menschlichen Bedürfnis nachgehen zu müssen, in der Hoffnung, wir würden die Aufgabe in der Zwischenzeit für ihn erledigt haben. Natürlich kamen wir ihm auf die Schliche, aber Isi ließ es ihm kichernd durchgehen und verlangsamte die Arbeit absichtlich, während er sich bei klirrender Kälte auf dem stillen Örtchen zitternd an einer Zigarette festhielt.
Im Glashaus erwarteten wir mit großer Spannung die Premiere von Anna Boleyn, die zu unserem großen Bedauern nicht in Berlin, sondern in Hamburg und Weimar stattfinden würde. Natürlich waren Lubitsch und Davidson vor Ort, genau wie die Negri und Jannings, für uns Fußvolk allerdings blieb nur der unglamouröse Gang ins heimische Lichtspielhaus. In meinem Fall mit Kino-Paule, der in seinem Sitz saß, als würde er jeden Moment aufspringen, um vor der Polizei zu türmen, so angespannt suchte er die Leinwand nach sich selbst ab.
»Ick ha’ rinjejubelt, Carle!«, rief er sauer. »Voll rinjejubelt! Wieso bin ick nich’ da?«
»Rausgeschnitten«, flüsterte ich zurück, denn unser Gerede störte die musikalische Begleitung, die vorne, vor der Leinwand, ihr Bestes gab, dem Film dramatische Untermalung zu sein.
»Rausjeschnitten?!«, rief Paule. »Wie rausjeschnitten?!«
Hinter uns zischten die ersten Zuschauer, sodass sich Paule umdrehte, zu voller Größe aufrichtete und fauchte: »Shhh noch ma’, Männeken, und ick bretta dir een’n, dit de drei paar Schuh broochst, um abzebremsen!«
Damit war das Thema abschließend geklärt, und Paule nutzte die Ruhe im Saal, um sich lautstark über die Filmbranche im Allgemeinen und Lubitsch im Besonderen zu beschweren. Schließlich verließen wir die Vorstellung vorzeitig, und Paule nötigte mich, mit ihm in einer der umliegenden Dielen noch ein paar Mollen zu trinken, damit er den Frust vergessen konnte.
Es endete für mich mit einem monströsen Kater am nächsten Morgen und für den Film mit begeisterten Kritiken in der Vossischen und der Morgenpost, die ich mit verschwommenem Blick zu lesen versuchte.
So kam Weihnachten, und es wurde ein sehr harmonisches Fest, das wir fast ausschließlich in unserem Wohnzimmer verbrachten. Wir aßen, lasen, spielten mit Hans, quatschten oder betranken uns.
Am Siebenundzwanzigsten zahlte Aldos Versicherung, und noch am selben Tag berichtete er uns stolz von seiner neuen Residenz in der Victoriastraße 5, ganz in der Nähe des monumentalen Rolandbrunnens am Rand des Tiergartens, von dem man die Siegesallee hinab direkt zur Siegessäule vor dem Reichstag fahren konnte. Aldo hatte gleich die ganze ehemalige Gründerzeitvilla angemietet. Isi und er gedachten die Beletage und den zweiten Stock zu nutzen, im Erdgeschoss befanden sich die Küche sowie die Lagerräume, und unterm Dach sollten die Bediensteten schlafen.
Auch wurde er nicht müde zu betonen, dass allerlei Botschafter gleich ums Eck residierten, genau wie die Reichskanzlei und das Auswärtige Amt, sie also exquisite Nachbarn haben würden, und überhaupt war alles von Belang zu Fuß zu erreichen. Ich verkniff mir die Bemerkung, dass bis zum Sommer auch Ludendorff in der Victoriastraße gewohnt hatte, weil ich Isi nicht aufbringen wollte. Allein zu wissen, dass der General von dort täglich ins Grüne spaziert war, hätte Isi dazu veranlasst, den ganzen Tag lang auf das Trottoir zu spucken. Und das wäre bei den exquisiten Nachbarn vermutlich nicht allzu gut angekommen.
Am selben Abend jedenfalls zogen Isi und Aldo um, was eigentlich nur bedeutete, dass wir uns von Artur ins neue Haus fahren ließen, um dort einen privaten ersten Abend miteinander zu verbringen. Dementsprechend fassungslos machte es mich, dass bei unserer Ankunft zwei livrierte Diener und vier Hausmädchen, alle in Uniform mit weißem Kittel und Spitzenhäubchen, zu beiden Seiten der Treppe standen, um uns mit einer Verbeugung oder einem Knicks zu begrüßen. Derselbe Mann, der frierend auf dem Klo geraucht hatte und mit jeder Form von Arbeit und Organisation überfordert war, hatte offenbar im sicheren Gefühl, von der Versicherung ausbezahlt zu werden, sechs Menschen angestellt, sie eingekleidet und damit beauftragt, ein Festmahl herzurichten, das uns beeindrucken sollte.
»Aldo!«, zischte ich leise, als Artur und Isi bereits die wenigen Stufen zum Eingang hinaufgingen. »Wie viel hat dir die Versicherung eigentlich bezahlt?«
»Mach dir keine Sorgen, Carl. Das kommt bald wieder rein!«
Auch der bereits vollständig eingerichtete Wohnbereich enttäuschte nicht, alles war von verschwenderischer Eleganz: Parkett, Jugendstilmöbel, Teppiche, Vorhänge, Kronleuchter, sogar Kunst an den Wänden. Es fehlte an nichts.
Wir aßen zusammen, und Aldo kündigte an, dass 1921 sein Jahr werden würde. Er wollte Soiree um Soiree geben, viele große Männer treffen, um dann im rechten Augenblick, neue Verbindungen zu schaffen, die für alle Parteien äußerst lukrativ sein würden.
»Ich werde«, kündigte er selbstsicher an, »meiner Familie zeigen, dass ich meines Namens nicht nur würdig bin, ich werde sie alle übertreffen!«
Wir erhoben uns und stießen mit Sekt darauf an.
Aldo lächelte entspannt, während ich mich fragte, ob er tatsächlich nur einfach ein bisschen mit seinesgleichen plaudern musste, bis jemand sagte: Herzog von Torstayn, darf ich Ihnen meine Millionen anbieten?
War das wirklich so in der Welt der Reichen und Mächtigen?
Die Antwort hätte ich mir schon damals selbst geben können: Es war nicht so. Niemand bekam etwas, ohne dafür etwas zu geben. Die Männer, mit denen Aldo Geschäfte machen wollte, waren nicht reich geworden, weil sie naive Trottel waren. Im Gegenteil: Diese Männer waren ihm so überlegen, dass einem angst und bange werden konnte. Es mochte einem wie eine Binsenweisheit vorkommen, aber wer in einem Becken voller Haie schwamm, war besser selbst einer.
Und kein Goldfisch.
72
Die Kinder hatten Schulferien, was natürlich bedeutete, dass sie beschäftigt werden wollten. Möglicherweise war das der Grund dafür, dass ich kurz vor Silvester eine kleine Karte im Briefkasten fand, auf der in geschwungener schöner Schrift stand: Sie haben die Verabredung zum Spielen vergessen! Und mich auch. Buhhuuu.
Es entlockte mir ein Lächeln.
Tatsächlich hatte ich Lissi nicht vergessen, mir aber Isis und Aldos Neckereien ersparen wollen, die unweigerlich aufgeblüht wären, hätte ich auch nur angedeutet, dass ich mich mit einer Frau treffen wollte. Und sei es unter dem Vorwand der miteinander spielenden Kinder. Lissi war attraktiv, intelligent, witzig – was Isi nicht verborgen geblieben wäre, sodass sie wohl alles darangesetzt hätte, mich zu verkuppeln.
Jetzt, da sie selbst verheiratet war.
Warum mich das gestört hätte, konnte ich nicht einmal sagen, vielleicht weil es sich bei Masha wie auch Marlies vom allerersten Moment an anders angefühlt hatte als bei Lissi: Ich hatte sofort gewusst, dass wir zusammengehörten. Weil mit ihnen der Tag heller und ohne sie die Nacht dunkler gewesen war. Weil sie Musik waren, Poesie, Freude und Atem. Gleich zweimal hatte ich erlebt, wovon romantische Herzen behaupteten, es könnte nur ein Mal passieren.
Lissi hatte nichts von dem in mir entfacht. Und dennoch fragte ich mich, ob meine Zurückhaltung ihr gegenüber gerecht war. Oder mir. Was würde werden, wenn mir niemand mehr wie Masha oder Marlies begegnete? Oder ich es nicht erkannte, weil ich der Überzeugung war, eine Liebe müsste grundsätzlich mit einem Erdbeben beginnen? Konnte ein Funken nicht auch zu einem großen Feuer emporschnellen, wenn man ihn nur stetig fütterte?
Vielleicht war es an der Zeit, einmal einen anderen Weg zu beschreiten.
So fand ich Hans mit Bauklötzen spielend im Wohnzimmer und kniete mich neben ihn: »Sag mal, soll ich nicht mal deine Freundin Chiara zu uns einladen?«
Er sah mich fragend an.
»Ihr könntet doch zusammen etwas spielen?«
»Chiara ist ein Mädchen«, antwortete er knapp und beugte sich wieder über seine Bauklötze.
»Das weiß ich wohl, aber auch mit Mädchen kann man spielen.«
»Was denn?«, fragte er.
»Weiß nicht? Mit Bauklötzen vielleicht?«
Er sah mich beinahe schon entsetzt an: »Mit meinen Bauklötzen?«
»Wir können auch rausgehen. Einen Schneemann bauen. Oder vielleicht machen wir eine Schneeballschlacht?«
Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, dann zuckte er mit den Schultern: »Vielleicht.«
»Du weißt nicht zufällig, wo die beiden wohnen, oder?«
Er schüttelte den Kopf.
Lissi hatte keine Adresse auf ihre Karte geschrieben, vermutlich weil sie sich zu einem für eine Frau vollkommen ungewohnten ersten und zweiten Schritt genötigt gesehen hatte, es mir im Gegenzug aber schon aus Gründen der Selbstachtung offensichtlich nicht zu leicht machen wollte. Immerhin erfuhr ich von Hans, dass Chiaras Mama offenbar im Kolonialwarenladen Weber arbeitete, sodass ich Hans bei Frau Schulze abgab, mich auf den Weg machte und so lange durchfragte, bis ich den kleinen Laden in der Scharnweberstraße fand und eintrat.
Die Besitzerin fragte mich nach meinen Wünschen, und als ich mich nach Wilhelmine Zillinski erkundigte, verzog sie den Mund und antwortete, dass die sich heute krankgemeldet habe. Immerhin nannte sie mir die Adresse, sodass ich bald schon an die Tür einer kleinen Wohnung in einer Mietkaserne klopfte und sie mir tatsächlich öffnete: Sie sah nicht besonders krank aus.
»Das hat aber gedauert!«, warf sie mir grinsend vor.
»Bitte?«
Sie sah dramatisch auf die Uhr und sagte: »Heute Morgen hab ich mich krankgemeldet, dann die Karte eingeworfen, und Sie brauchen geschlagene zwei Stunden, um mich zu finden? Sie sind wirklich von der langsamen Sorte, was?«
»Wahrscheinlich …«
»Na ja, jetzt haben Sie mich ja! Wo gehen wir hin?«
»W-wo?«
»Na, Sie führen mich doch wohl aus? Wegen Ihnen verliere ich einen ganzen Tageslohn!«
Die war ja frech!
Aber sie brachte mich auch zum Lachen, und so nickte ich: »Also gut! Gehen wir aus. Was ist mit Ihrer Kleinen?«
»Bei der Nachbarin. Schon seit zwei Stunden!«
Sie warf sich in ihren Mantel und hakte sich bei mir unter.
Wir fanden eine Diele, tranken Bier und lachten viel.
Lissi unterhielt die ganze Kneipe, war im Nu bei allen beliebt, machte aber deutlich, dass sie nur mit mir da war, parierte jede Anzüglichkeit und erstickte Annäherungsversuche im Keim. Bald schon hatte ich das Gefühl, dass mich die anwesenden Männer um sie beneideten. Jedenfalls kniepten sie mir zu oder schlugen mir beherzt auf die Schulter und beglückwünschten mich zu der kessen Mieze.
Als ich sie am Ende des Tages wieder nach Hause brachte, waren wir beide reichlich angeschickert und schlitterten mehr über den verschneiten Bürgersteig, als dass wir gingen.
Oben vor der Tür gab sie mir einen langen Kuss.
»Damit du mich nicht wieder vergisst!«, lächelte sie.
»Hast du Silvester schon etwas vor?«, fragte ich.
»Nein …« Sie lockte mich.
»Wie wäre es mit dem Arcasi?«
Sie schien schwer beeindruckt zu sein: »Da kommst du rein?«
Ich nickte.
»Dann hol mich um sieben Uhr ab!«
Sie gab mir einen weiteren Kuss, dann schlüpfte sie durch die Tür und ließ mich stehen.
Beschwingt ging ich nach Hause, lächelte Frau Schulzes und Hans’ vorwurfsvollen Blick weg, musizierte mit ihm, las ihm vor und freute mich auf ein besonderes Silvesterfest, ohne zu ahnen, wie besonders es tatsächlich werden würde. Denn ganz offensichtlich waren Isi, Artur und ich nicht der Lage, ganz normale Jahreswechsel zu feiern.
73
Es begann mit einem Verdacht.
An diesem letzten Tag des Jahres 1920, einem Freitag, standen Hans und ich spät auf und frühstückten zur Musik aus dem Grammofon. Die meisten aus dem Glashaus hatten zwischen Weihnachten und Neujahr frei, sodass noch ein herrlich langes Wochenende vor uns lag, an dem ich nach einer ausgiebigen Silvestersause nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun gedachte.
Während Hans nach dem Essen leise spielte, machte ich es mir mit der Vossischen auf dem Sofa gemütlich und las alle Artikel ohne Eile, bis ich plötzlich an einem kleinen Bericht über eine abgebrannte Villa in Grunewald hängen blieb und mich an einen ähnlichen Artikel vor ein paar Tagen erinnerte, den ich am Morgen nach dem furchtbaren Besäufnis mit Kino-Paule gelesen hatte, nur, dass an jenem Tag ein herrschaftliches Haus in der Innenstadt abgebrannt war. Ich hatte dem Bericht keine besondere Bedeutung beigemessen, zumal ich vor lauter Kopfschmerzen auch kaum geradeaus gucken konnte.
Was mir aber jetzt auffiel, war, dass bei dem Brand in Grunewald wie bei dem in der Innenstadt niemand verletzt worden war, weil die Bewohner verreist und die Bediensteten in Urlaub waren. Das fand ich mehr als seltsam, denn Hausangestellte hatten in aller Regel allenfalls einen Tag alle zwei Wochen frei. Und selbst dann blieben sie im Haus, weil sich kein Dienstmädchen eine eigene Wohnung leisten konnte, mal davon abgesehen, dass das sicher nicht im Interesse ihrer Herrschaften gelegen hätte, die ständigen und unbegrenzten Zugriff auf ihr Personal wünschten.
Mit Aldos Villa waren also innerhalb kürzester Zeit gleich drei herrschaftliche Häuser in Berlin abgebrannt. Alle nach ähnlichem Muster, nie hatte es Tote oder Verletzte gegeben, nie hatte jemand etwas gesehen. Alles nur Fälle für die Versicherung.
Ruckartig fuhr ich hoch und starrte auf den Artikel: Die Sache trug doch Arturs Handschrift! Offenbar hatte das Abfackeln von Aldos Villa in ihm einen luziden Moment entzündet und ihm ein Geschäftsfeld offenbart, auf das bisher noch niemand gekommen war. Ein Geschäftsfeld ebenso riskant wie lukrativ und für jemanden wie ihn, der Entwicklungen und Möglichkeiten früher sah als alle anderen, geradezu wie gemacht. Er sorgte dafür, dass Menschen, die knapp bei Kasse waren, wieder liquide wurden, und bekam im Gegenzug ihre Grundstücke.
Was für ein Wahnsinn!
Es war nur eine Frage der Zeit, wann wirklich jemand zu Schaden kommen würde. Brände waren unkontrollierbar, griffen oft auf Nachbargebäude über oder gefährdeten Feuerwehrmänner. Und bei einer solch auffälligen Masche würde zudem irgendwann auch der dümmste Polizist Artur auf die Schliche kommen.
Und Oberkommissar Kennel war nicht dumm.
Am Abend holte ich Lissi ab, die in ihrem ebenso eleganten wie gewagten Kleid umwerfend aussah.
»Ich habe gehört, das trägt man so im Arcasi?«, fragte sie kokett und gab mir einen Kuss auf den Mund. »Was denkst du? Kann ich so gehen?«
Ich nickte lächelnd.
In der Andreasstraße standen die Leute bereits Schlange, und ich gebe zu, dass es mich mit einem gewissen Stolz erfüllte, an allen vorbeigehen zu können, um dann, vom Spanner freudig begrüßt, mit Lissi einfach so eintreten zu dürfen. Lässige Miene wahrend konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, dass Lissi das Ganze ziemlich beeindruckt hatte.
Drinnen empfing uns die neue Nachtigall, eine elegante, sehr schlanke, fast schon schweigsame Schöne, so ganz anders als die kurvige, mitteilsame Anna. Wir traten ein und entdeckten Isi und Aldo, die schon an der Theke standen.
Kurz glaubte ich, Isi erschrocken zu sehen, vielleicht auch ein wenig konsterniert, dann aber strahlte sie über das ganze Gesicht und begrüßte uns beide herzlich. Ich stellte alle einander vor, und Lissi schien für einen Moment fast schon eingeschüchtert, als sie den Nachnamen meiner Freunde hörte.
Aber sie fing sich rasch.
Es schien ohnehin eine ihrer Qualitäten zu sein, sich so schnell ihrer Umwelt anzupassen, dass man das Gefühl haben musste, sie gehörte schon ewig dazu.
»Sieh mal einer an, wen du alles kennst!«, flüsterte sie mir zu. »Stille Wasser sind wirklich tief …«
Ich nahm es als Kompliment.
Isi und Lissi verstanden sich gut, waren ähnlich lebhaft und wenig berührungsscheu, sodass sie bald wie alte Freundinnen schwatzten und lachten, während ich mit Aldo plauderte, der gut aufgelegt war und mir freudig mitteilte, dass er noch im Januar das erste große Essen plante.
»Du glaubst nicht, wer kommen wird!«, kündigte er lächelnd an.
»Der Kaiser?«, fragte ich.
Aldo lachte: »Nein, viel besser: Hugo Stinnes.«
»Du verarschst mich!«
»Nein, er hat gestern zugesagt.«
»Weiß Isi das schon?«
»Ja.«
»Und sie ist nicht durchgedreht?«
»Sie hat versprochen, mich nicht zu blamieren«, antwortete Aldo und trank zufrieden von seinem Sekt.
Hugo Stinnes war der mächtigste Unternehmer des Reiches, nein, des Kontinents, und der größte Arbeitgeber der Welt. Sechshunderttausend Menschen beschäftigte er, zudem hatte er Tausende Firmenbeteiligungen, so viele, dass wahrscheinlich nur noch er selbst wusste, was ihm alles gehörte. Thyssen, Krupp, Siemens: die berühmtesten Wirtschaftsdynastien Deutschlands konnten ihm nicht das Wasser reichen. Kohle, Bergwerke, Stahl, Stromerzeugung, Reedereien – Stinnes war überall dabei.
Er hatte schon immer Politik gemacht, wenn auch anfangs im Verborgenen, hatte rücksichtslos und geschickt seine Interessen vorangetrieben, was zu Winkelzügen geführt hatte wie dem Stinnes-Legien-Abkommen noch während der Revolution, das den Gewerkschaften einen Achtstundentag zusicherte. Damals hatte er sich als Arbeiterfreund feiern lassen, der er genauso wenig war wie alle anderen Wirtschaftskapitäne, aber er hatte die Gefahr einer drohenden Enteignung aufziehen sehen und mit menschlicheren Arbeitszeiten das kleinere Übel gewählt.
Daneben stand er im Verdacht, die Niederschlagung des Spartakusaufstandes finanziert zu haben und mit rechtsnationaler Prominenz in Verbindung zu stehen. Dennoch sagte man ihm nach, kein Rechtsnationaler zu sein, sondern nur ein Mann, der seine Interessen schützte. Kein Mann von Überzeugung, sondern ein Pragmatiker, der auch Bündnisse mit dem Teufel schloss, wenn sie ihm nutzten.
Vor dem Krieg kannte zwar auch schon jeder seinen Namen, öffentliche Auftritte aber waren indes eher selten gewesen, dieses Jahr allerdings hatte er seine Zurückhaltung aufgegeben und war in die DVP eingetreten, die Partei, der auch Gustav Stresemann angehörte, ein Sammelbecken alter Monarchisten, Unternehmer und nicht weniger Nationalisten.
Mit anderen Worten: Hugo Stinnes, gerade einmal fünfzig Jahre alt, war die Spinne, in deren Netz alle zappelten.
»Komm doch dazu!«, sagte Aldo plötzlich.
»Ach, lass mal, danke.«
»Artur wird auch da sein. Er will Stinnes unbedingt kennenlernen.«
Um ein Haar hätte ich ihn gefragt, ob es vielleicht aus dem Grund sei, dass Artur Stinnes’ Haus in Mülheim an der Ruhr anzünden wollte, aber ich biss mir auf die Zunge.
»Gut, dann komme ich eben«, antwortete ich stattdessen lustlos.
Endlich tauchte Artur auf.
Ich winkte ihn heran, stellte Lissi vor und flüsterte ihm anschließend zu, dass ich mit ihm sprechen musste. Er nickte, aber gleich darauf schon wurde nach ihm verlangt, sodass er wieder in der Menge verschwand und in den nächsten Stunden allenfalls wie eine Boje bei hohem Wellengang zwischen den Gästen kurz sichtbar wurde.
Mittlerweile trieb Harry auf der Bühne derbe Späße und ließ die Stimmung derart aufkochen, dass das Arcasi vor lauter Gejohle, Gelächter und wildem Getanze fast schon in seinen Grundfesten erzitterte. Ich war mir sicher, dass es in ganz Groß-Berlin keinen Ort gab, an dem mehr los war als hier.
Dann tanzte ich endlich auch, abwechselnd mit Isi und Lissi, vergaß, dass ich Artur noch die Leviten lesen wollte, und amüsierte mich wie seit Monaten nicht mehr.
Das Leben war doch herrlich!
Es ging uns so gut, dass die Zukunft wie der Morgen eines schönen Frühlingstags rosarot am Horizont schimmerte.
Kurz vor Mitternacht zählte Harry dann die letzten Sekunden des Jahres herab. Schlag zwölf hielt ich Lissi in den Armen und küsste sie, genau wie Aldo Isi küsste und die eine Hälfte des Saals die andere. Anschließend heizte eine Kapelle dem Publikum mit Musik ein – und alle tanzten weiter wie verrückt oder klammerten sich zumindest betrunken aneinander.
Irgendwann entdeckte ich Artur wieder und hielt inne: Er schien der Einzige zu sein, der keinen Spaß hatte. Das halbe Gesicht, das viele Menschen so erschreckte, wirkte noch konzentrierter und abweisender als sonst. Ich konnte sehen, dass er auf die Uhr blickte, als ob er noch eine Verabredung hätte, dann verschwand er hinter der Theke durch die Lagerräume nach draußen.
Neugierig folgte ich ihm.
Was hatte er nur vor?
Mit gebührendem Abstand ging ich ihm nach und sah trotz des zunehmenden Schneefalls im Licht einer der wenigen funktionierenden Straßenlaternen, dass er einen großen Rucksack trug. Hier und da drang aus verschlossenen Fenstern oder geöffneten Dielentüren das Geschrei der Feiernden auf die Straße. Dazu taumelten draußen die Betrunkenen, grölten und waren leichte Beute für die Prostituierten, die hier patrouillierten. Auch Artur und mich sprachen sie an, aber keiner von uns blieb stehen, sodass wir uns wenig Schmeichelhaftes von ihnen nachrufen lassen mussten. Ab und zu schnitt der Ludenpfiff durch die Nacht, in einer Seitenstraße dann wurde es ruhiger.
Dort wechselte ich die Straßenseite, hielt weiterhin genügend Abstand, drehte mich dann einem Impuls folgend um und entdeckte einen weiteren Mann hinter uns, den ich in den Schatten der Straßen nicht erkennen konnte. Ich kniete mich hin, tat, als würde ich mir die Schuhbänder schnüren, und ließ den Verfolger auf der anderen Seite durch den knirschenden Schnee passieren. Er beachtete mich nicht, und die Art, wie er den vor ihm laufenden Artur ins Visier nahm, verriet mir, dass er ihm folgte.
Wir passierten nacheinander die Kleine Marcusstraße, die Schillingstraße, in der die unselige Frau Meng wohnte, und erreichten schließlich die Magazinstraße, die nicht weit vom Alexanderplatz lag.
Dort trat Artur in ein verlassen wirkendes Haus.
Über uns platzte immer noch Feuerwerk am Himmel auf, die einzige Lichtquelle weit und breit. Dabei blühte eine der Feuerblumen so nah über den Dächern, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht von Arturs heimlichem Verfolger erkennen konnte: Oberkommissar Kennel.
Schon zog er seinen Revolver aus dem Mantel, schlich sich an den Hauseingang heran und verschwand schließlich darin. Hektisch blickte ich mich um: Weit und breit war niemand unterwegs. Rasch wechselte ich die Straßenseite, sah neben einer Mülltonne eine kaputte Holztür, an der ein rostiger Eisenbeschlag baumelte. Ich riss ihn ab und wog ihn in den Händen: vielleicht fünf Kilo schwer und einen halben Meter lang. Damit schlich ich nun ebenfalls zur Haustür, horchte und schlüpfte lautlos in absolute Schwärze.
Blieb still stehen.
Lauschte.
Entfernte Schritte über mir.
Es klapperte.
Dann hörte ich ein kurzes Fauchen. Gelblich flackerte es durch das Treppenhaus. Jetzt erst konnte ich erkennen, dass der lange, schmale Flur von vielleicht zehn Metern, in dem ich stand, zu einer Holztreppe führte, vor der eine Erdgeschosswohnung rechts abging. In ihrem Türrahmen sah ich einen Schatten lauern.
Kennel.
Er hatte mich nicht bemerkt, starrte nur die Treppe hinauf, von der jetzt schwere Schritte hinabstiegen. Auf Zehenspitzen setzte ich einen Fuß vor den anderen, die Augen auf Kennel gerichtet, betend, dass ich auf nichts trat, das mich verraten könnte.
Schritte im ersten Stock.
Eine Hand, die einen Revolver langsam anhob.
Zwei Arme, die einen Eisenbeschlag in Stellung brachten.
Dann drei Dinge gleichzeitig: Artur bog auf das letzte Treppenstück, Kennel sprang aus dem Türrahmen, ich schnellte vor und schlug mit aller Wucht zu, traf Kennel an der Schläfe, während gleichzeitig ein Schuss krachte.
Artur fiel zu Boden, die Treppen hinab.
»ARTUR!«, schrie ich entsetzt und sprang über den bewusstlosen Polizisten hinweg zum Treppenabsatz.
Im nächsten Moment war ich über Artur.
»Alles in Ordnung!«, zischte er. »Er hat mich verfehlt!«
»Gott sei Dank!«
»Was zum Teufel machst du hier?!«, fragte er.
»Wir müssen weg. Schnell!«
Ohne weitere Worte rappelten wir uns auf und verließen das Haus.
Draußen auf der Straße waren noch vereinzelte Böller zu hören, sporadisch Raketen am Himmel zu sehen. Artur lief los. Ich dagegen starrte zum Haus und sah bereits das Feuer im ersten Stockwerk.
»Artur!«, rief ich leise.
»Was?!«
»Wir können ihn nicht da liegen lassen. Der Rauch wird ihn umbringen.«
»Berufsrisiko!«, antwortete Artur. »Jetzt komm!«
»Ich kann das nicht!«
»Er wollte mich abknallen, Carl! Ohne Vorwarnung!«
Kurz zögerte ich, dann aber sprang ich zurück in den flackernden Flur, sah Rauch die Treppe hinabfallen und den ohnmächtigen Kennel auf dem Boden.
Ich packte ihn am Kragen und zog ihn auf die Straße.
Dort ließ ich ihn liegen und eilte mit Artur davon.
74
Natürlich hatte Lissi meine Abwesenheit bemerkt, doch sie machte mir bei meiner Rückkehr keine Vorwürfe, vielleicht auch, weil ich ungewohnt blass ausgesehen haben muss, dabei fahrig in meinen Antworten und gierig nach harten Getränken war. Artur dagegen mischte sich unbekümmert unter seine Gäste, unterhielt sich auffallend lange mit der Nachtigall an der Tür, während Lissi und später auch Isi wissen wollten, was passiert war.
Aber ich schwieg.
Dabei hätte ich den beiden ruhig gestehen können, was vorgefallen war, denn keine zwei Stunden später rückte das halbe Revier Fünfzig ins Arcasi ein, beendete die große Silvestersause, während mir ein Kommissar in Zivil die Handschellen anlegte und zischte: »Carl Friedländer: Sie sind festgenommen! Leisten Sie keinen Widerstand!«
Dessen wäre ich ohnehin nicht fähig gewesen, nicht nur, weil der Schnaps in bedenklichen Mengen durch meine Blutbahn kreiste, sondern auch, weil mir der Schrecken immer noch tief in den Knochen saß. Artur, am anderen Ende des Raumes, wurde ebenfalls festgenommen, während Isi und Lissi geschockt neben mir standen.
Wie aus dem Nichts tauchte Anwalt Fromm neben mir auf, geckenhaft wie immer und so betrunken, dass ihm sein Monokel aus dem Gesicht fiel. Es landete auf dem Boden, wo es zwischen diversen Füßen wegrollte.
»Schätzchen?!«, rief Fromm einer drallen Blondine zu, deren verschmierter Lippenstift großzügig um seinen Mund verteilt war. »Such doch mal das Monokel für den lieben Onkel, ja?«
Er klatschte ihr auf den Hintern, die Blonde tauchte ab.
Dann tippte er mir auf die Brust und sagte: »Und du: kein Wort! Verstehst du? Du sagst kein Wort, bis ich wieder nüchtern bin.«
Ein hässliches Knirschen verriet, dass jemand das Monokel vor der Blonden gefunden hatte. Ihr Kopf fuhr mit bedauernder Miene zwischen den Gästen hoch.
»Scheiße!«, fluchte Fromm. »Schätzchen? Wir gehen!«
Sprachs, legte ihr einen Arm über die Schultern und ließ sich dann nach draußen führen.
»Wo bringen Sie die beiden hin?«, fragte Isi den Polizisten neben mir.
»Aufs Revier«, antwortete der knapp.
Später saßen Artur und ich zusammen in einer Zelle, so wie wir es als Jugendliche schon einmal getan hatten, als wir in Thorn mit Streichen rund um den Halleyschen Kometen für gewaltiges Aufsehen gesorgt hatten und nicht wenige der Meinung gewesen waren, Polizeikommandant Adolf Tessmann hätte uns für unseren Coup darin verrotten lassen sollen.
»Danke, dass du mich gerettet hast!«, sagte Artur und machte es sich auf seiner Pritsche bequem.
»Danke, dass ich deinetwegen einsitzen muss!«, maulte ich zurück, aber da hatte Artur sich schon umgedreht und war Sekunden später eingeschlafen.
Sie weckten uns früh – ohne besonderen Grund, denn es dauerte noch Stunden, bis wir aus der Arrestzelle geführt und in ein Büro gebracht wurden, in dem uns Oberkommissar Kennel mit einem Turban um den Kopf und Pflastern auf dem Jochbein empfing. Darunter war seine Haut blutunterlaufen, eine Gesichtshälfte derart geschwollen, dass der bloße Anblick Phantomschmerzen in meinem Gesicht verursachte.
Vor seinem Schreibtisch standen zwei leere Stühle, auf die wir uns setzten.
»Was ist Ihnen denn passiert, Herr Oberkommissar?«, fragte Artur interessiert.
»Das wissen Sie ganz genau!«, zischte Kennel, hielt aber sofort inne: Er musste höllische Schmerzen haben.
»Tut mir leid, Herr Oberkommissar. Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie da reden.«
»Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Burwitz! Mein Jochbein ist gebrochen, Prellungen, leichte Gehirnerschütterung. Dafür sitzen Sie Jahre!«
»Ich soll das gewesen sein?«, fragte Artur.
Kennel schwieg einen Augenblick, dann antwortete er: »Ihr Freund Friedländer war das!«
Ich schwieg.
»Möchten Sie dazu etwas sagen?«, fragte mich Kennel.
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
Es klopfte an der Tür: Anwalt Fromm trat ein.
»Guten Morgen, Herr Oberkommissar!«, flötete er gut gelaunt. Seinem zerknitterten Gesicht zufolge war er offenbar noch nicht allzu lange auf den Beinen. »Du lieber Himmel: Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Die beiden da sind mir passiert!«, zischte Kennel.
»Aha, und wie?«, fragte Fromm.
Kennel berichtete von seinem Verdacht, dass Artur hinter einer Serie von Brandstiftungen stecken könnte, und davon, dass er ihn habe observieren lassen. Wobei es reiner Zufall gewesen sei, dass er selbst in der gestrigen Nacht Dienst gehabt habe.
»Glaube ich nicht«, antwortete Fromm. »Sie sind voreingenommen und geradezu besessen von dem Wunsch, meinen Mandanten ins Gefängnis zu bringen. Aber, bitte, ich habe Sie unterbrochen.«
Kennel fuhr fort, dass er im Dunkeln einem Mann gefolgt sei, den er für Artur hielt, und einen weiteren Mann gesehen habe, der wohl ich gewesen sein müsse.
»Hmm«, machte Fromm nachdenklich.
Dann habe er Artur im Treppenhaus in flagranti festnehmen wollen, sei aber von hinten niedergeschlagen worden. Später wurde er auf der Straße wach, als die Feuerwehr vergeblich versucht habe, einen Brand zu löschen.
Fromm nickte und sagte: »Ich fasse mal zusammen: Sie sind einem Mann aus dem Arcasi gefolgt, von dem Sie glaubten, dass es mein Mandant wäre. Und haben einen weiteren Mann gesehen, von dem Sie glaubten, dass es Herr Friedländer sein könnte. Sie sind dann von einem Unbekannten niedergeschlagen worden und aufgewacht, als das Haus brannte.«
»Es waren die beiden!«, fauchte Kennel.
»Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, Herr Oberkommissar, dass Amelie Peine angegeben hat, sich in der Zeit, in der Herr Burwitz das Haus angezündet haben soll, mit Herrn Burwitz und Herrn Friedländer unterhalten zu haben.«
»Wer soll das sein?«, fragte Kennel.
»Frau Peine ist die sogenannte Nachtigall des Arcasi.« Er griff in seine Aktentasche und zog ein unterschriebenes Papier heraus. »Hier bitte: die eidesstattliche Erklärung von Frau Peine!«
»Pah! Das ist seine Angestellte! Die kann viel behaupten!«
»Frau Peine kommt aus gutem Haus und ist ohne Vorstrafen. Es dürfte sehr schwer werden, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Aber wenn es Sie beruhigt: Ich bringe Ihnen ein Dutzend weiterer eidesstattlicher Erklärungen, die bezeugen werden, dass die beiden Herren zur fraglichen Zeit im Arcasi gewesen sind.«
Kennel funkelte ihn wütend an.
Fromm lehnte sich zurück und fuhr zu großer Form auf: »Ich selbst, Herr Oberkommissar, könnte das bezeugen. Somit werde ich Ihnen sagen, was wirklich passiert ist: Sie sind einem Mann vom Arcasi aus über dunkle Straßen gefolgt, den sie bei starkem Schneefall und überaus schlechten Sichtverhältnissen von hinten für Herrn Burwitz hielten, und haben schließlich in einem stockdunklen Flur auf ihn gewartet. Dann wurden Sie von hinten niedergeschlagen.«
Kennels Mund verzog sich zu einem schmalen Strich.
»So war es doch, Herr Oberkommissar?«
»Die beiden waren es!«, antwortete Kennel.
»Herr Oberkommissar, ich frage Sie noch mal und diesmal nicht nur als Polizist, sondern auch als gottesfürchtiges und angesehenes Mitglied Ihrer Kirchengemeinde, als einen Mann, der das Gesetz und das Wort Gottes in gleichem Maße achtet und sich nach dem christlichen Gebot richtet, dass man kein falsches Zeugnis ablegen soll wider seinen Nächsten. Haben Sie ohne jeden Zweifel Artur Burwitz und Carl Friedländer gesehen?«
Kennel schwieg.
»Gut, dachte ich mir. Dann wollen wir das auch keinem Richter vortragen, dessen Zeit Sie mit Ihren ungerechtfertigten Beschuldigungen stehlen.«
Er stand auf und gab uns mit einer Geste zu verstehen, dass unser Termin im Polizeirevier Fünfzig beendet war.
»Die Aussagen der anderen reiche ich Ihnen nach, Herr Oberkommissar. Und lassen Sie mich bitte eines betonen: Meine Mandanten sind entsetzt darüber, was passiert ist, und bieten Ihnen ihre uneingeschränkte Mithilfe bei der Suche nach denjenigen an, die Ihnen das angetan haben! Und als Zeichen seines guten Willens wird Herr Burwitz eine Spendengala zugunsten im Dienst verletzter Polizeibeamter ausrichten, deren Einnahmen zu Ihren treuen Händen gehen. Jeder soll sehen, dass die Gastronomen unseres schönen Viertels hinter unserer tapferen Polizei stehen! Vergelts Gott, Herr Oberkommissar, gute Besserung und frohes Neues!«
Einigermaßen fassungslos trottete ich hinter Fromm und Artur her, vorbei an einer ganzen Reihe Uniformierter, die uns feindselig musterten, bis wir, fast am Ausgang angekommen, die Tür auffliegen und jemand eintreten sahen, den wir alle hier wohl niemals erwartet hätten. Jedenfalls nicht in diesem Aufzug.
Vor uns stand: Anna.
Oder vielmehr: die neue Anna.
In einem mausgrauen altmodischen Kleid, das wirklich nicht zu ihr passte, ungeschminkt und ohne jeden Schmuck. Schnurstracks ging sie auf Artur zu und zischte: »Du Schwein!«
»Hallo, Anna«, antwortete Artur ruhig.
»Damit kommst du nicht durch!«, zischte sie.
»Ist er schon, bezaubernde Nachtigall!«, antwortete Fromm.
Sie spießte ihn förmlich mit Blicken auf: »Nennen Sie mich nicht so! Nennen Sie mich nie wieder so! Mein altes Leben gibt es nicht mehr! Ich bin jetzt eine anständige Frau!«
Fromm seufzte: »Ein Jammer!«
»Schämen Sie sich, Sie Winkeladvokat!«, fauchte sie.
Dann entdeckte sie mich und rauschte auf mich zu: »Und du, Carl? Soll das wirklich deine Zukunft sein?«
Ich sah sie stirnrunzelnd an.
»Du bist ein guter Mensch, Carl! Sage dich los von diesem Übel! Kehr um und entdecke den Herrn! Sieh mich an! Ich bin ein neuer Mensch!«
»Ist das so?«, fragte ich ungläubig.
»Du kannst gerettet werden! Glaub mir!«
Mittlerweile war auch Oberkommissar Kennel an uns herangetreten. Und zu meiner noch größeren Überraschung trat Anna vor ihn und küsste ihm die Hände: »Mein armer Liebling! Was haben diese Tiere dir nur angetan?«
Kennel genoss sichtlich unsere fassungslosen Blicke.
Dann wandte er sich an uns und sagte: »Das Gute siegt immer! Heute kommen Sie davon, aber Gottes Mühlen mahlen langsam. Mein Tag ist nicht mehr fern!«
Sie sahen uns beide triumphierend an.
So standen wir uns stumm gegenüber.
Dann endlich verließen wir reichlich konsterniert die Wache.
»Das ist nicht gut, Artur!«, flüsterte ich ihm draußen zu. »Sie weiß so viel.«
»Hm.«
»Du hättest sie nicht gehen lassen sollen.«
Einen Moment blieb er völlig reglos und blickte in einen grauen Himmel.
Es hatte wieder zu schneien begonnen.
Dann nickte er.
75
Damals war die St.-Thomas-Gemeinde, in deren wunderbarer Kirche Isi geheiratet hatte, nicht nur die größte evangelische Gemeinde Berlins, sondern eine der größten weltweit. Somit war es auch kein Wunder, dass das Gotteshaus am Mariannenplatz derart riesig geraten war, denn weit über hunderttausend Mitglieder brauchten einen Platz zum Beten. Dass ausgerechnet Anna eines von ihnen geworden war, war unglaublich. Ich bat Artur, Nachforschungen zu betreiben, und er wusste bald eine Geschichte zu berichten, an deren Ende die wundersame Wandlung einer Maria Magdalena zu einer Jungfrau Maria stand.
Nach ihrem Streit mit Artur und dem gleichzeitigen Rauswurf aus dem Arcasi hatte Anna offenbar nach einem Weg gesucht, wie sie sich an Artur für die erlittene Demütigung rächen konnte. Was lag da näher, als sich an Oberkommissar Kennel zu wenden, mit dem sie, und hier bestätigte sich ein alter Verdacht, auch vorher schon in Verbindung gestanden hatte. Der Hinweis, in Arturs Haus nach Kokain zu suchen, kam von ihr und wäre wohl auch goldrichtig gewesen, hätte Artur die Ware nicht rein zufällig einen Tag vorher umgelagert, wie er mir nun verriet.
Kennel fand, erzählte Artur, grundsätzlich Gefallen an der schönen Anna, wenngleich ihr schlechter Leumund ihn vor einer Romanze zurückschrecken ließ. Aber Kennel war auch nur ein Mann und die ehemalige Nachtigall mit so vielen Reizen gesegnet, dass er sie unter dem Vorwand, sie als Spitzelin zu engagieren, immer wieder aufsuchte und schließlich die rettende Idee hatte, wie er sich Anna doch noch nähern konnte, ohne sich dem Argwohn seiner Gemeinde auszusetzen. Er wollte aus der Gefallenen eine Gläubige machen! Denn wie hätte sich ein Christenherz einer suchenden Seele verschließen können, wenn schon die Bibel diejenigen seligpries, deren Sünden vergeben wurden?
Er würde ihre Sünden vergeben.
Seine Gemeinde würde sie ihr vergeben.
Und zu seiner großen Freude ließ Anna sich darauf ein. Sie hatte genug von ihrem alten Leben. Sie wollte zurücklassen, was sie einst beherrscht hatte, und Teil einer Gemeinschaft sein, deren Augenmerk der Tugend galt und deren Taten nicht nur im Diesseits wohlgefällig waren, sondern im Jenseits ewiges Leben versprachen.
Anna wandte sich Gott zu.
Und Gott nahm sie, die Sünderin, in seine Arme.
In Gestalt des Pfarrers der St.-Thomas-Gemeinde, der sie taufte.
So wurde sie feierlich in die Gemeinschaft der Rechten und Gerechten aufgenommen. Und es hätte keinen glücklicheren Mann als Oberkommissar Kennel geben können und keine glücklichere Frau als Anna. Zwar waren da wohl nicht wenige, die hinter vorgehaltener Hand über Annas Vergangenheit lästerten, aber offenen Widerspruch wagte niemand, wenn auch ein gewisses Misstrauen gegenüber der ehemaligen Nachtigall blieb. Dennoch: Da Kennel ihr die Ehe versprochen und der Pfarrer sie getauft hatte, genoss sie bald hohes Ansehen, zudem sie ihre Umwelt mit Gottesfurcht, Bibelfestigkeit und Frömmigkeit zu beeindrucken wusste.
All das hätte ich unter anderen Umständen niemals geglaubt, ebenso wenig wie Isi, aber ich selbst hatte Annas religiösen Eifer wie Feuer auf meiner Haut gespürt, zudem malten die eingeholten Berichte über sie alle dasselbe Bild: Anna war in jeder erdenklichen Art konvertiert. Was vielleicht auch der Grund war, dass sie ihr neues Leben derart offensiv nach außen trug, weil sie wie fast alle Bekehrten danach suchte, über jeden Zweifel erhaben zu sein, und sich deswegen genötigt sah, ihre Treue mit überdeutlichen Gesten, Worten und Taten zu beweisen.
Lissis Interesse an mir tat der Zwischenfall jedenfalls keinen Abbruch, im Gegenteil: Zu wissen, dass ich nicht nur mit dem schillerndsten Ganoven Friedrichshains befreundet, sondern zudem noch das ca in Arcasi war und die Neujahrsnacht im Kittchen verbracht hatte, weil ich einem Polizisten fast den Schädel eingeschlagen hatte, schien sie schwer zu beeindrucken, denn schon auf dem Weg nach Hause flüsterte sie mir vor lauter Begierde die Art Dinge ins Ohr, die im Beichtstuhl mit zehn Vaterunsern oder fünf Rosenkranzgebeten nicht hätten gesühnt werden können. Zu meinem Bedauern aber musste das alles verschoben werden, denn Hans wartete, und ich wollte mit Artur und Isi besprechen, worauf wir uns in nächster Zeit wohl einzustellen hätten.
Am Abend dann trafen wir uns bei mir, tranken Wein, hörten Grammofon, bis ich das gesellige Beisammensein einfach unterbrach, weil mir mein Angriff auf Kennel zu schaffen machte und mich Arturs Kaltblütigkeit ebenso sorgte wie nervte.
»So gehts nicht weiter, Artur. Dieses Mal hattest du Glück, das nächste Mal schnappt er dich!«
Er nickte: »Es war knapp, ja.«
»Das heißt, du hörst damit auf?«
Er antwortete nicht darauf, was, wie Isi und ich wussten, nie ein gutes Zeichen war.
»Du willst doch nicht damit weitermachen?«, empörte sich Isi.
Wieder keine Antwort.
»Spinnst du?!«, schimpfte sie. »Wie kannst du auch nur daran denken, wenn Kennel dich beobachten lässt?«
»Ich mache eine Pause«, antwortete Artur ruhig. »Er wird mich nicht ewig überwachen.«
»Es läuft doch gut mit dem Eden und dem Arcasi! Vielleicht kannst du noch weitere Läden aufmachen? Das wäre doch eine gute Sache!«, bot ich eine Alternative an.
»Die Leute wollen immer etwas Neues. Und dann kommen andere und kopieren deine Ideen. Das ist anstrengend, und man ist nur erfolgreich, wenn man schneller und besser ist.«
»Das bist du!«, antwortete Isi.
»Noch.«
»Du wirst immer besser sein als die anderen«, warf ich ein.
»Ich will vor allem raus aus diesem Geschäft.«
»Raus?«, riefen Isi und ich unisono.
Wir sahen uns erstaunt an: Artur war geradezu gemacht für die Halbwelt. Er hatte sich aus aussichtsloser Position mit Vergissmeinnicht angelegt und gewonnen. Das hatte ihm einen solchen Respekt eingebracht, dass nicht einmal die größten Ringvereine auf die Idee gekommen wären, seine Position zu hinterfragen. Er war so unangefochten in diesem Viertel, dass man sich an ihn wendete, wenn es Probleme gab. Nicht an Kino-Paule.
»Ist es wegen Kennel?«, fragte ich.
»Es spielt keine Rolle, ob es Kennel, Silber-Kurt oder sonst wer ist. In diesem Geschäft erwischt es dich irgendwann. Das ist unvermeidlich. Und ich will mehr sein als nur ein zwielichtiger Gastronom, der ein paar gut gehende Läden hat. Ich will ganz nach oben!«
Das wollte er schon als Jugendlicher. Wie hatte ich nur annehmen können, dass er sich mit seinem jetzigen Status zufriedengeben würde? Dass er sich zurücklehnen würde, um die Früchte seiner Arbeit zu genießen?
Artur stand niemals still.
»Und was hast du stattdessen vor?«, fragte Isi.
»Immobilien«, antwortete Artur. »Immobilien sind die Zukunft. Alle kommen nach Berlin. Aber es gibt keinen Platz!«
»Du willst Bauunternehmer werden?«
»Ja. Ich werde bauen. Alles, was ich dazu brauche, sind Grundstücke.«
»Die du dir bei deinen Warmsanierungen holst«, schloss ich.
»Das ist nur ein schöner Grundstock. Genau wie die Beute von unserem Besuch im Stadtschloss vor zwei Jahren. Aber es ist nicht genug.«
»Nicht genug?«, fragte Isi verwundert.
»Ich kann nicht die ganze Stadt abfackeln.«
»Und was hast du vor?«, fragte ich.
»Ich werde kaufen. Ganz legal.«
Isi runzelte grinsend die Stirn: »Kaufen? Das klingt jetzt aber gar nicht nach dir. Wo ist da der Trick?«
»Wieso muss da ein Trick dabei sein?«, fragte Artur schmunzelnd, und die Art und Weise, wie er uns ansah, verriet, dass es natürlich einen gab.
»Wir hören?«, sagte ich daher neugierig.
»Nun, es gibt jede Menge Leute, die verkaufen wollen. Die Zeiten sind hart, viele sind in finanziellen Schwierigkeiten.«
»Das mag sein, aber die Grundstücke sind trotzdem teuer. Hast du so viel verdient, dass du sie einfach kaufen kannst?«
»Ich werde einen Kredit aufnehmen«, antwortete Artur.
»Über wie viel?«, fragte ich.
»Zehn Millionen.«
Isi und ich sahen uns verdattert an.
»Du machst wohl Witze!«, stieß ich aus. »Zehn Millionen? Wie willst du das je zurückzahlen?«
Artur zuckte mit den Schultern: »Ich habe nicht vor, es zurückzuzahlen.«
»Du weißt, dass auf Kreditbetrug Gefängnis steht?«, fragte Isi ironisch.
»Ja«, antwortete Artur ruhig. »Aber ich werde niemanden betrügen.«
»Wenn du die Freundlichkeit hättest, das einmal zu erklären?«
»Warum sind denn so viele in finanziellen Schwierigkeiten?«, fragte Artur zurück.
»Weil wir einen Krieg verloren haben?«, riet ich sarkastisch.
»Weil wir verurteilt wurden, zweihundertneunundsechzig Milliarden zu zahlen. Geld, das wir nicht haben. Die ganzen Kriegsanleihen können niemals zurückgezahlt werden – die Menschen haben einfach nichts mehr. Die Folgen seht ihr jeden Tag: Alles wird teurer. Die Reichsmark ist knapp ein Hundertstel von dem wert, was sie 1914 wert war. Und es hört nicht auf. Es sei denn, die Entente erlässt uns unsere Reparationen. Was glaubt ihr: Wird sie das tun?«
»Nein«, antwortete ich.
»Genauso ist es. Und was machst du, wenn du Geld, das du nicht hast und dir keiner sonst leihen will, trotzdem zahlen musst?«
»Du druckst es dir selbst«, schloss Isi.
Artur nickte: »Die Inflation wird jeden ruinieren, der noch Geld auf der Bank hat. Also, entweder tauscht man sein Geld in Devisen oder investiert es in etwas, das seinen Wert behält. Ersteres ist für Normalbürger so gut wie unmöglich, es sei denn, ein Ausländer tauscht dir dein Geld auf der Straße ein. Letzteres können nur die, die noch Geld haben.«
»Oder es sich leihen«, ergänzte Isi.
Artur nickte.
Nichts von dem, was Artur sagte, war neu oder gar geheim. Doch im Gegensatz zu Isi, mir oder sonst jemandem, den ich kannte, wusste Artur daraus seinen Nutzen zu ziehen: Er lieh sich Geld, das, wenn es tatsächlich so weitergehen würde, jeden Tag weniger wert wäre. Was für ihn bedeutete: Statt den Kredit eins zu eins zurückzuzahlen, würde er dabei zusehen, wie die Inflation den Wert der geliehenen Summe vernichtete. Derweil behielt er seine Grundstücke, deren Wert sich nicht vernichten ließ, außer durch einen Krieg. Und den hatten wir nicht nur hinter uns, es war auch das Einzige, was nun nicht mehr drohte, denn das Reich war zu einem Waffengang nicht mehr in der Lage.
»Das ist dir doch nicht erst gestern in der Zelle eingefallen?«
Artur schüttelte den Kopf: »Nein, ich denke da schon länger drüber nach.«
»Der Plan ist genial, Artur«, begann Isi, »aber leider wird er nicht funktionieren, weil dir die Banken kein Geld geben werden. Die erwarten Sicherheiten, und wenn sie erfahren, wie du dein Geld verdienst, werden sie dich aus ihren Büros werfen.«
Artur nickte: »Ja, wahrscheinlich.«
»Und du denkst, du kriegst den Kredit trotzdem?«, fragte ich verwundert.
»Ja.«
Wieder sahen Isi und ich uns an.
Dann endlich ging mir ein Licht auf: Artur brauchte einen Ritter in weißer Rüstung, einen Mann, der praktisch über Wasser gehen konnte. Einen, der so weit über den Dingen stand, dass es nicht einmal theoretisch denkbar war, ihm zu widersprechen.
Artur brauchte den mächtigsten Mann des Reiches.
Hugo Stinnes.
76
An jenem Samstagabend im Januar, dem 29., nahm schließlich das Unheil an Fahrt auf, das vor gut eineinhalb Jahren mit Frau von Lossow und einem Hühnerei seinen Anfang genommen hatte. Denn Frau von Lossow hatte Isi in die besseren Kreise geführt, wo sie wiederum Aldo von Torstayn kennenlernte, der sie gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Familie heiratete. Die von Torstayns aber begnügten sich nicht mit Ablehnung oder überheblicher Ignoranz als Reaktion darauf, sie dachten gar nicht daran, ihren Erstgeborenen an eine Bürgerliche von fragwürdiger Moral, emanzipatorischer Haltung und revolutionärer Gesinnung abzutreten, und bald schon würde sich zeigen, wie geschickt sie ihren Einfluss einsetzten, und auch, das muss man so sagen, wie hart sie zurückschlagen konnten.
Einstweilen aber gab Aldo ein Fest.
Eine Soiree der Mächtigen.
Männer in Frack und Zylinder, mit Vatermörderkragen, weißen Hemden und manikürten Fingernägeln. Männer mit ausgesucht guten Manieren, die darüber hinwegtäuschten, dass jeder von ihnen bereit war, über Leichen zu gehen, wenn es ihnen denn diente. Und unter all den Adligen, Industriellen und Politikern stach einer heraus, der in seinem Auftreten kaum unauffälliger hätte sein können: Hugo Stinnes. Auch er trug Abendgarderobe, aber die war weder besonders erlesen noch neu. Er sprach mit überraschend leiser, hoher Fistelstimme, die sein Gegenüber dazu nötigte, still zu sein, um ihm zuhören zu können. Seine schwarzen Haare waren zu einem sehr akkuraten Bürstenschnitt frisiert, der sich langsam grau färbte.
Während sich andere mit Sekt und Wein zuprosteten, trank Stinnes nicht. Überhaupt hatte er keinen Sinn für das, was andere im Eden so erfreute: Wein, Weib und Glücksspiel. Hugo Stinnes interessierte nur das Geschäft, und dieses Geschäft hatte er revolutioniert. Denn während andere fleißig ihre Unternehmen großgezogen hatten und ganz in ihrer Rolle als Generaldirektor oder Patriarch aufgingen, kaufte er sich überall ein. Er wurde Teil von dem, was andere erschaffen hatten, bis er es schließlich ganz übernahm. Niemand konnte es mit seiner Gedankenschnelle und seinem Geschick aufnehmen, niemandem schien er geheuer, aber alle suchten seine Nähe. Denn wo er war, war das Geld. Nur dass die anderen nicht begriffen, dass sie davon nur das sehen würden, was er ihnen zugestehen würde. Und das war selbstredend immer der kleinere Teil.
Der zweite Mann im Raum, der große Aufmerksamkeit erregte, war Artur.
Während ihn die eine Hälfte der etwa zwanzig geladenen Gäste aus dem Eden kannte und sich hinter vorgehaltener Hand wie Pennäler über ihre dortigen Abenteuer amüsierte, starrte ihn die andere, die ihn nicht kannte, an, weil er diese Gesichtsmaske trug, die ihn so unheimlich und rätselhaft machte. Ich bewunderte ihn für seine ruhige, geradezu entspannte Art, mit der er die Gesellschaft beobachtete, Männer begrüßte, die er kannte, Visitenkarten von denen annahm, die er nicht kannte, die aber von den Freuden des Eden gehört hatten und deswegen seine Nähe suchten. Stinnes, wegen dem er eigentlich gekommen war, schien er zu ignorieren. Und der ihn.
Aldo dagegen sprang ein wenig überdreht zwischen den Grüppchen hin und her, scherzte, trank und plauderte, während ich mich in eine Ecke des großen Salons verzogen hatte und so tat, als bewunderte ich die Bilder an den Wänden. Der Hochmut, die verdichtete Selbstgefälligkeit, welche gletscherhart und tonnenschwer durch den Raum walzte, schüchterte mich ein.
»Na, ist das nicht mal eine schöne Ansammlung ehemaliger Zuchtbullen?«, flüsterte Isi, die mich erschreckte, so leise hatte sie sich herangeschlichen. »Ein paar von denen würden mir auf der Stelle ein kleines Schloss kaufen, wenn ich da auf sie warten würde.«
»Hmm«, machte ich.
»Du meldest dich in letzter Zeit nicht gerade oft. Hält Lissi dich so auf Trab?«
Ich grinste und schaute verlegen zur Seite.
»Jetzt erzähl doch mal!«, neckte sie mich. »Amüsiert ihr euch?«
»Isi, bitte!«
Sie kicherte und hakte sich dann bei mir ein: »Schon gut, du Schäfchen. Komm, lass uns ein bisschen mit den Wölfen spielen gehen.«
Neben Aldos Stammdienerschaft schwirrten noch einige zusätzliche Kräfte herum, die mit Argusaugen nach sich leerenden Gläsern Ausschau hielten, um dann stumm und geübt wie aus dem Nichts aufzutauchen, einzuschenken und wieder zu verschwinden. Die Tafel in der Mitte war festlich eingedeckt, natürlich mit Silberbesteck und Porzellan aus Meißen und einer schneeweißen Tischdecke mit silbernen Kandelabern.
Isi machte sich einen Spaß daraus, mit den alternden Gecken zu kokettieren, Sätze zu beginnen, sie vielsagend enden zu lassen und dabei zu beobachten, wie in den Köpfen der Männer ein Film zu laufen begann, dessen Bilder man an nur ganz bestimmten Stellen der Stadt als Bückware gereicht bekam, Fotos, die man heimlich hervorkramte und unauffällig mit dem Gesicht nach unten über die Theke schob.
Es gab allerdings auch einige wenige Männer mittleren Alters, ehemalige Burschenschaftler, zumeist mit stechendem Blick und Schmissen im Gesicht. Darunter zwei noch jüngere mit einigermaßen sympathischen Gesichtern, akkuraten, fast militärisch anmutenden Frisuren und ohne die verräterischen Stigmata in der Visage, die jedem schon von Weitem verrieten, wes Geistes Kind man war. Sie stellten sich als Erwin Kern und Herrmann Fischer vor, beide Studenten und in gewisser Weise ebenso fehl am Platz wie Isi und ich. Sie schienen keinen der mächtigen Männer im Raum näher zu kennen. Als ich sie fragte, wie sie denn hierhergekommen seien, zuckten sie nur lächelnd mit den Schultern und schwiegen bedeutungsvoll. Offensichtlich wollten sie nicht mehr dazu sagen, und so hakte ich nicht weiter nach.
Später im Gespräch merkten wir ihnen ihre nationale Gesinnung, vor allem aber ihre Verbitterung an, denn beide waren im Krieg gewesen und hatten die Erlebnisse sowie die Schmach der Niederlage nicht gut verkraftet. Rasch zog ich Isi weiter, bevor sie mit ihnen einen Streit beginnen konnte, denn ich wollte den Abend nicht in einem Missklang enden lassen.
Isi gab mir ihr Versprechen, dass sie sich ruhig verhalten wollte, weniger wegen Aldo, denn sie brauchte dieses verschwenderische Leben nicht, als wegen Artur, dessen Ambitionen sie nicht torpedieren wollte, indem sie einen Eklat entfachte.
So kam das Essen, und es war exquisit.
Die Gespräche waren lebhaft, blieben jedoch an der Oberfläche, was, wie mir schien, dem Umstand geschuldet war, dass eine Frau mit am Tisch saß, was die Herren disziplinierte. Jedenfalls gab man sich große Mühe, charmant zu bleiben, und mied kontroverse Fragen.
Nach dem Kaffee bat Aldo in einen weiteren Salon, in dem Zigarren und Cognac gereicht wurden. Ich konnte sehen, wie er Stinnes und Artur miteinander bekannt machte. Zu dritt standen sie dort und waren bald in ein Gespräch vertieft, das andere nicht zu stören wagten, weil ihre Mienen ernst und konzentriert aussahen und eine Behelligung mehr als unhöflich gewesen wäre.
Mittlerweile hatten sich die Blicke, die Isi galten, von begierig zu verärgert verwandelt, denn eigentlich war der Gang ins Raucherzimmer Männern vorbehalten, und man konnte förmlich spüren, wie dringend sie endlich unter sich sein wollten. Um die Dinge zu besprechen, von denen Frauen ihrer Meinung nach nichts verstanden: Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft.
Isi erwiderte ihre tadelnden Blicke trotzig, scherzte und trank mit mir so lange, bis aus Verärgerung feindselige Spannung wurde, die genauso mir galt, denn ich war hier natürlich ebenfalls ein Fremdkörper.
Da löste sich Aldo aus seinem Gespräch und kam mit einem entschuldigenden Lächeln auf uns zu. Und bevor er etwas sagen konnte, wusste ich bereits, was es sein würde, und griff vorsorglich Isis Hand.
»Isi, Liebling, warum vergnügst du dich nicht mit Carl etwas in der Stadt? Ich rufe dir gerne ein Taxi!«
Ich konnte spüren, wie Isi ganz steif wurde vor lauter Wut. Sie funkelte Aldo an und konnte nur mühsam den Zorn in ihrer Stimme unterdrücken. »Du wirfst mich raus? Aus meinem Zuhause?«
»Aber nein, mein Liebling! Natürlich nicht. Ich denke nur, dass es hier langweilig für dich sein könnte. Nicht wahr, Carl? Das ist doch jetzt nichts mehr für eine Frau?«
Es war nicht böse gemeint, noch wich es von der üblichen Haltung Frauen gegenüber ab. In Aldos Augen konnte ich ein einziges Flehen sehen, ihm bitte zur Seite zu stehen.
»Also, ich hätte schon Lust, ein wenig auszugehen!«, sagte ich schnell. »Ich finde es nämlich tatsächlich stinklangweilig hier!«
Aldo lächelte mich dankbar an.
»Ich nicht!«, gab Isi zurück.
»Liebes, sei doch nicht so unvernünftig!«, mahnte Aldo.
Isis Blicke schnitten Aldo in feines Carpaccio.
Ausgerechnet Aldo, der sich in seinem ganzen Leben weder für Politik noch für Wirtschaft oder gesellschaftliche Verhältnisse interessiert hatte, gab Isi nun zu verstehen, dass die Themen hier zu hoch für sie wären.
»Na komm, lass uns abhauen!«, lockte ich sie.
Für einen Moment waren wir uns beide nicht sicher, ob sie nicht hochgehen würde wie eine Silvesterrakete, aber als sie kurz zu Artur rüberblickte und der ihr fast unmerklich zunickte, schien sie sich zu fassen und sagte: »Gut, gehen wir.«
Um dann Aldo anzuflöten: »Rechne heute nicht mehr mit mir, mein Liebling! Du kannst mich morgen gerne bei Carl abholen – wenn deine wichtigen Freunde es denn zulassen.«
Aldo seufzte unglücklich und versuchte noch, ihre Hand zu ergreifen, ihr vielleicht einen Kuss abzuringen, aber Isi wandte sich auf dem Absatz um und rauschte davon. Und weil das nicht reichte, knallte sie hinter sich die Tür derart fest zu, dass wir draußen die Gläser klirren hören konnten. Man konnte ihr ja viel vorwerfen, aber eines sicher nicht: dass sie nicht gewusst hätte, wie man einen dramatischen Abgang hinlegte.
Für Aldo dagegen war es vor seinen neuen Freunden eine schwere Demütigung. Aber vor allem war es für die beiden der Anfang vom Ende und gleichsam der Beginn einer Katastrophe.
77
Zu den großen Lächerlichkeiten meines Gewerbes gehörten nicht nur die Exaltiertheiten seiner einzelnen Mitglieder, die großen Dramen, die sich im und um den Film herum abspielten, sondern auch, dass Geheimnisse nirgendwo schlechter bewahrt wurden als in der Nähe eines Drehorts. Das mochte mit dem eitlen Drang zusammenhängen, sich selbst interessant zu machen, indem man vorgeblich Dinge wusste, die sonst niemand wusste. Auf diese Weise wussten alle immer alles, und man musste sich stets bemühen, auch alles zu wissen, um nicht in den Verdacht zu geraten, nicht Teil des inneren Zirkels zu sein und damit: völlig unwichtig.
So kursierten eigentlich dauernd brandheiße Informationen, die niemand wissen durfte, die aber in Windeseile von Ohr zu Ohr geflüstert wurden, meist mit dem Zusatz: Das hast du aber jetzt nicht von mir! Manchmal wurden Dinge, die wirklich frei erfunden waren, in einem seltsamen Akt selbst erfüllender Prophezeiung tatsächlich Wirklichkeit. Fiktion wurde zu einem Fakt, Fakten zu Fiktion, und nichts davon ließ sich mehr trennen, und wenn man ehrlich war: Niemand wollte es! Nicht einmal ich, denn eine spannende Geschichte war tausendmal besser als die langweilige Realität.
Eine dieser Geschichten war, dass Paul Davidson, mein Mentor, und Ernst Lubitsch, der Regisseur, den ich bewunderte wie keinen anderen, beschlossen hatten, eine eigene Produktionsgesellschaft zu gründen, um sich von der UFA loszulösen. Für mich persönlich war das ein Schock, und obwohl noch nichts offiziell war, hatte ich das ungute Gefühl, dass dieses Gerücht tatsächlich der Geruch der Wahrheit umwehte: Madame Dubarry war ein gewaltiger Erfolg, der Verkauf der Rechte in die USA ein Coup gewesen. Warum also sollten diese beiden Giganten die nächsten Produktionen nicht auf eigenes Risiko angehen, um sich anschließend die Gewinne zu teilen? Was sollte sie aufhalten? Was sie anpackten, wurde zu Gold – warum es also mit der UFA teilen?
Das aber würde möglicherweise bedeuten, dass die UFA ihre beiden größten Macher verlieren würde, was– vertraulichen Quellen zufolge – hektische Betriebsamkeit im Direktorium auslöste. Es brauchte zumindest mittelfristig Ersatz. Was lag da näher, als bei der zweitgrößten Produktionsgesellschaft zu räubern, der Decla-Bioskop Film AG, die in Neubabelsberg große Studios unterhielt und mit Das Cabinet des Dr. Caligari und Die Spinnen große Erfolge gefeiert hatte? Warum nicht bei Produzent Erich Pommer anklopfen, der sich mittlerweile einen Ruf wie Donnerhall erarbeitet hatte? Und wenn man schon dabei war: Warum nicht den Regisseur abwerben, über den wochenlang die ganze Stadt gesprochen hatte? Der einen ungeheuerlichen Skandal nur deswegen schadlos überstand, weil Erich Pommer es offenbar geschafft hatte, die Detonation so klein zu halten, dass die Sache eigentlich nur noch die Filmschaffenden brennend interessierte? In unserem Gewerbe war ein Skandal besser als kein Skandal, wenn man auch niemals von ihm hinweggefegt werden durfte.
Was also war geschehen, dass dieses Rauschen in allen Produktionsfirmen der Stadt ausgelöst hatte und einen Namen fast so bekannt gemacht hatte wie den des skandalfreien Lubitsch?
Um das zu erklären, muss ich zunächst etwas zurückspringen zu dem Tag, an dem Isi und Aldo heirateten. An diesem 1. Oktober 1920 wurde zeitgleich zur Hochzeit auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee eine Frau in aller Stille beerdigt, die eine knappe Woche zuvor unter höchst mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war: Elisabeth Rosenthal. Dabei war es nicht das Opfer, das diesen Fall so brisant machte, sondern der mutmaßliche Täter: ihr Ehemann Fritz Lang. Der aufgehende Stern am Regiehimmel, der Mann, der mit Die Spinnen so großen Erfolg gehabt hatte, dass er Das Cabinet des Dr. Caligari Robert Wiene überlassen musste, weil er eine Fortsetzung zu drehen hatte.
Wie Elisabeth Rosenthal starb, wurde nie abschließend geklärt, aber selbstredend schossen die Geschichten und Geschichtchen nur so ins Kraut. Als gesichert konnte gelten: Elisabeth Rosenthal wurde mit der Waffe ihres Ehemannes, einem Browning-Revolver, erschossen. Und: Fritz Lang war zum Zeitpunkt ihres Todes mit ihr in ihrer gemeinsamen Wohnung in Wilmersdorf. Mutmaßungen über alles Weitere verbreiteten sich wie die Fontäne des größten Gerüchtegeysirs der Welt, der jeden Tag neue heiße Nebelwolken in sein Umfeld stieß.
Dennoch gab es von den vielen Versionen eines Vorganges, der immer mit dem Tod Elisabeth Rosenthals endete, eine, die sich unter uns durchsetzte. Sie stammte von der Ehefrau des Produzenten Hermann Millkowski, einer guten Freundin Elisabeth Rosenthals, und begann mit der chronischen Untreue Langs, der sich nicht einmal die Mühe gab, seine Liebschaften geheim zu halten, sondern seine Gespielinnen vollkommen unverfroren auch zu Premieren oder offiziellen Festivitäten mitnahm und sie somit der Öffentlichkeit präsentierte.
Das freute keine Ehefrau, und so war Frau Rosenthals Zorn sehr nachvollziehbar – nur nicht für Lang selbst, zu dessen Selbstverständnis es zu gehören schien, sich zu nehmen, wonach ihm der Sinn stand. Wie zum Beispiel auch Thea von Harbou, die bekannteste Drehbuchautorin des Reiches und zum Zeitpunkt ihrer Liaison mit Lang offiziell noch mit dem Schauspieler Rudolf Klein-Rogge verheiratet, dem Lang später, vielleicht auch als Wiedergutmachung, die eine oder andere Hauptrolle zukommen ließ.
In jedem Fall erwischte Frau Rosenthal am 25. September gegen neunzehn Uhr ihren Ehemann mit Thea von Harbou zu Hause in Wilmersdorf bei einer Drehbuchbesprechung in einem Zustand offensichtlicher Entkleidung. Alles, was dann folgte, hatte so deutliche Unschärfen, dass letztlich nur zwei, höchstens drei Menschen wussten, was wirklich passiert war: Fritz Lang und seine Frau Elisabeth. Und möglicherweise auch Thea von Harbou.
So notierte der protokollierende Arzt Unglücksfall auf den Totenschein.
Lang dagegen gab Suizid an.
Er wollte seine Frau in der Badewanne gefunden haben, die Pistole sei ihr nach dem Schuss aus der Hand gefallen. Absolut ungewöhnlich war in diesem Zusammenhang jedoch, dass Frau Rosenthal durch einen Schuss in die Brust gestorben war. Nicht in den Kopf oder Mund, wie man es bei einem Selbstmord hätte erwarten müssen.
Thea von Harbou jedenfalls bestätigte die Suizidversion Langs. Es war also anzunehmen, dass auch sie anwesend gewesen war, als Elisabeth Rosenthal starb.
Später erklärte Lang den Beamten, dass seine Frau schon seit einiger Zeit depressiver Stimmung gewesen wäre, was wiederum im Widerspruch zu der Aussage einer Freundin von Elisabeth Rosenthal stand, die sich unmittelbar vor deren Tod zu einem gemeinsamen ausgedehnten Einkaufsbummel mit ihr verabredet hatte.
Die Frage wäre berechtigt gewesen, ob eine schwer Depressive eine solche Tour auf sich genommen hätte, ob all die anderen Ungereimtheiten nicht besser hätten aufgeklärt werden müssen, aber offenbar hatte Erich Pommer seinen ganzen Einfluss eingesetzt, um eine Untersuchung zu unterbinden.
So wurde Elisabeth Rosenthal still beerdigt, und Fritz Lang heiratete Thea von Harbou.
Mit den Wochen und Monaten verblasste der Skandal und rückte doch näher an uns heran, denn wenn Davidson und Lubitsch wirklich ernst machten, würden Pommer und Lang vielleicht tatsächlich Teil des Konzerns werden. Was würde das für uns bedeuten? Natürlich wusste niemand irgendetwas, aber das Aufköcheln von Gerüchten machte Spaß, und es gab förmlich einen Wettbewerb, wer seine Informationen so glaubwürdig vortragen konnte, dass sie das Getuschel der anderen übertrumpften. Dann aber kam der Februar, und ausgerechnet ich war derjenige, der alle anderen Klatschköche ausstach.
Ich hatte in den Studios noch aufgeräumt und war somit einer der Letzten, der das Glashaus verließ. Lissi erwartete mich bereits draußen und gab mir einen Kuss.
Es lief gut zwischen uns, meine Gefühle für sie waren nicht vergleichbar mit dem Feuer, das Marlies oder Masha in mir entfacht hatten, aber unser Miteinander war harmonisch, und ich glaubte, sie tatsächlich zu lieben. Auf eine andere Art und Weise, aber Liebe war es doch.
Sie hatte irgendwann angefangen, mich über meine Arbeit auszufragen, und ich hatte ihr viel erzählen können von den täglichen Abenteuern im Glashaus, von der Negri, Liedtke und Lubitsch, und sie hatte immer mit großen Augen zugehört und gelacht, wenn ich ihr wieder etwas Verrücktes berichten konnte.
»Du hast so ein Glück, dort zu arbeiten, Carl! Du weißt ja gar nicht, wie aufregend das alles ist!«
Ich hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Man gewöhnt sich dran. Und letztlich sind die Leute da auch nicht anders als anderswo. Sie machen nur mehr Gewese um sich.«
»Du kannst gerne im Kolonialladen anfangen!«, antwortete sie. »Du würdest schnell feststellen, wie öde es da ist.«
Sie mochte recht haben, wenn ich mir auch sicher war, dass man in einem solchen Laden auch viele sehr seltsame Leute kennenlernen konnte. Wenn man denn ein Auge dafür hatte.
An diesem Abend hakte sie sich gerade bei mir ein, als eine Limousine vorfuhr und gleich neben uns hielt. Der Fahrer sprang heraus und öffnete die Fond-Tür: Fritz Lang stieg aus. Und hinter ihm Erich Pommer.
Da wusste ich, dass an den Gerüchten tatsächlich etwas Wahres sein musste, dass die UFA bereits sondierte, wie sie Lubitsch und Davidson ersetzen konnte – für den Fall, dass die ihnen nicht mehr zur Verfügung stehen würden. Es war das erste Mal, dass ich Lang persönlich sah, und ich fühlte mich nicht wohl in seiner Gegenwart. Genau wie Anwalt Fromm trug er ein Monokel, aber im Gegensatz zu Fromm nutzte er es nicht, um damit herumzualbern. Man sagte, dass er im Krieg verwundet worden sei und seitdem nicht gut sehe. Seine Haare waren mit Pomade streng zurückgekämmt, und nichts an seinem Gesichtsausdruck war freundlich oder empathisch. So wie er im Krieg Offizier gewesen war, wirkte er auch hier: militärisch präzise und vor allem kalt. Im Gegensatz zu Pommer, dem Schläue und Humor im Gesicht standen, aber auch ein großes Selbstbewusstsein und eine gewisse Härte. Dieser Mann wusste, wie man sich durchsetzte und ein gutes Geschäft machte.
»Das ist Lang!«, flüsterte ich Lissi überrascht zu.
Sie suchte sofort seinen Blick und fing ihn auch ein.
Dann stürmte sie los und rief: »Herr Lang, Herr Lang!«
Etwas überrumpelt sah ich, wie sie beiden Männern die Hand gab, Langs Hand aber länger hielt und ihm Komplimente machte. Dass sie ein großer Bewunderer wäre und dass sie sich noch viele Filme von ihm wünschte. Lang, eben noch versteinert, lächelte ihr charmant zu und fragte nach ihrem Namen, den Lissi ihm bereitwillig verriet.
»Sind Sie Schauspielerin?«, fragte er.
»Ich bin alles, was Sie wollen!«, gab sie kokett zurück.
Pommer und Lang lachten.
Da gab Lang ihr seine Visitenkarte und verabschiedete sich.
Lissi kam mit leuchtenden Augen zu mir zurück: »Du meine Güte, war das aufregend!«
Ich spürte einen Stich im Herzen, während sie sich wieder bei mir einhakte und weiterziehen wollte: »So jemand Berühmtes! Und du siehst die alle jeden Tag, Carl!«
»Du bist alles, was er will?«, würgte ich förmlich heraus.
Sie blieb stehen und sah mich erstaunt an: »Aber, Carl! Das kannst du doch nicht ernst nehmen! Ich wollte mich doch nur interessant machen. So wie das alle in deiner Branche tun.«
»Du bist aber nicht in meiner Branche, Lissi!«
Sie grinste: »Aber vielleicht könnte ich es ja sein? So ein bisschen schauspielern kann ich sicher auch!«
Sie funkelte mich belustigt an, und endlich schien sie zu bemerken, wie es mir ging.
»Aber, Carl!«, rief sie erschrocken. »Bist du etwa eifersüchtig?«
Das war ich. Zu meiner eigenen Verwunderung.
»Jetzt sei doch nicht dumm, Carl! Ich liebe doch nur dich!«
Sie gab mir einen Kuss.
Dann gab sie mir Langs Visitenkarte: »Hier! Nimm sie! Ich will sie gar nicht!«
Sie drückte sie mir in die Hand.
»Kannst sie ruhig zerreißen, Carl! Ich will doch nicht, dass du unglücklich bist!«
Ich steckte die Karte in die Manteltasche.
»Na, siehst du! Sind wir jetzt wieder gut miteinander?«
Ich nickte.
Wir gingen nach Hause.
Schliefen miteinander.
Ungestüm.
Leidenschaftlich.
Wild.
Beide wie von Sinnen, aber doch nicht eins.
Als sie am Morgen dann zur Arbeit ging, nahm ich die Visitenkarte, auf der nur Name und Adresse standen, und zerriss sie in tausend Stücke.
78
Artur bekam seinen Kredit, und obwohl Isi und ich natürlich allergrößtes Zutrauen in seine Fähigkeiten hatten, fragten wir uns doch, was er Stinnes im Gegenzug angeboten hatte. Eines war uns beiden völlig klar: Irgendetwas musste es gewesen sein, denn Stinnes war dafür bekannt, sich auf nichts einzulassen, wenn er nicht selbst am meisten davon profitierte. Und die üblichen Vergnügungen, wie sie Artur anderen anbieten konnte, lockten Stinnes sicher nicht.
Auch im Glashaus ging es dieser Tage hoch her. Meine Beobachtung machte mächtig Eindruck, und nun war ich es, der die heißesten Nachrichten verbreiten konnte. Pommer und Lang standen wohl doch in direkter Verbindung zur UFA, obwohl die Direktion nicht müde wurde zu betonen, dass der Besuch lediglich informeller Natur gewesen sei. Niemand glaubte ihnen – erst recht nicht, als Davidson im Frühjahr verkündete, dass er die EFA, die Europäische Film-Allianz, gegründet hatte, im direkten Zusammenspiel mit den Amerikanern. Beiläufig wurde erwähnt, dass unter anderem auch eine gewisse E. L. Film GmbH für ihn Filme realisieren würde. Nach kurzer, geradezu alberner Geheimniskrämerei wurde die E. L. Film GmbH dann in die Ernst Lubitsch Film GmbH umbenannt. Offiziell sollte sich nichts ändern, die UFA und Lubitsch waren einander nicht gram, und man wollte weiter partnerschaftlich zusammenarbeiten. Aber ich denke, nur noch ein Idiot hätte da die Nachtigall nicht trapsen gehört.
Lissi hatte Lang nach unserer Begegnung nicht mehr erwähnt, sodass ich annahm, sie hätte tatsächlich nur ihrem lebhaften Charakter folgend mit ihm kokettiert, während ich wie erstarrt gewesen war. Jeder war der, der er nun mal war. Wie hätte ich ihr das zum Vorwurf machen können?
Von Aldo und Isi sah ich eine ganze Weile nichts, unser monatliches Treffen im Arcasi hatte Isi ausfallen lassen, und am Telefon gab sie nur knapp Auskunft, aber da ich auch nichts Gegenteiliges hörte, dachte ich, den beiden ginge es gut. Zumal Aldo am Morgen nach der Soiree zerknirscht vor meiner Haustür gestanden hatte, mit einem riesigen Strauß Blumen. Isi verzieh ihm huldvoll nach angemessen langem Geziere.
Am 8. März dann besetzten Franzosen und Belgier Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort, nicht nur, um ihren Standpunkt in Fragen der Reparation zu unterstreichen, sondern auch, um den Zugriff auf strategisch wichtige Punkte zu erlangen, von denen aus sie den Abtransport der Waren und Güter, vor allem in den Häfen Duisburg-Ruhrorts, kontrollieren konnten. Dabei agierten sie nicht besonders zimperlich, auch weil sie täglich die zerstörten Städte und Dörfer in den Grenzregionen ansehen mussten, die Gräben und Bombentrichter, die findige Geschäftsleute zu Ausflugszielen gemacht hatten, um Neugierigen heilige Schauer der Furcht und des Entsetzens über die Rücken zu jagen, weil man immer wieder Schädel und Knochen darin fand. Dementsprechend kümmerte es beide Nationen wenig, wie diese Besetzung bei den Deutschen ankam. Und sie kam extrem schlecht an, denn nicht nur die Rechten waren empört.
Alle waren es.
Was aber niemand wahrnahm oder wahrnehmen wollte: So empört das ganze Land über diesen Einmarsch war, so wenig war man bereit anzuerkennen, dass wir es 1914 gewesen waren, die den Krieg in fremdes Territorium getragen hatten. Wir hatten sie zuerst verletzt, jetzt schlugen sie zurück. Letztlich war wohl allen klar: Die wechselseitigen heftigen Emotionen würden weder Verständigung noch Versöhnung erlauben.
Im Großen genauso wenig wie im Kleinen.
Keine zwei Wochen nach dem Einmarsch rief mich Isi an, wobei ich schon an ihrer Stimme hören konnte, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte ich sie, als nach minutenlangem lustlosem Geplänkel plötzlich eine solche Stille in der ewig rauschenden Leitung aufzog, dass das Fräulein vom Amt nachfragte, ob noch jemand am Apparat wäre. Telefonate waren nie privat, und so beeilte ich mich zu sagen: »Ja ja, alles in Ordnung. Wollen wir uns vielleicht treffen, Isi?«
Sie wollte.
Allerdings bestand sie darauf, dass Artur auch anwesend wäre, und so trafen wir uns tags drauf abends im Arcasi und bestellten Bier.
»Ich mache mir Sorgen!«, sagte Isi schließlich, nachdem sie das Glas in einem Zug zur Hälfte ausgetrunken hatte.
»Inwiefern?«, fragte ich.
»Aldo.«
»Was ist mit ihm?«
Sie zögerte mit der Antwort, dann aber sagte sie: »Er ist komisch.«
Artur und ich sahen uns an.
Dann fragte Artur: »Komisch?«
Sie nickte: »Er redet dauernd über Politik …« Sie sah erst mich, dann Artur an und hob dabei ratlos die Hände: »Versteht ihr? Aldo redet über Politik! Alles, was ihn bisher interessiert hat, war, wie er sich bestmöglich vergnügen und am sinnlosesten Geld ausgeben kann. Und jetzt redet er über Politik.«
»Was sagt er denn so?«, fragte ich.
»Dass alles schiefläuft. Dass sich das Reich unter den jetzigen Bedingungen niemals wird erholen können. Dass die Reparationen alle ruinieren. Dass die Politiker den Siegermächten nicht genügend entgegensetzen würden.«
»Was denn?«, fragte Artur.
»Das habe ich ihn auch gefragt. Das Land liegt so am Boden, dass wir gar nichts tun können, außer an die Vernunft der Entente zu appellieren.«
Artur nickte: »Bei den Engländern und Amerikanern ginge das vielleicht. Aber nicht bei den Franzosen.«
»Ja, und jetzt sind sie auch noch einmarschiert. Aldo hat getobt, dass man sich so was nicht bieten lassen dürfe.«
»Und wie stellt er sich das vor?«, fragte Artur.
Isi seufzte: »Ich weiß einfach nicht, was mit ihm ist. Plötzlich ist unser Heer von der Revolution verraten worden. Plötzlich hätten wir den Krieg gewinnen können, wenn Erzberger nicht einfach die Kapitulation unterschrieben hätte. Plötzlich hätte man weiterkämpfen und lieber sterben sollen, als sich einer solchen Schande zu unterwerfen.«
»Ist vielleicht nur eine Phase«, antwortete ich. »Weißt du noch, als die Waffenstillstandsbedingungen bekannt geworden sind? Da sind alle durchgedreht. Vor allem weil Deutschland ganz allein am Krieg schuld sein sollte.«
»Ja, mag sein. Aber für Aldo war das damals kein Thema. Aber jetzt hat er plötzlich mit all dem ein Problem.«
»Der beruhigt sich schon wieder!«, wehrte Artur ab.
Isi wurde plötzlich laut: »Seit dieser Soiree ist er anders. Seit er Stinnes und diese anderen getroffen hat, ist er nicht mehr derselbe!«
Artur zuckte mit den Schultern: »Das sind beeindruckende Leute, Isi. Ist es da ein Wunder, dass es ein bisschen auf ihn abgefärbt hat?«
»Was habt ihr miteinander besprochen?«, fauchte sie schon beinahe.
Artur machte eine beschwichtigende Geste: »Als Erstes möchte ich, dass du dich beruhigst. Es ist ganz sicher nicht meine Schuld, wenn Aldo sich komisch verhält.«
»Ach nein?!«
»Nein.«
Sie funkelte ihn böse an, doch dann wurde ihr Blick wieder weich, und sie trank einen Schluck: »Entschuldige bitte, Artur. Ja, du bist sicher nicht schuld, das weiß ich ja. Aber ich mache mir Sorgen. Aldo ist … wie soll ich sagen: Er ist kein starker Mensch. Nicht wie du.«
»Oder ich«, half ich säuerlich nach.
Isi grinste und gab mir einen Kuss auf die Wange: »Oder du, Carl Schneiderssohn.«
Unleidig brummelnd trank ich von meinem Bier.
Artur fuhr fort. »Und zweitens: Ich kenne die Männer nicht, die Aldo eingeladen hat. Ich war nur wegen Stinnes da.«
»Was sich ja auch ausgezahlt hat«, antwortete ich und fragte gleich hinterher: »Wie hast du das mit dem Kredit eigentlich geschafft?«
Artur schwieg und zuckte vielsagend mit den Schultern.
»Würde mich auch interessieren«, sagte Isi.
Artur schüttelte den Kopf: »Ist nicht so wichtig. Wichtig ist, ob Aldo nur ein bisschen rumspinnt, weil er den anderen imponieren will oder …«
»Oder?«, fragte ich.
Wieder schüttelte Artur den Kopf: »Kein Oder. Er spinnt nur rum.«
»Sicher?«, fragte Isi.
»Ja. Aldo ist leicht zu beeinflussen. Er will sich beweisen, will seinem Vater zeigen, dass er mehr sein kann als nur der Sohn eines schwerreichen ostelbischen Junkers. Sobald er eine Aufgabe gefunden hat, wird er sich wieder beruhigen.«
»Was für eine Aufgabe sollte das sein?«, fragte ich.
»Nun, er hat Zugang zum Hochadel. Nicht nur im Reich, sondern auch in England. Und ich glaube sogar in Russland – wenn die sich mit ihrer Revolution irgendwann mal wieder einbekommen. Und falls dann zufälligerweise noch ein Adliger leben sollte. Wenn Aldo seine Trümpfe geschickt einsetzt, kann er da viel Geld machen.«
»War das das Thema eures Gesprächs mit Stinnes?«, fragte Isi.
»Wir haben über viele Dinge gesprochen«, wich Artur aus. »Was ich eigentlich sagen will: Sobald er einen Handel eingefädelt und dafür viel Geld bekommen hat, wird er wieder der alte Hallodri sein.«
»Es sei denn, ich drücke ihm vorher im Schlaf ein Kissen auf das Gesicht«, antwortete Isi lakonisch. »Ich kann dieses nationalistische Gequatsche nicht ertragen.«
»Im Moment quatschen alle. Die Leute werden sich schon wieder beruhigen. Die haben sich 1919 auch wieder beruhigt.«
Isi schien nachzudenken.
Dann nickte sie: »Vielleicht hast du recht.«
Auch ich fand, dass das alles sehr wahrscheinlich klang, und so endete der Abend beschwingt.
Es war der letzte sorglose.
79
Artur verschwendete keine Zeit, begann, Haus um Haus und Grundstück um Grundstück zu kaufen, und agierte dabei genauso offensiv und geschickt wie damals mit unserem Fuhrunternehmen in Thorn. In dieser Zeit erlebte ich ihn wieder so, wie er immer schon gewesen war: mutig und unaufhaltsam einem Plan folgend. Einem legalen. Da war nichts mehr vom Ganoven zu spüren, er war nur noch ein Geschäftsmann, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte und sich jetzt, in diesem günstigen Augenblick, einen Vorsprung herausarbeitete, den andere nie wieder aufholen würden.
Dagegen schienen Aldo und Isi in immer schwierigeres Fahrwasser zu geraten. Seine politischen Spinnereien verflogen nicht, ganz im Gegenteil. Er gab Abendgesellschaft um Abendgesellschaft, bei der Isi nicht erwünscht war. Natürlich hätte sie ohnehin nicht teilnehmen wollen: Stattdessen verbrachte sie diese Zeit lieber bei mir zu Hause oder im Arcasi. Letzteres hatte zur Folge, dass die Leute begannen, sich das Maul zu zerreißen, denn dass eine Frau ständig alleine in einer Diele war, war nicht nur ungewöhnlich, sie geriet dadurch blitzartig in Verruf, selbst in Lokalitäten wie dem Arcasi mit seinen vielen zwielichtigen Gestalten.
Mal hieß es, sie sei leicht zu haben, obwohl sie sich niemals mit jemandem einließ. Dann wieder, sie verdiene ihren Lebensunterhalt als Edelprostituierte, weil Artur sie höchstbietend an die Herrschaften des Eden verscherbele. Andere glaubten, dass sie ihr Büro, in dem sie vor allem in Not geratenen Frauen oder Puppenjungen half, als Erotikbörse missbrauchte. Und natürlich ließen ihre Séancen, die spiritistischen Anrufungen ins Jenseits und Spielereien an Hexenbrettern, die wildesten Blüten blühen, ironischerweise nur die eine nicht, nämlich dass diese Sitzungen nichts als ein frecher Schwindel waren.
Letztlich geschah das, was selbstbewussten jungen Frauen in jener Zeit immer geschah: Sie waren zu suspekt, als dass man sie einfach in Ruhe lassen konnte. Jemand, der so hervorstach, musste zurück in die Unsichtbarkeit oder vernichtet werden. Und weil Isi für sich in Anspruch nahm zu tun, was sie für richtig hielt, waren die Mienen ihr gegenüber skeptisch und die Gerüchte hässlich.
Selbstredend sprach das niemand offen uns gegenüber aus, und so erfuhr ich nur zufällig davon, als ich zwei Straßenjungs miteinander reden hörte, die ihr hinterhersahen. Einer der beiden meinte, sein Vater hätte ihm gesagt, Isi wäre die teuerste Nutte in Berlin.
Ich sprach mit ihr darüber und bat sie, nicht mehr alleine auszugehen, aber sie schüttelte nur den Kopf und antwortete: »Ich lasse mir mein Leben nicht verbieten!«
»Sei bitte nicht stur, Isi. Auch wenn du von Dummköpfen umgeben bist, solltest du nie unterschätzen, wie viele sie sind und was sie anrichten können.«
»Du und Artur wisst, wer ich bin. Das reicht mir.«
»Aber ich will nicht, dass die Leute solche Sachen sagen!«
Sie sah mich ruhig an, dann sagte sie mit einem Unterton der Ratlosigkeit: »Carl, ich habe gerade ganz andere Sorgen. Aldo trifft sich ständig mit diesen Kerlen, und ich sehe, wie sehr er dazugehören möchte. Er hatte nie echte Freunde – und jetzt scheint es, als holte er nach, was er sein ganzes Leben vermisst hat. Endlich Jungs, mit denen er saufen, schwadronieren und singen kann.«
»Sollen wir vielleicht mal mit ihm reden?«, fragte ich.
»Wir?«, fragte sie überrascht zurück.
»Artur und ich?«
»Was willst du ihm denn sagen?«, fragte sie interessiert.
»Dass er eine Ehefrau hat. Und dass er sich gefälligst um sie kümmern soll!«
Isi lächelte, während ihr gleichzeitig die Tränen in die Augen stiegen.
»Ach, Carle …«
»Wir reden mit ihm, ja?«
Zu meiner heimlichen Überraschung stimmte sie zu, was mir zeigte, wie verletzt sie sein musste. Oder wie ohnmächtig. Die üble Nachrede schien ihr viel weniger auszumachen als mir, aber dass ihre Ehe möglicherweise scheitern könnte, das wollte sie offenbar nicht so ohne Weiteres akzeptieren.
Mich überraschte ihr Kampfgeist in dieser Beziehung, weil ich wohl insgeheim doch gedacht hatte, dass die Verbindung mit Aldo nicht auf festem Boden stand und es nur eine Frage der Zeit wäre, wann sie sich wieder löste.
Ich musste mir eingestehen, dass ich Isis Bestreben, diese Ehe zu einem Erfolg zu machen, unterschätzt hatte. Sie wollte Aldo nicht beim ersten ernsthaften Missklang zum Teufel jagen, sondern war bereit, für ihr gemeinsames Glück zu kämpfen. Sie, die rebellische, hinreißende Hochstaplerin und Revolutionärin, hatte mit der Eheschließung nicht nur einen sehr bürgerlichen Entschluss gefasst, sondern verteidigte ihn jetzt auch.
Also rief ich Aldo an und bat um ein Treffen, was ein überraschend hartes Stück Arbeit war, denn er wollte nicht. Erst als sich Artur einschaltete, stimmte er zähneknirschend zu.
Als er dann im Arcasi auftauchte, sah man ihm die miserable Laune schon von Weitem an, und selbst die ersten Plaudereien mit ihm waren schwierig, seine Grundhaltung durch und durch abwehrend. Er schien bereit, jeden vorgebrachten Einwand zu widerlegen, wenn nicht mit Argumenten, dann mit Heftigkeit oder Lautstärke. Selbst vermeintlich unverfängliche Fragen nach seinen neuen Freunden schienen ihn aufzubringen, sodass er mit Misstrauen und Schärfe reagierte.
Irgendwann war es Artur, der die Strategie änderte und mir mit einem heimlichen Nicken zu verstehen gab, auf harmlosere Themen umzuschwenken. Aldo entspannte sich fast augenblicklich, und Artur nutzte die Gunst der Stunde, Aldos Bier mit Schnaps aufzuhübschen, was seine Wirkung nicht verfehlte. Bald schon lachten wir über Witze und gemeinsame Erlebnisse, lästerten über die alten Böcke im Eden und mieden das Politische.
»Ach!«, rief Aldo irgendwann vergnügt. »Ich hab euch beide wirklich vermisst!«
Mittlerweile hatte er schon mächtig geladen, was ihn zunehmend in sentimentale Stimmung zu versetzen schien.
»Wir dich auch!«, pflichtete ich bei. »Hast dich ziemlich rar gemacht in den letzten Wochen.«
Er nickte: »Hm.«
»Vielleicht sollten wir uns wieder regelmäßiger treffen? Du, Isi und wir beide?«, lockte ich.
»Hm.«
»Isi vermisst unsere Treffen. Und sie vermisst dich …«
Er schwieg und starrte in sein Bierglas.
Dann, zu unserer Überraschung, stiegen ihm unvermittelt die Tränen in die Augen, und er sagte mit gebrochener Stimme: »Ich vermisse sie auch.«
Artur stand auf und ließ uns allein, während ich näher an Aldo heranrückte: »Mensch, Aldo, ihr seid so ein schönes Paar! Was ist denn los?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich würde sogar behaupten, dass es kein zweites Paar wie euch in ganz Berlin gibt.«
Da kullerten erste Tränen über seine Wangen.
»Liebst du sie denn nicht mehr?«, fragte ich leise.
Er schüttelte den Kopf: »Ich liebe sie wie verrückt!«
»Das ist gut, Aldo!«
Er zückte ein weißes Taschentuch, schnäuzte sich, dann lächelte er mit glasigem Blick: »Ich habe sie vor dem Feuer gerettet, weißt du?«
Ich nickte amüsiert – er war jetzt wirklich betrunken: »Ja, weiß ich.«
»Das war das Beste, was ich je in meinem Leben gemacht habe!«
»Da widerspreche ich nicht.«
»Als sie zu sich gekommen ist, wusste ich, dass ich sie heiraten wollte! Sie war ganz verschmiert mit Ruß, und ihr Haar war eine einzige Wirrnis.«
Er kicherte über die Erinnerung.
»Und dann diese Hochzeit!«, grinste er. »Schon mal von einer Braut gehört, die klatschnass vor dem Altar steht und der die Schminke in Streifen übers Gesicht läuft?«
»Bei Isi muss man immer auf Überraschungen gefasst sein.« Ich grinste.
»Ja«, antwortete er versonnen.
Artur kam zurück, an seiner Hand führte er Isi herein, die oben in seinem Büro darauf gehofft hatte, dass Artur mit guten Nachrichten zu ihr kommen würde.
Als Aldo sie sah, sprang er auf und nahm sie in die Arme.
Artur winkte Arnie zu sich und sagte: »Zum Anhalter Bahnhof. Der nächste Zug nach Wien. Keine Rückfahrkarte. Reicht, wenn sie im Herbst zurückkommen …«
Arnie grinste: »Na komm, Prinzessin. Flitterwochen! Besser spät als nie!«
Sie nahmen Aldo in ihre Mitte und wankten nach draußen.
80
Das Leben eines Kameramanns oder Fotografen ist beherrscht von der lebenslangen Selbstschulung, Dinge zu entdecken, die anderen verborgen bleiben, Perspektiven zu finden, die dem Bekannten das Unbekannte abringen, oder Kombinationen zu erschaffen, die einem Bild Originalität oder Bedeutung geben.
Man lernt zu erkennen, was andere übersehen.
Als Hans Chiara schwer verletzte, war das Urteil der anderen über ihn sofort gefällt, die Tat vermeintlich eindeutig und die Beweggründe offensichtlich. War der Junge nicht immer schon seltsam gewesen? Ein Einzelgänger ohne Freunde oder Anschluss an den Klassenverband? Einer, der wenig sprach und von dem man deswegen nie wusste, was er wirklich dachte? Dagegen dieses liebreizende Mädchen: hübsch, lebendig und klug. Eine gute Schülerin, vielleicht ein wenig zu extrovertiert, aber sonst nicht auffällig. Eine, die aufgrund ihres Witzes und ihrer Lebendigkeit Herzen gewinnen konnte. Genau wie ihre Mutter.
Beweisaufnahme abgeschlossen.
Einzig die Frage, warum eine wie sie sich mit einem wie ihm überhaupt angefreundet hatte, stand noch im Raum. Aber da hatten dem bezaubernden Mädchen offensichtlich Mitleid, Hilfsbereitschaft und Warmherzigkeit zum Nachteil gereicht, eine Mahnung an alle anderen, sich lieber nicht mit Außenseitern einzulassen.
Es war Juni, das Wetter schön, und die Zeitungen standen voll von einem ebenso rätselhaften wie feigen Mord an dem USPD-Politiker Karl Gareis, der in Bayern aus dem Hinterhalt erschossen worden war, als ein Fräulein mir am Filmset auf die Schulter tippte: »Die Schule deines Sohnes hat angerufen. Du sollst sofort kommen!«
Ich richtete gerade die Kamera für die Szene eines Films ein, an den ich mich heute nicht einmal mehr erinnern kann, weil er Standardware für zwischendurch war und man allgemein nur hoffte, er würde ein kleines Plus einspielen.
»Haben Sie gesagt, warum?«
»Nein, nur dass du sofort kommen sollst.«
Beunruhigt machte ich mich auf den Weg und dachte in der Straßenbahn darüber nach, was passiert sein könnte. Und ja: immer mit Hans als Opfer, nicht als Täter. Denn war es nicht offensichtlich, dass dieser Junge das geborene Opfer war?
Ich betrat also das Schulgebäude mit einem mulmigen Gefühl, klopfte an das Vorzimmer der Direktorin und atmete erleichtert durch, als ich dort Hans auf einer Holzbank sitzen sah. Unversehrt.
Frau Müller, die Direktorin, bat mich in ihr Büro und klärte mich dort über das auf, was vorgefallen war: Ein Mädchen lag im Krankenhaus, weil Hans ihr mit einem Backstein auf den Kopf geschlagen hatte.
»Wie bitte?!«, entfuhr es mir. »Hans soll das gewesen sein?«
»Ja, Herr Friedländer.«
»Kein Zweifel möglich?«
Sie schüttelte den Kopf: »Es war wohl während der großen Pause. Die anderen Kinder haben gesehen, wie Hans sich den Stein gepackt und Klara damit angegriffen hat.«
»Klara?«
»Klara Zillinski. Tochter der Wilhelmine Zillinski.«
Ich nickte: Offensichtlich hatte Lissi nicht nur für sich selbst eine klingendere Variante ihres Namens gewählt. Dabei war der Name Chiara so ungewöhnlich, dass Lissi schon einen Italiener hätte geheiratet haben müssen, um auf so was zu kommen. Das hatte sie aber nicht. Ihr Ehemann hieß Heinrich und war im Krieg gefallen. Jedenfalls hatte sie mir das so erzählt.
»Und warum hat er das getan?«, fragte ich. »Hatten die beiden denn Streit?«
»Niemand weiß es. Hans schweigt, und Chiara war nach der Attacke bewusstlos. Wir hatten gehofft, dass Sie etwas zur Aufklärung beitragen können.«
Hätte ich Hans’ Protesten mehr Beachtung schenken sollen?
In den letzten Wochen hatte er immer öfter davon gesprochen, nicht mehr mit Chiara spielen zu wollen. Ich hatte es als Laune abgetan, angenommen, das Ganze habe damit zu tun, dass er der einzige Junge in seiner Klasse war, der mit einem Mädchen spielte, und er sich deswegen Neckereien seiner Mitschüler anhören musste. Ich hatte versucht, ihm gut zuzureden, gesagt, dass einem die Meinung anderer nicht so wichtig sein sollte, wenn man an eine Sache oder einen anderen Menschen glaubte. Er hatte mich mit großen Augen angesehen und vorsichtig genickt, und ich hatte geglaubt, er hätte verstanden. Ein Irrtum, wie mir nun schien.
»Nein«, antwortete ich Frau Müller. »Ich weiß wirklich nicht, warum er das getan haben könnte.«
Das war sogar die Wahrheit.
»Sie sind mit Klaras Mutter … befreundet?«, fragte Frau Müller vorsichtig.
»Ja.«
»Dann sprechen Sie mit ihr. Die Schule wäre bereit, diesen Vorfall nicht den Behörden zu melden, weil Hans bisher ein ruhiger Schüler war, was natürlich nicht bedeutet, dass Frau Zillinski diesen Vorfall ebenfalls vergessen möchte. Bitte klären Sie das!«
Ich nickte, verließ dann ihr Zimmer, ging mit Hans nach Hause, gab ihn bei Frau Schulze nebenan ab und ließ mich von Arnie ins Städtische Krankenhaus in der Landsberger Allee fahren. Dort fand ich Lissi in einem Zimmer an Chiaras Bett. Sie streichelte die kleine Hand ihrer Tochter, während das Mädchen selbst zu schlafen schien.
Oder war sie immer noch bewusstlos?
Ich nahm meine Schiebermütze ab, während ich näher kam und Lissi vorgab, mich nicht zu bemerken.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich tonlos.
Sie antwortete nicht, sondern blickte nur in das Gesicht ihrer Tochter, deren Kopf in einem Verband steckte.
»Lissi?«
»Hans hat das getan!«, fauchte sie, ohne mich anzusehen.
»Ja, ich weiß.«
Sie wandte sich mir zu, und ihre dunklen Augen glühten wie Kohle: »Mit dem Jungen stimmt was nicht. Ich habe das immer gewusst!«
»Er hatte es sehr schwer!«
»Er hat ihr beinahe den Schädel eingeschlagen!«, zischte sie wütend.
»Kommt sie denn wieder in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.
Sie wandte sich wieder Chiara zu. »Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung und eine Schädelprellung … aber ja: Sie kommt wohl wieder in Ordnung.«
»Das tut mir alles sehr leid. Ich weiß nicht, was in Hans gefahren ist.«
Sie wirbelte wieder zu mir herum: »Was weißt du denn über Hans?!«
Ich sah sie irritiert an.
»Er ist nicht dein Sohn. Du hast keine Ahnung, wie sein Vater war. Du weißt nur, wer seine Mutter gewesen ist … eine Hure!«
Sie hatte es beinahe ausgespuckt, und obwohl mir klar war, dass sie wütend und in Sorge um ihre Tochter war, fühlte ich den Schmerz und dann die Wut über den tiefen Stich, den sie gesetzt hatte.
»Hans ist ein lieber Junge!«, antwortete ich heftig.
Sie fuhr hoch: »Ein lieber Junge?! Sieh dir an, was dein lieber Junge getan hat! Dein lieber Junge ist krank! Ein widerlicher kleiner Scheißkerl, den keiner mag!«
»Sprich nicht so über ihn!«
»Und ob ich so über ihn spreche! Mein kleines Mädchen ist halb tot wegen ihm!«
Ich war jetzt auch wütend und giftete zurück: »Irgendetwas muss sie getan haben, dass so etwas passiert ist!«
Wütend packte Lissi ihre Handtasche und warf sie nach mir: »Jetzt ist es also Chiaras Schuld, ja?!«
Sie verfehlte mich – die Tasche knallte gegen die Wand, ihr Inhalt verstreute sich auf dem Boden. Ihre Geldbörse, ein Lippenstift, mehrere ausgeschnittene Zeitungsartikel.
»Verschwinde! Ich will dich nie wiedersehen!«, schrie sie. »Es ist aus! Hörst du? Aus!«
Ich nickte beinahe schon teilnahmslos, dann wandte ich mich um, erreichte die Zimmertür und verließ das Krankenhaus wie in Trance.
Ich ging den ganzen Weg zu Fuß nach Hause, versuchte so, meine Emotionen wie ein außer Kontrolle geratenes Feuer auszutreten, um langsam wieder zu klaren Gedanken zu kommen. Hatte sie recht? War Hans krank? Hatte er ein psychisches Problem? Sosehr ich an ihn glauben wollte, so sehr musste ich mir eingestehen, dass ich nichts über seinen leiblichen Vater wusste. Hatte Marlies ihn geliebt? Oder er sie? War er ein umgänglicher, netter Mensch gewesen oder ein widerlicher kleiner Scheißkerl, dem Hans jetzt immer ähnlicher wurde?
Wieder sah ich sie am Bahnsteig stehen, wie sie kleiner und kleiner wurde und schließlich verschwand. Als Hure hatte sie jeden nehmen müssen, als Frau hatte sie mich gewählt.
Meine Schritte wurden langsamer, mein Atem ruhiger: Hans war der Sohn der Frau, die ich geliebt hatte, und nicht krank. Ich war es ihr schuldig, für ihn zu kämpfen. Und was immer sich zwischen den beiden Kindern abgespielt hatte, Chiara hatte irgendetwas gesagt oder getan, sonst wäre Hans nicht derart ausgerastet. Und je länger ich dadrüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass Lissi die Gelegenheit genutzt hatte, um mit mir Schluss zu machen. In den letzten Wochen hatte sie mich immer wieder vertröstet: Mal war das Kind krank, dann sie selbst müde, weil die Arbeit im Laden so lange gedauert hatte. Unsere Gespräche waren oft uninspiriert und nahmen nur dann Fahrt auf, wenn ich aus dem Glashaus berichtete. Wenn wir nicht über uns, sondern über die Negri, über Liedtke, Lubitsch oder Davidson sprachen. Über meine Branche, die sie so bewunderte.
Zu Hause ging ich mit Hans ins Wohnzimmer und setzte ihn auf das Sofa.
»Also, pass auf, Hans. Ich muss wissen, was passiert ist. Ich verspreche dir, ich werde nicht böse mit dir sein, aber du darfst mich auch nicht anlügen. Alles, was ich will, ist, dass du mir ganz genau schilderst, was war. Du lässt nichts weg, du fügst nichts an. In Ordnung?«
Er nickte leicht.
»Warum hast du Chiara mit einem Stein gehauen?«
Ich konnte sehen, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, er schluckte, dann aber antwortete er: »Sie meinte, dass sie froh ist, weil sie jetzt nicht mehr mit mir spielen muss!«
»Sie musste mit dir spielen?«
Er nickte: »Ihre Mama wollte es.«
Ich war gelinde gesagt verwirrt: Lissi hatte ihrer Tochter aufgetragen, mit Hans zu spielen?
»Warum musste sie denn mit dir spielen?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Und warum muss sie jetzt nicht mehr?«
»Sie hat gesagt, sie bekommt einen neuen Papa. Einen viel besseren als dich. Deswegen muss sie auch nicht mehr mit mir spielen.«
»Ein neuer Papa?«, fragte ich irritiert.
Er nickte: »Jemand ganz Berühmtes.«
Und endlich verstand ich.
All die Anzeichen, denen ich keine Bedeutung zugemessen hatte: das exzentrische Umbenennen, das übermäßige Interesse an meiner Branche, die nimmersatte Neugier am Leben der Schauspieler und Regisseure, die scheinbar so zufällige Begegnung vor der Schule.
Und schließlich das Treffen mit Fritz Lang.
Ich bin alles, was Sie wollen!
Wie kompliziert war es, sich eine Adresse auf einer Visitenkarte zu merken? Wie schwierig, einem Erotomanen schöne Augen zu machen?
Oder ein paar Artikel aus der Zeitung zu schneiden?
Denn das war Langs Manie: Er sammelte Artikel über sich oder seine Filme aus den Zeitungen. Das tat er mit einer solchen Besessenheit, dass man in unserer klatschverrückten Branche immer wieder Witze darüber machte. Jeder spottete darüber – selbst ich hatte das schon getan!
Ausgeschnittene Artikel.
Sie hatte sich ihm schon längst angeboten – und er hatte beherzt zugegriffen.
»Ist schon gut, Hans. Wir vergessen einfach Lissi und Chiara. Wusstest du übrigens, dass sie eigentlich Klara heißt?«
Er schüttelte den Kopf.
Ich nickte. »Menschen, die so mit uns umgehen, brauchen wir nicht in unserem Leben. In Ordnung?«
»In Ordnung.«
»Gut, wenn Klara wieder in die Schule zurückkommt, entschuldigst du dich bei ihr. Dann musst du nie wieder mit ihr sprechen, ja?«
Wieder nickte er.
Hans war kein widerwärtiger Scheißkerl.
Er hatte nur seinen Vater verteidigt.
Seinen wahren Vater.
81
Ich war überzeugt, von Wilhelmine nie wieder etwas zu hören, aber das Leben spielt allzu oft nicht ehrlich, und eigentlich hätte mir fast klar sein müssen, dass es nicht mit einem wütenden Gespräch im Krankenhaus enden würde.
Einstweilen erhielt ich ein Telegramm aus Wien.
Zu meiner größten Überraschung kündigte Isi darin ihre Rückkehr an und bat mich, sie am Anhalter Bahnhof abzuholen. Ich las daraus die Nachricht, dass die nachgeholten Flitterwochen nicht nur gescheitert waren, sondern Isi nicht mal mehr Lust hatte, in Aldos und ihre gemeinsame Bleibe zurückzukehren.
So wartete ich dann an einem herrlichen Tag im Juli auf dem Askanischen Platz, an dem ich, wie mir schien, vor einer Ewigkeit selbst in Berlin angekommen war, starrte auf den Eingang des riesigen Bahnhofs mit dem Tonnendach, während die Leute eilig hinein- und wieder hinaushuschten.
Endlich erschienen die beiden auf der Treppe, hinter ihnen Kofferträger, die auf Anweisung warteten, wo sie all das Gepäck hinschleppen sollten, dass die beiden offenbar in Wien zusammengekauft hatten. Isi winkte mir lebhaft zu, Aldo dagegen stand einfach nur da und starrte ins Leere.
Wir umarmten einander.
»Wir haben so bald gar nicht mit euch gerechnet«, sagte ich neugierig.
Aldo mied meinen Blick und zeigte stattdessen den Trägern, in welche Taxis sie die Koffer bringen sollten.
»Tja …«, antwortete Isi.
»Ich kann euch gerne nach Hause fahren. Artur hat mir seinen Wagen geliehen«, wandte ich mich an Aldo.
Der schüttelte nur den Kopf, dann nickte er mir zum Gruß zu und stieg langsam die Treppe hinab, den Helfern hinterher.
»Scheiße!«, murmelte ich. »Was ist passiert?«
Isi seufzte, dann hakte sie sich unter und antwortete: »Das wird schon wieder. Erst mal fahren wir zu dir, ja?«
Obwohl sie die Rückfahrt über schwieg, schien sie weder bedrückt noch aufgewühlt, sondern beobachtete nur interessiert Verkehr und Leute aus dem Seitenfenster des Beifahrersitzes, während ich ungelenk durch die Straßen kreuzte und versuchte, niemanden zu überfahren.
Zu Hause ließ sie mich, ganz Grande Dame, das Gepäck ausladen und ins Haus tragen. Sie selbst trat nur kurz ein, um Gläser und eine Flasche Wein zu holen, und ging dann wieder raus.
»Bringst du Stühle mit?«, rief sie.
»Ja, Madame!«, rief ich zurück.
Draußen nahmen wir auf dem Bürgersteig Platz und genossen das warme Wetter in der verhältnismäßig ruhigen Straße. Zwar ging der Ausblick nicht ins Grüne, war aber, wie ich zugeben musste, recht interessant, denn es gab immer etwas zu sehen, ganz gleich, ob es die Nachbarin beim Putzen, der Fahrer bei einer Lieferung oder eine Rotznase beim Spielen war.
»Also, was ist passiert?«, fragte ich erneut, nachdem ich uns beiden ein Glas eingeschüttet hatte.
»Hm«, machte Isi. »Das klingt vielleicht komisch, aber ehrlich gesagt: Es war herrlich in Wien!«
»Na, so toll kann es wohl nicht gewesen sein?«
»Doch. Wien ist wunderbar. Es gibt so viel zu sehen, und wir hatten fabelhaftes Wetter.«
»Isi …«
Sie nickte nachdenklich. »Aldo ist so aufgeblüht. Wir hatten nur uns, sind spät aufgestanden, haben die Nacht zum Tag gemacht. Theater. Musik. Restaurants. Ich glaube, wir waren noch nie so selbstvergessen, so sorglos. Keine komischen Kerle mehr. Keine Politik. Nur wir beide. Es war wie ein nicht enden wollender Rausch!«
»Und dann?«
»Dann kam die Rechnung. Und das meine ich durchaus wörtlich …«
Ich sah sie fragend an.
»Ich glaube, wir haben uns beide keine Gedanken darüber gemacht, was das alles kostet. Die neue Kleidung. Die abendlichen Vergnügungen. Das Hotel. Aldo war so glücklich – jeder Tag war ein Fest!«
»Ihm ist das Geld ausgegangen?«, fragte ich erstaunt.
Isi nickte.
»Aber er hat doch ein Vermögen von der Versicherung für das Haus bekommen …«
»Er hat seitdem auch ein Vermögen ausgegeben.«
Ich starrte sie an: »Und diese Abendgesellschaften? Ich dachte, er wollte da große Geschäfte machen?«
Isi zuckte mit den Schultern: »Von Geschäften, die ihm was gebracht hätten, weiß ich nichts. Und ganz offensichtlich gab es sie auch nicht. Es waren wohl in erster Linie große Besäufnisse auf seine Kosten.«
»Und was ist jetzt in Wien passiert?«, fragte ich.
»Als der Hoteldirektor mit einer Zwischenrechnung kam, wurde Aldo klar, dass wir bankrott waren. Er hatte noch nie einen Sinn für die Realitäten, aber in diesem Moment traf es ihn mit voller Wucht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Direktor zu erklären, dass der sich mit der Rechnung gedulden müsse. Und obwohl ihm der Mann deswegen keine Szene machte, war Aldo so beschämt, dass er ganz grau im Gesicht wurde.«
»Und wie habt ihr bezahlt?«, fragte ich. »Oder …«, ich hielt inne und sah sie scharf an: »Ihr seid doch nicht wirklich getürmt, oder? Taucht hier gleich Oberkommissar Kennel auf und nimmt dich fest?«
Isi grinste: »Ich hätte wirklich zu gerne die Zeche geprellt, aber Aldo hat ihn ein paar Tage später bezahlt.«
»Und woher hatte er das Geld?«
»Hat er mir nicht gesagt. Er hat die letzten Tage ohnehin kaum gesprochen. Und möglicherweise habe ich es mit meinem Verhalten nur noch schlimmer gemacht …«
»Isi!«, mahnte ich.
»Nein, nicht mit Vorwürfen, ganz im Gegenteil: Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass ich so ein Leben gar nicht brauche. Und dass er sich das alles nicht so zu Herzen nehmen soll. Ich glaube aber, je mehr ich versucht habe, ihn zu trösten, desto tiefer hab ich den Stachel nur hineingetrieben.«
Ich nickte.
»In der Nacht, bevor wir abgereist sind, hab ich ihn leise weinen hören. Er hat mir so leidgetan, dass ich ihn in den Arm genommen habe. Er hat sofort aufgehört und seitdem kein Wort mehr gesagt.«
»Und jetzt?«
Sie seufzte: »Ich werde ihm ein bisschen Zeit geben. Vielleicht hat Artur auch eine Idee, wie Aldo zu Geld kommen kann. Er soll sich wieder als Mann und Versorger fühlen!«
»Mein Güte, dabei sah alles wieder so gut für euch aus«, seufzte ich.
Isi lächelte und tätschelte mir die Hand: »Mach dir keine Sorgen, ich krieg ihn schon wieder hin.«
Doch in einer Welt, in der Menschen einander auf unzählige Art und Weisen kränken konnten, gab es Verletzungen, die man nicht verwinden konnte. Bei denen es keine Hoffnung auf Heilung gab.
Nie mehr.
82
Isi kehrte am Abend in ein leeres Haus zurück.
Aldo war fort.
Und mit ihm auch fast alle Bediensteten, die er noch am Vormittag, gleich nach seiner Rückkehr, entlassen hatte. Nur ein Dienstmädchen war geblieben, das Isi mitteilte, dass der Herr des Hauses sie beauftragt habe, ihr zur Seite zu stehen und ihr eine Nachricht zu überbringen: Der Herzog sei verreist, wohin konnte sie nicht sagen, wohl aber, dass nicht so schnell mit einer Rückkehr zu rechnen sei.
Ich hatte Isi mal wieder die Koffer hinterhergetragen, sodass wir jetzt beide reichlich ratlos im Salon vor dem livrierten Mädchen standen und nichts zu sagen wussten.
»Und mein Mann hat wirklich keine Nachricht hinterlassen? Einen Brief vielleicht?«, fragte Isi.
»Nein, gnädige Frau. Nicht dass ich wüsste.«
Isi nickte und trug ihr auf, die Koffer auszupacken.
»Wo könnte er sein?«, fragte ich sie, nachdem das Mädchen mit dem ersten Koffer davongeeilt war.
Isi zuckte mit den Schultern: »Vielleicht bei einem seiner neuen Freunde?«
»Meinst du, die haben ihm auch in Wien aus der Klemme geholfen?«
Sie schüttelte den Kopf: »Viele von denen studieren oder wissen nicht so recht, was sie tun sollen – nach diesem Krieg. Die haben keine großartigen finanziellen Möglichkeiten. Und die Alten respektieren seinen Namen, aber … nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei denen vorgesprochen hat.«
»Wer dann?«
»Ich weiß es nicht. Stinnes vielleicht?«
»Puh, den um Geld zu bitten wäre aber wirklich eine Demütigung. Und würde der noch Geschäfte mit einem machen wollen, dessen Rechnungen er begleichen muss?«
Isi seufzte. »Nein. Natürlich nicht.«
»Er schreibt dir sicher«, sagte ich zum Trost.
»Der ist ein solches Kind!«, schimpfte Isi. »Kaum gibt es ein echtes Problem, läuft er davon. Als ob es davon besser würde.«
»Willst du eine Weile bei mir wohnen?«, fragte ich.
Sie schüttelte wieder den Kopf: »Nein, ich habe ihn geheiratet, ich gehöre hierhin. Und wenn er zurückkommt und ich ihm die Leviten gelesen habe, dann wird alles wieder gut.«
Ich verabschiedete mich und fuhr ins Arcasi.
Traf bei lebhaftem Betrieb Artur in einem der Separees mit Arnie und Harry und sprach mit ihnen über Isis Rückkehr und Aldos Abtauchen.
Sie hörten schweigend zu.
Dann, nach einer langen Pause, sah mich Arnie ernst an und fragte: »Meinst du, es ist noch zu früh, ihr einen Heiratsantrag zu machen?«
Die beiden anderen brachen in Gelächter aus.
»Blödmann!«, antwortete ich, konnte aber ein Lachen selbst nicht unterdrücken.
»Wo könnte er sein?«, fragte ich schließlich Artur.
Der zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung.«
»Jetzt komm, ihr habt ziemlich oft zusammengehockt seit dem letzten Jahr!«, mahnte ich.
»Nach dem, was du gesagt hast, kann ich mir eigentlich nur eines vorstellen …«
»Ja?«
»Er ist nach Hause.«
»Zu seinen Eltern?«, rief ich erstaunt.
»Fällt dir sonst noch jemand ein, der ihm Geld geben würde? Ich meine: sehr, sehr viel Geld geben würde?«
»Ich dachte, er wollte seine Kontakte zu Geld machen? Wieso hat das eigentlich nicht geklappt?«
Artur seufzte: »Weil Aldo kein Geschäftsmann ist. Weil er zu viel redet, vor allem wenn er getrunken hat. Und wenn er jedem erzählt, dass sein Vater Wendell ihn hasst und seine Mutter Victoria mit ihm abgeschlossen hat … wie viel sind dann seine Kontakte noch wert? Er kann froh sein, dass seine Eltern ihn noch nicht enterbt haben. So lange besteht wenigstens noch die Hoffnung, dass er einmal alles bekommt.«
»Der ist doch jetzt nicht nach Hause, um seinen Vater umzubringen, bevor der ihn enterben kann?!«, fragte ich ungläubig.
»Nein, keine Bange. Aldo bringt niemanden um. Nicht mal sich selbst.«
Vorne auf der Bühne hatte eine kleine Kapelle einen Tusch gespielt – Harry rückte aus der Bank heraus und sagte: »Ich muss auf die Bühne, ihr Helden!«
Scheinbar ohne jede Vorbereitung sprang er vor und heizte dem Publikum ein. Und das folgte ihm, die Menschen waren wie Marionetten in seinen Händen. Er war wirklich ein erstaunliches Schautalent. So wie alle, die Artur um sich versammelt hatte, erstaunlich waren. Noch erstaunlicher allerdings war, wie sehr sie ihm vertrauten, wie sie ihn als ihren Anführer respektierten, selbst Männer wie Arnie, die älter waren und ganz sicher selbst aus dem Holz geschnitzt, um anzuführen. Alle bauten sie auf Artur, genau wie er auf sie baute. Schon damals bei der Sache mit Silber-Kurt, als die Gefahr übermächtig war, war keiner von seiner Seite gerückt. Eine verschworene Truppe, die zusammen unterging oder triumphierte. Nur bei Anna hatte Arturs Instinkt versagt, vielleicht, überlegte ich jetzt, weil sie eine Frau war und damit nicht so leicht zu durchschauen wie ein Kerl?
»Carl?«, rief Artur in den Lärm der Diele hinein.
»Ja?«
»Arnie und ich haben noch etwas zu besprechen!«
Überrascht sah ich die beiden an. Eigentlich hatte Artur doch angekündigt, dass Schluss mit den krummen Geschäften sein sollte.
»Echt jetzt?!«, rief ich gereizt.
»Sei nicht gleich sauer!«, rief Artur zurück.
»Du wolltest doch damit aufhören!«
Artur nickte: »Das tue ich auch, nur …«
»Nur was?«
»Es gibt Gelegenheiten, die kann man nicht einfach so auslassen.«
»Artur, du hast so viel erreicht! Warum riskierst du das?«
»Du musst das nicht verstehen, Carl.«
»Tu ich auch nicht.«
Er schwieg, genau wie Arnie, der mich ausdruckslos ansah.
Also stand ich auf und ging.
Es war wahrscheinlich besser, wenn ich nicht alles wusste. Und ich musste vielleicht auch nicht alles nachvollziehen können, was Artur in Angriff nahm, nur Vertrauen zu ihm haben. So wie alle, die mit ihm zu tun hatten. Bisher war ich damit auch ganz gut gefahren.
Einigermaßen beschwingt spazierte ich den ganzen Weg durch eine laue Sommernacht nach Hause. Da sah ich sie schon von Weitem auf den Treppen vor dem Hauseingang sitzen.
Lissi … Wilhelmine.
Als ich an sie herantrat, stand sie auf und lächelte mich an.
»Hallo, Carl. Lange nicht gesehen.«
83
Erstaunlich, welche Phasen meine Verwirrung in diesen ersten Sekunden des Wiedersehens durchlief, beginnend mit einem ersten Aufflammen von Neugier, vielleicht auch mit dem Wunsch nach Nähe, dann aber dem Einsetzen von Misstrauen und dem Willen zur Distanzierung. Warum war sie gekommen? Was wollte sie?
Ich ließ sie vor mir eintreten, folgte ihr ins Wohnzimmer, nahm den vertrauten Geruch wie die vertrauten Formen ihres Körpers wahr. Mit einer Geste bat ich sie, Platz zu nehmen, und öffnete eine Flasche Wein, ohne mich zu fragen, ob das überhaupt angemessen war. Mir war einfach danach, auch wenn wir uns nicht gerade als Freunde getrennt hatten. Sie nahm das Glas an und prostete mir freundlich zu, während ich mich auf das Sofa setzte.
»Wie gehts?«, fragte sie.
Ich zögerte mit der Antwort, dann entgegnete ich: »Was machst du hier?«
Sie nickte: »Hm. Keine Zeit für Plaudereien, was?«
»Ist etwas mit Klara?«
»Chiara.«
»Ist sie wieder ganz gesund?«, fragte ich.
Sie nickte: »Ja, sie hat sich erholt.«
»Das freut mich. Bist du deswegen hier?«
Sie nahm einen Schluck und antwortete dann: »Nein. Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Es tut mir leid, wie ich mich benommen habe.«
Sie wirkte weder nervös noch zerknirscht. Ganz die gut aussehende, selbstsichere Frau, die sie immer schon gewesen war. Zu meiner eigenen Überraschung verspürte ich plötzlich das innere Bedürfnis, ihr zu verzeihen. Unsere Beziehung hatte wohl nie eine reelle Chance gehabt. Die Trennung hatte zwar wehgetan, doch ich war sehr schnell über sie hinweggekommen – anders als bei Marlies oder auch Masha, die immer noch meine Träume beherrschten.
»In Ordnung. Ich nehme deine Entschuldigung an.«
Sie lächelte, trank aus und hielt mir das Glas erneut hin.
»Darauf trinken wir!«
Wir stießen an.
Dann setzte sie sich neben mich auf das Sofa.
»Ich hätte das mit Hans und seiner Mutter nicht sagen dürfen, aber ich war in solcher Sorge …«
»Hm.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm, wie sie es schon bei unserem Kennenlernen gemacht hatte: »Du hast dich immer sehr anständig mir gegenüber benommen. Man denkt ja immer, dass das eine Selbstverständlichkeit sein sollte, aber du musst dich nur umsehen: Jeder ist des anderen Feind. Jeder kämpft für sich allein. Du bist anders, und ich hab das nicht zu schätzen gewusst.«
Wandte sich der Mensch nicht immer dem Schillernden zu? Dem Lauten? Ich sah sie von der Seite an und fragte mich, worauf sie hinauswollte. Sie zog ihre Finger wieder zurück und rückte gleichzeitig etwas näher.
»Weißt du, ich bin nur eine einfache Frau. Leicht zu beeindrucken und … und …«
»Hast du deswegen mit Lang geschlafen? Weil er dich beeindruckt hat?«, fragte ich ruhig.
Sie schwieg, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Ich bin so eine dumme Gans, Carl. Wie konnte ich nur glauben, dass er mich liebt?«
»Ich hätte es dir sagen können …«
Sie fasste meine Hand und wandte sich mir zu: »Bitte verzeih mir, Carl. Ich war blind!«
Ich nickte: »Dieses Geschäft kann einen schnell blind machen mit seinem Glitter und Glanz. Aber es ist trotzdem nur ein Geschäft.«
»Kannst du mich denn ein bisschen verstehen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja.«
Da warf sie sich mir um den Hals und schluchzte: »Du bist so außergewöhnlich, Carl! Wie konnte ich das nur nicht sehen?«
Meine Haut wurde ganz nass von ihren Tränen, dann fühlte ich ihre Lippen, wie sie sich ihren Weg zu meinem Mund suchten: Sie küsste mich.
»Nimm mich, Carl! Du kannst alles haben! Ich will alles sein, was du willst!«
Erst nach ein paar Momenten bemerkte sie, dass ich immer noch kerzengerade auf dem Sofa saß und ihren Kuss nicht erwiderte.
Schließlich rückte sie von mir ab.
»Was ist denn?«
Ihr war nicht einmal aufgefallen, dass sie mir fast dasselbe wie Fritz Lang gesagt hatte.
»Ich denke, du gehst jetzt besser!«, antwortete ich knapp.
»Aber, Carl, ich schwöre dir: Das mit Fritz war ein Fehler. Ein schlimmer Irrtum. Ich weiß es doch!«
Ich nickte: »Ich auch.«
»Brauchst du Zeit, Carl? Ich will dir alle Zeit der Welt geben!«
Ich schüttelte den Kopf: »Ich brauche keine Zeit, Wilhelmine.«
Sie sah mehr als überrascht aus, als ich sie bei ihrem Geburtsnamen nannte.
Dann aber wurde ihr Blick kalt.
Sie stand auf, glättete ihr Kleid und sagte: »Du bist mir etwas schuldig, Carl.«
Stirnrunzelnd sah ich sie an: »Ich dir?«
»Hans hat meine Tochter krankenhausreif geschlagen!«
»Er hat um Entschuldigung gebeten. Und Klara geht es wieder gut.«
»Chiara!«, fauchte sie.
»Jedenfalls bin ich dir nichts schuldig.«
Ich erhob mich und wies sie mit einer Geste zur Tür.
Sie rührte sich nicht und sah mich fordernd an: »Besorg mir ein Vorsprechen bei Lubitsch. Dann sind wir quitt.«
Diesmal war ich es, der sie völlig überrascht anstarrte.
»Ist doch keine große Sache, Carl. Du bringst mich rein, den Rest mach ich selbst.«
»Glaubst du wirklich, es ist so leicht?«
»Ja.«
»So leicht wie bei Fritz Lang?«
Ihr Mund verschloss sich zu einem Strich, dann zischte sie: »Scheißkerl!«
»Du bist keine Schauspielerin, und du wirst auch nie eine sein. Es gibt zwar in unserem Gewerbe eine Menge größenwahnsinnige Leute, aber die meisten von ihnen haben Talent. Du nicht.«
»Ich kann das lernen! Ich brauche nur eine Chance!«
»Hattest du die nicht schon?«
Sie sah aus, als wollte sie mir an die Kehle springen.
Dann fauchte sie: »Du wirst mir ein Vorsprechen besorgen, oder ich zeige deinen Sohn bei der Polizei an!«
Kurz kehrte Stille ein, und ich konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie sich über den Treffer freute.
»Dann zeig ihn halt an!«, gab ich unruhig zurück. »Hans ist ein Kind. Was soll schon passieren?«
An ihrem boshaften Lächeln konnte ich bereits sehen, dass sie jetzt ihren letzten Trumpf zog. Sie hatte sich vorbehalten, diese Karte erst zu spielen, wenn nichts mehr ging. Wenn wir an einem Punkt angelangt waren, an dem es für uns beide keine Rückkehr mehr gab.
»Ich sage dir, was passiert: Ich werde zu Oberkommissar Kennel gehen. Weißt du noch? Der Polizist, dem du fast den Schädel eingeschlagen hast. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, kann ich da nur sagen.«
Allein der Name ließ mir schon das Blut in den Adern gefrieren. Die Episode mit Kennel war in so weite Ferne gerückt, dass ich sie schon ganz verdrängt hatte. Aber jetzt stand er mit uns im Raum. Gleich neben uns, und ich konnte sein blasses, verbrämtes Gesicht neben meinem sehen, die kalten Augen, die frohlockten, weil sie endlich den Riss in der Mauer gefunden hatten.
»Ich werde ihm sagen, dass Hans gemeingefährlich ist. Und dass er nicht dein Sohn ist. Dass er niemandes Sohn ist. Was glaubst du, wird er mit ihm machen, Carl?«
Ich schluckte und schwieg.
»Du wirst mir dieses Vorsprechen besorgen, Carl! Ich habe gehört, Lubitsch dreht grad einen großen Film! Irgendwas Ägyptisches. Du wirst mich in diesen Film bringen.«
Tatsächlich steckten wir bereits tief in den Vorbereitungen für Das Weib des Pharao. In Steglitz, in den Sanddünen der Rauhen Berge, hatten wir eine Pharaonenstadt gebaut mit einer knapp dreißig Meter hohen Sphinx und einem Palast, der jede Vorstellungskraft übertraf: fast achtzig Meter hoch und knapp siebzig Meter breit. Produziert wurde der Film von Davidson und Lubitsch unter dem Dach der UFA, aber jeder wusste, dass es die Eintrittskarte der beiden nach Amerika sein würde. Lubitsch hatte mir eine der Kameras anvertraut. Wenn Sparkuhl auch Erster Kameramann blieb, war ich doch sehr stolz, dass ich Teil dieses Films sein durfte.
»Der Film ist bereits besetzt.«
»Ja, Jannings, Liedtke, was man so hört. Aber es gibt sicher noch kleinere Rollen. Bring mich da rein, dann bist du frei.«
Sollte ich Lubitsch und Davidson fragen? Sie hätten sicher Verständnis für meine Situation, aber was wäre ich dann in ihren Augen? Was wäre ich dann für mich?
Sie sah mich an, und ihre Stimme wurde weich: »Ich will doch nur eine Chance auf ein besseres Leben, Carl. So wie du eines hast! Oder deine Freunde! Das will ich auch für mich. Ist denn das so viel verlangt?«
Ihr Blick war flehentlich geworden, und doch wusste ich, dass nichts daran echt war. Lubitsch würde sie ablehnen, und sie würde immer wieder neue Chancen verlangen. Und am Schluss, wenn jeder sie abgelehnt hatte, würde sie mir dafür die Schuld geben. Denn alle hatten Schuld – nur sie selbst nicht.
»Geh jetzt!«
»Wirst du mir helfen?«
»Nein.«
Hass wich dem Flehen.
Sie hob das Kinn, trat an mich heran und zischte mir eines der hässlichsten Worte der deutschen Sprache ins Ohr.
Dann verließ sie den Raum.
Die Haustür fiel ins Schloss.
84
Sie musste auf direktem Weg ins Polizeirevier Fünfzig gegangen sein, denn keine zwei Stunden später hämmerten zwei Uniformierte an meine Haustür und befahlen mir, sie zu begleiten. Ich hatte gerade noch Zeit, Frau Schulze zu bitten, Hans bei sich schlafen zu lassen, und ihr zu versichern, später alles zu erklären, als sie schon die beiden Polizisten in meinem Rücken sah.
Mittlerweile ging es auf Mitternacht zu, und ich war wenig überrascht, dass Kennel noch Dienst tat, denn einer wie er war rund um die Uhr entweder im Namen des Herrn oder des Rechts unterwegs. Er sah nicht einmal hin, als man mich in sein Büro führte, bot mir auch keinen Platz an, sondern ließ mich vor seinem Schreibtisch stehen, während er mit wichtiger Miene eine Akte bearbeitete.
Endlich blickte er auf und nickte zu einem freien Stuhl, auf den ich mich setzen sollte. Dann hob er die Akte und fragte: »Wissen Sie, was das hier ist?«
Alles, was ich sehen konnte, war eine dünne Pappe, darin vielleicht drei oder vier weiße Blätter. Nicht sehr eindrucksvoll.
»Nein.«
»Das ist der Antrag, der Ihr Ziehkind in städtische Obhut bringt.«
Äußerlich war ich unbewegt, doch mein Herz raste, und ich spürte Übelkeit meine Kehle hinaufsteigen. Ich wollte keine Schwäche zeigen, aber Kennel schien nicht auf mein kleines Schauspiel hereinzufallen, sondern lächelte böse: Er war zu erfahren, um sich von denen, die da vor ihm saßen, etwas vormachen zu lassen.
»Was sagen Sie dazu, Friedländer?«
»Können wir nicht vernünftig miteinander reden?«, antwortete ich schließlich.
»Ich sehe es so: Da ist ein Kind mit psychischen Problemen und problematischer Herkunft. Dazu ein überforderter Ziehvater mit zweifelhaftem Umgang, dazu polizeilich bekannt. Wenn Sie da jetzt objektiv draufschauen: Würden Sie es nicht auch so einschätzen, dass hier das Kindeswohl ganz eindeutig gefährdet ist?«
»Hans hat keine psychischen Probleme. Dieser Vorfall war … Er wurde provoziert.«
»Mag sein. Aber normale Kinder versuchen nicht, anderen Kindern den Schädel einzuschlagen. Sie prügeln sich, schreien rum, heulen. Aber sie tun nicht das, was dieser Junge getan hat.«
Das Schlimme war: Er hatte recht. Und noch schlimmer war, dass selbst ein vollkommen unvoreingenommener Richter diesen Fall nicht anders bewerten würde. Unabhängig davon, dass Kennel sicher das Seinige täte, damit ein solcher Richter nicht unvoreingenommen sein würde. Somit stand ich auf völlig verlorenem Posten – wir wussten das beide.
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
Kennel nickte, als hätte er meine Frage erwartet. Er lehnte sich zurück und kostete die Situation aus: »Ich sagte Ihnen ja bereits, dass Gottes Mühlen langsam mahlen. Aber am Ende siegt doch das Gute.«
Ich schwieg.
Kennel starrte mich lange an.
Dann lehnte er sich plötzlich vor und sagte: »Meine Verlobte hält Sie für einen anständigen Menschen. Und wissen Sie, was, Friedländer? Ich auch. Sie sind in schlechter Gesellschaft, aber im Grunde sind Sie einer von den Guten. Also werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, wie wir diese Situation so lösen, dass alle etwas davon haben.«
»Und wie?«, fragte ich, wohl ahnend, was als Nächstes kommen würde.
»Sie liefern mir Ihren Freund Artur Burwitz. Und wenn Sie das tun …«, er hielt die schmale Akte wieder in die Höhe, »werde ich die hier vernichten. Sie können sich dann um den Jungen kümmern, ihn großziehen, vielleicht auch eine gute Frau finden. Und ihr Freund Burwitz kommt ins Kittchen. Da, wo er hingehört.«
»Ich …«, mir brach die Stimme.
Er machte eine beschwichtigende Geste: »Ich weiß, Sie empfinden allein schon den Gedanken daran als Verrat, aber das ist es nicht. Sie kehren nur ins Licht zurück. Ihr Freund dagegen hat sich für die Dunkelheit entschieden. Folgen Sie ihm nicht! Sehen Sie sich doch nur meine Verlobte an! Auch sie hat zurückgefunden in die Gemeinschaft der Gerechten. Und wie glücklich sie jetzt ist! Sie können das auch, Friedländer!«
Ich schwieg, suchte verzweifelt nach einem Ausweg, den es nicht gab.
»Gut, dann sind wir uns einig, ja? Das Leben Ihres Ziehsohnes für das Leben eines Schwerverbrechers. Ich glaube, Sie wissen längst, wie Sie sich entscheiden. Wie sich jeder gute Christ entscheiden würde. Oder jeder gute Jude. Nehme ich jedenfalls an. Weiß man bei euch ja nie so genau …«
Er erhob sich und gab mir zu verstehen, dass die Unterredung beendet war. Jovial legte er seine Hand auf meine Schulter und schob mich aus seinem Büro: »Also dann, Friedländer. Tun Sie das Richtige!«
Wie betäubt verließ ich das Polizeirevier, trat auf eine immer noch recht belebte Straße. Die Nacht war lau, Nachtschwärmer und Prostituierte schwirrten umher.
Wie lange war ich bei Kennel gewesen?
Fünfzehn Minuten?
Zwanzig?
Lang genug jedenfalls, um das Leben eines Menschen zu ruinieren.
Nur: welches?
85
Männer neigen dazu, schwierige Entscheidungen mit sich selbst auszumachen, zu verstummen, wenn es besser wäre, Rat zu suchen, zu handeln, wenn es besser wäre, die Folgen nicht nur aus der eigenen Position beleuchtet zu haben. Vielleicht hätte ich mich Artur und Isi anvertrauen sollen, aber zu diesem Zeitpunkt war ich überzeugt, ihre Antworten auf mein Dilemma bereits zu kennen.
Für Isi hätte kein Zweifel bestanden, wessen Leben ich zu schützen hatte, nämlich das Arturs, unabhängig davon, dass er selbst damit rechnete, eines Tages sowieso im Knast zu landen, weil ihm die Risiken seiner Branche vollkommen klar waren. Für sie hätte es nicht einmal der Überlegung bedurft, ob ich einen kleinen Jungen, dessen Vater ich nicht war und mit dem ich genau genommen nicht einmal verwandt war, opferte oder den Mann, der mir nicht nur ein Mal das Leben gerettet hatte, mit dem mich mehr verband als mit jedem anderen Menschen. Abgesehen vielleicht von ihr.
Und Artur? Er hätte mich verstanden, aber wie hätte er auf die Bedrohung reagiert? Er war kein Freund überzogener Gewalt oder drastischer Maßnahmen, aber er scheute sie auch nicht. Und hätte er eine solche Situation nicht als absolut bedrohlich empfunden? Ich war mir sicher, dass er Kennel für immer verschwinden lassen würde, wenn er wüsste, welches Spiel der gerade spielte. Und in diesem Fall hätte Kennels Blut an meinen Händen geklebt. Es wäre so, als hätte ich es selbst getan.
Ein neuer Tag kam, ein neuer Tag ging.
Eine neue Woche kam, eine neue Woche ging.
Meiner Arbeit im Glashaus kam ich nur noch mechanisch nach. Und kehrte ich nach Hause zurück, sah ich Hans selbstvergessen mit seinen Bauklötzchen spielen.
Ich fragte: »Hans?«
Und er wandte sich mir mit unschuldigem Blick zu: »Ja?«
»Ach nichts, mein Junge.«
Wie lange hatte er nicht gesprochen? Wie lange gebraucht, bis er nicht mehr schreiend und weinend in der Tür stand, wenn ich zur Arbeit musste? Wie lange, bis er endlich begriff, dass es sehr wohl schlimm wäre, tot zu sein?
Er hatte alles verloren und mich gewonnen.
Wie hätte ich ihn verraten können?
Ich begann, die Entscheidung vor mir herzuschieben, sie zu verdrängen, bis ich irgendwann nicht mehr jeden Tag daran dachte, nicht mal jeden zweiten Tag, schob sie immer weiter in den Hintergrund wie die miese Diagnose eines Arztes, der mir eine unheilbare Krankheit attestiert hatte, die ich nicht spürte und die mit jedem neuen Tag, an dem ich sie nicht spürte, unwirklicher wurde. Vielleicht hatte er sich ja geirrt? Vielleicht war sie von selbst weggegangen? Wie konnte man krank sein, wenn die Sonne schien und man sich gut fühlte?
Aber die Krankheit war nicht weg.
Genauso wenig wie Kennel.
Er kreuzte bei mir auf, als ich eines Tages gerade von der Arbeit nach Hause gekommen war, um Hans und mir etwas zu essen zu machen. Hinter ihm zwei Uniformierte.
»Guten Tag, Friedländer!«, grüßte er. »Mir scheint, als würden Sie versuchen, unseren Handel zu ignorieren?«
Ich schluckte: »Aber nein, Herr Oberkommissar …«
»Nein? Das ist gut: Was haben Sie für mich?«
»Ich … ich … bin noch nicht so weit!«
Kennel starrte mich kalt an: »Das ist bedauerlich, Friedländer …« Er sah an mir vorbei und rief: »Hans? Kommst du mal?«
»Was soll das, Herr Oberkommissar?!«, rief ich erschrocken.
»Wir nehmen ihn jetzt mit.«
»Das können Sie nicht tun!«
»Sie haben versucht, mich zu betrügen. Niemand betrügt mich!«
Hans erschien an der Haustür und sah neugierig zu mir hoch: »Was gibts, Papa?«
Ich spürte einen harten Kloß im Hals, dann versuchte ich ein Lächeln, was mir nicht gelingen wollte: »Nichts, Hans. Warte doch noch im Haus, ja?«
Er nickte und lief zurück in den Flur.
»Das bringt doch nichts, Friedländer! Sie machen es für ihn nur noch schlimmer. Verabschieden Sie sich jetzt! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Warten Sie!«, rief ich.
»Ja?«
»Ich … ich helfe Ihnen.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt.«
»Ich weiß von einem … ich kann Ihnen … ich …«
Kennel sah mich verärgert an. »Herrgott, Friedländer, Sie klingen wie ein stotternder Schwachkopf!« Dann aber fügte er ruhiger an: »Ich gebe Ihnen noch heute. Wenn ich bis Mitternacht nicht erfahren habe, wie ich Burwitz hochnehmen kann, ist unser Handel geplatzt.«
Er wandte sich ab und nickte den Uniformierten zu.
Sie gingen zurück zu ihrem Wagen.
»Bis Mitternacht!«, rief Kennel, ohne sich umzudrehen. »Tick-tack, tick-tack!«
Am Abend trat ich ins Arcasi, wieder einmal erstaunt darüber, wie gut besucht es jeden Tag war: Armut, Kriegstraumata und Verzweiflung hielten die Berliner nicht davon ab, kräftig zu feiern. Ich fand Artur hinter der Bar und wusste immer noch nicht, was jetzt zu tun war.
Dort stand er, mein Freund, mit dem ich groß geworden war, der Mann, der im Krieg alles verloren hatte, dessen Gesicht in Stücke gesprengt wurde, der nicht daran zerbrochen war, sondern sich dank seines unbändigen Willens neu erfunden hatte.
Er stellte mir eine Molle hin und lächelte mich an.
»Artur?«
»Ja?«
»Hast du eigentlich immer noch diese Sache vor?«
Er sah mich irritiert an, dann winkte er mich zu einem der Separees, wo wir uns setzten.
»Was meinst du?«, fragte er.
»Na, du hast doch vor zwei Wochen angedeutet, Arnie und du, ihr hättet da was am Laufen. Ist das noch so?«
»Ja, warum?«
Ich schluckte: »Weil … Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.«
Artur zuckte mit den Schultern: »Mach dir keine Sorgen. Mir passiert nichts.«
»Wenn du damit nicht aufhörst, schon!«
»Dann ist es eben so. Ich lebe das Leben, das ich leben will. Und wenn ich mal dafür einsitzen sollte, ist das der Preis, den ich dafür zahlen muss.«
»Wirklich?«, fragte ich.
Ob es ihm wirklich nichts ausmachte? Würde er einen Rückschlag nicht sehr viel besser verkraften als Hans?
»Ja. Aber noch ist es nicht so weit.«
»Und wenn das jetzt schiefgeht?«
»Es ist wirklich keine große Sache. Niemand wird verletzt. Und das Haus, um das es geht, liegt so unglaublich gut – ich muss es einfach tun.«
Bei ihm klang immer alles leicht. Da war weder Angst noch Zögern. Alles war nur eine Abfolge von Entscheidungen, die er selbst getroffen hatte.
Nichts sonst.
Ich starrte in mein Bier und fragte, ohne aufzusehen: »Um welches Haus geht es denn?«
Ich spürte seine Blicke und hörte ihn fragen: »Warum interessierst du dich dafür?«
»Nur so.«
»Nur so?«
Immer noch blickte ich ihn nicht an – mir wurde bewusst, dass er wahrscheinlich längst begriffen hatte, dass ich log.
»Vielleicht kann ich ja helfen? Ich hab dir ja schon mal geholfen …«
Die Pause wurde so lang, dass ich schließlich aufblickte: Artur betrachtete mich ohne Regung, ein Eindruck, der sich durch die Gesichtsmaske nur noch verstärkte.
»Was ist los, Carl? Brauchst du Geld?«
Ich nahm die Vorlage dankbar an: »Braucht nicht jeder Geld?«
»Wofür?«
Ich zuckte mit den Schultern: »Ich wollte mir ein Automobil kaufen. Für die Arbeit.«
»Einer meiner Leute kann dich fahren.«
»Aber ich will was Eigenes. Außerdem bin ich kein Kind mehr, das man zur Schule fährt.«
»Ich kann dir Geld geben, Carl!«
»Ich will es mir lieber verdienen.«
»Mit so was?«
Ich schwieg – und wieder sagte lange niemand etwas.
Gerade als ich schon aufgeben wollte, nickte Artur. »Na gut. Meinetwegen. Nächste Woche gehts los. Donnerstag.«
»Und wohin geht es?«
»Friedrichstraße 14.«
Ich nickte: »Danke.«
Am liebsten hätte ich mich noch an Ort und Stelle übergeben, aber ich klammerte mich an mein Bier und war froh, dass ihn jemand rief, weil er sich um den Betrieb kümmern musste. Als er aus der Sichtweite war, schlich ich mich raus wie ein Dieb in der Nacht.
86
Während Artur und ich in die Katastrophe schlitterten, verbrachte Isi einsame Tage in dem Prachtbau in der Victoriastraße, der einst Aldos und ihr gemeinsames Zuhause hatte werden sollen und jetzt nur noch groß, leer und ohne Leben war. Allein das Dienstmädchen huschte durch die Räume, bereitete die Mahlzeiten und zog sich abends zurück in ihre kleine Dachkammer.
Jeden Morgen wartete Isi auf die Post, und wenn sie dann endlich kam, durchforstete sie in aller Eile die Briefe, um anschließend alles achtlos auf den Boden zu werfen, weil nie eine Nachricht von Aldo dabei war. Danach verbrachte sie die Tage in Langeweile, und auch abends hatte sie wenig Lust, sich auswärts zu vergnügen. Dennoch widerstand sie der Versuchung, in Ostpreußen anzurufen, auf dem Landgut der von Torstayns, weil sie sich weder vor Wendell noch vor Victoria die Blöße geben wollte, dass sie nicht wusste, wo ihr Ehemann war.
Dann erreichte sie Anfang August mit der morgendlichen Post ein Brief von Erwin Kern, an den sie sich noch gut erinnerte, weil er bei Aldos erster Soiree einer der wenigen jungen Männer und im ersten Moment recht sympathisch gewesen war. Er war an Aldo adressiert, und sie fragte sich, ob Kern vielleicht nicht doch wusste, wo Aldo sich aufhielt, sodass sie sich am Nachmittag auf den Weg zur Absenderadresse machte, einem kleinen Hotel in Charlottenburg. Bei ihrer Ankunft bemerkte sie rasch, dass das Hotel nicht nur eine Absteige war, sondern möglicherweise sogar stundenweise anmietbar.
Sie beschloss, auf der Straße zu warten.
Zwei Stunden später verließen Kern und sein Freund Hermann Fischer, ebenfalls damaliger Gast bei Aldo, das Haus und eilten so schnell Richtung Augsburger Straße, dass Isi nichts anderes übrig blieb, als laut auf beiden Fingern zu pfeifen – wie ein Straßenjunge. Die beiden drehten sich um, mehr als erstaunt, Isi auf der anderen Straßenseite winken zu sehen.
»Frau von Torstayn!«, sagte Fischer und lüftete kurz seinen Hut. »Das ist ja eine Überraschung!«
Auch Kern begrüßte Isi freundlich und sah sie neugierig an: »Sind Sie wegen uns hier?«
»Wegen meines Mannes.«
»Aldo?«, fragte Fischer. »Was ist mit ihm?«
»Das frage ich mich auch«, antwortete Isi.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Kern.
»Ich dachte, das könnten Sie mir vielleicht sagen«, entgegnete Isi.
Die verblüfften Gesichter der beiden Männer verwandelten sich in misstrauische.
Mit einem Mal war Isi, als hätte sie etwas Falsches gesagt, eine Bemerkung in einer lustigen Runde fallen lassen, bei der plötzlich alle Gespräche verstummten.
»Ist Aldo denn nicht in Berlin?«, fragte Fischer.
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er nicht bei mir ist. Seit zwei Wochen schon nicht mehr.«
»Zwei Wochen?«, staunte Kern.
»Es gab ein paar Schwierigkeiten«, wich Isi aus. »Und jetzt frage ich mich, ob Sie vielleicht wissen, wo er sein könnte?«
Fischer schüttelte den Kopf: »Nein, tut mir leid. Wir sind selbst noch nicht lange in der Stadt und wollten Aldo heute oder morgen unsere Aufwartung machen.«
»Nun, Sie können sich die Mühe sparen. Er ist nicht da.«
Die beiden nickten vorsichtig.
Isi wandte sich mit einem kurzen Gruß wieder ab, als sie Kerns Stimme in ihrem Rücken hörte: »Frau von Torstayn? Ich habe Ihrem Mann einen Brief geschickt. Ist der schon angekommen?«
Isi drehte sich zu den beiden um, die sie lauernd ansahen. Was war denn so wichtig an diesem Brief, dass sie ihn extra erwähnten? Und konnten sie sich nicht denken, dass sie ihn entgegengenommen hatte? Sonst hätte sie ja wohl kaum hergefunden.
Sie lächelte die beiden nur unschuldig an und fragte: »Ein Brief? Was denn für ein Brief?«
Fischer schüttelte den Kopf und murmelte: »Nicht so wichtig.«
Isi nickte und antwortete: »Meine Herren …«
Sie stieg am Nollendorfplatz in eine Kraftdroschke und fuhr auf direktem Weg zurück in die Victoriastraße 5, wo sie den Brief zusammen mit anderen auf der Anrichte fand.
Sie nahm ihn an sich und öffnete ihn.
Darin drei Bogen weißes Papier, der erste überschrieben mit dem Kürzel: O. C.
Darunter eine ganze Reihe von Namen.
Schon der erste ließ sie erschaudern: Hermann Ehrhardt, Anführer der gleichnamigen Marine-Brigade, die während des Kapp-Putsches eine maßgebende Rolle gespielt hatte. Die nachfolgenden waren alphabetisch geordnet. Beim Buchstaben B gleich der nächste Schock: Boysen, Falk. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Hektisch blätterte sie weiter zum Buchstaben T und fand dort zu ihrer Erleichterung keinen Torstayn.
Da steckte sie den Brief ein und verließ das Haus.
Suchte Artur im Arcasi und zeigte ihm den Brief.
»Weißt du, was O. C. bedeutet?«, fragte sie ihn.
»Nein.«
»Falk ist auf der Liste!«, zischte Isi.
Artur nickte nachdenklich: »Er lebt also immer noch. Eins muss man ihm lassen: Er ist schwer umzubringen.«
»Was hat Aldo mit diesen Kerlen zu tun?«, hakte Isi nach.
»Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Sie sind gefährlich.«
»Artur, ich schwöre dir: Wenn du meinen Mann diesen Typen zum Fraß vorgeworfen hast, dann brauchst du gleich ’ne neue Maske!«
»Ich habe gar nichts, Isi. Ich wollte nur einen Kontakt zu Stinnes. Mehr nicht.«
»So einfach ist das nicht! Ohne dich wäre Aldo in diese Kreise nicht reingeraten.«
»Aldo ist erwachsen, in Ordnung? Ich bin nicht verantwortlich für seine Taten!«
Isi packte Artur wütend am Revers seines Anzugs: »So nicht, Freundchen! Aldo ist mein Mann. Und wenn du Scheiße gebaut hast, Artur, dann holst du ihn da jetzt wieder raus. Haben wir uns verstanden?«
Artur atmete tief durch und löste dann Isis Hände von seinem Jackett: »Die beiden wissen, dass du den Brief angenommen hast?«
Isi nickte. »Davon gehe ich aus.«
»Dann kannst du nicht wieder zurück nach Hause.«
Isi sah ihn erst erstaunt, dann erbost an: »Was meinst du damit?«
»Zieh zu Carl.«
»Artur …«, warnte Isi.
Doch der fuhr ihr heftig über den Mund: »Du tust, was ich dir sage!«
Isi schwieg erschrocken – so ernst hatte sie Artur selten erlebt.
»Nimm dir ein paar meiner Leute und hol das Nötigste ab. Den Brief lässt du hier!«
Er stand auf und sprach mit Arnie, der ein paar Minuten später mit Isi und drei anderen zurück in die Victoriastraße fuhr, die wenigen Treppen zum Haus hinaufstieg und erstarrte: Die Tür stand einen Spalt auf.
Vorsichtig lugte Arnie hinein, lauschte.
Sie traten leise ein, stiegen in den ersten Stock hinauf, erreichten den Salon, öffneten auch hier die Tür.
Alles lag still da.
Systematisch durchkämmten Arnies Leute das Haus, aber es war niemand da.
Auch das Dienstmädchen nicht.
Isis Blick fiel auf die Anrichte, auf der die Briefe kreuz und quer lagen: Jemand hatte sie durchsucht.
Da wusste sie, dass sie kein Zuhause mehr hatte.
87
Ich schlafe kaum noch.
Fühle mich zerbrechlich, schreckhaft, gleichzeitig gereizt und unwirsch. Im Glashaus geht man mir aus dem Weg, wundert sich darüber, was dem sonst so ausgeglichenen, freundlichen Carl Friedländer wohl über die Leber gelaufen ist. In den Pausen suche ich die stillen Ecken, in die ich mich wie ein waidwundes Tier zurückziehe, und kehre ich abends nach Hause zurück, fragt mich Hans, was mit mir sei, ob er etwas falsch gemacht habe, obwohl ich mir die größte Mühe gebe, ihm gute Laune vorzuspielen. Aber Kindern kann man nichts vormachen, sie erspüren Stimmungen mit feinen Antennen.
Isi genauso wenig.
Sie fragt: »Carl, was ist denn los?«
Und ich antworte. »Nichts.«
Sie sagt: »Lass mich dir doch helfen!«
Und ich antworte: »Hast du nicht selbst genug Probleme?«
Sie reagiert beleidigt, und das zu Recht.
Dann kommt der Donnerstag, und mir ist so elend, dass ich mich krankmelde und erst aus dem Bett steige, als Hans wieder aus der Schule kommt. Schwerfällig verbringe ich den Tag im Park mit ihm. Er spielt, bis er genug hat und zu mir auf den Schoß klettert.
»Was ist denn mit dir, Papa?«, fragt er.
Ich will nicht darauf antworten, aber es geht mir über die Lippen, bevor ich es verhindern kann: »Ich habe etwas Schlimmes gemacht, Hans.«
»Du?«
»Ja, Hans.«
»Dann musst du es einfach wiedergutmachen!«
Ich nicke und versuche ein Lächeln: »Ja, Hans.«
»Siehst du? Es ist gar nicht so schlimm!«
Ich streichele ihm über den Kopf und denke, wie unglaublich es ist, dass es in seiner Welt, in der ihm so viel Schreckliches widerfahren ist, trotzdem nur Dinge gibt, die man wiedergutmachen kann. Weil Kinder vergessen können. Erwachsene nicht.
Am Abend bringe ich ihn früh zu Bett, dann setze ich mich ins Wohnzimmer und öffne eine Flasche Wein. Isi leistet mir Gesellschaft, obwohl ich wirklich keine will, aber ich sage es ihr nicht.
Wir trinken schweigend und hören Musik.
Es werden ziemlich viele Gläser.
Kurz vor ein Uhr in der Nacht, gerade als die Stimmung im Arcasi ihrem Höhepunkt entgegenstrebt, machen sich Artur und Arnie fertig für einen Ausflug, der sie in die Friedrichstraße führen wird, in ein leer stehendes Haus, dessen Besitzer zwar bankrott, dafür aber sehr gut versichert ist. Unter dem Vorwand, alle Wohnungen renovieren und das Dachgeschoss ausbauen zu wollen, hat er kurzerhand sämtliche Mieter vor die Tür gesetzt, sodass die Immobilie in Berlins Bestlage die einzige dort ist, die nicht genutzt wird.
Artur und Arnie fahren Richtung Innenstadt, halten in der Ferdinandstraße und beobachten die wenigen Passanten, die noch durch die Straßen stromern. Sie wollen über den Hinterhof in den Keller des zu sanierenden Hauses einsteigen und auf gleichem Weg wieder zurückkommen.
Bevor das Haus richtig Feuer fängt, sind sie wieder fort. Keine große Sache. Mittlerweile haben sie reichlich Übung darin, Brände so zu legen, dass man die Brandstiftung nicht nachweisen kann. Sie verzichten komplett auf Brandbeschleuniger und erzielen damit für alle Beteiligten perfekte Ergebnisse.
Kurz vor zwei Uhr ist es endlich ruhig genug.
Beide schmieren sich Schuhcreme ins Gesicht, dann suchen sie ein letztes Mal die Ferdinandstraße nach Passanten ab, steigen aus dem Wagen und im nächsten Moment schon über eine Mauer in den Hinterhof eines Hauses, von dem sie wissen, dass es einen gemeinsamen Keller mit der Friedrichstraße 14 hat.
Dort öffnen sie die Tür mit einem Dietrich, gehen die Treppen hinab in totale Finsternis. Tasten sich an den Wänden entlang, bis sie eine weitere Tür erreichen, die rüber in das andere Haus führt: Sie ist bereits offen.
Wie Schatten schweben sie durch den Bauch des Hauses, finden die Treppe in den Hausflur, huschen hinauf. Auch die nächste Tür ist nicht verschlossen, und nach einem kurzen Zögern schiebt Artur sie leise auf.
Blickt in den Flur.
Alles ist ruhig.
Niemand zu sehen.
Sie schleichen hinein in ein Treppenhaus voller Schatten.
Ich liege auf dem Sofa, starre an die Decke und spüre, wie der Alkohol mir die Gedanken so schnell dreht, dass sich die Schuld etwas weniger schwer anfühlt. Ich habe Artur gesagt, dass ich doch nicht helfen würde, dass ich Skrupel hätte und ein mieses Gefühl. Und gehofft, dass er seinen Plan vielleicht noch einmal überdenkt, aber wie nicht anders zu erwarten hält er daran fest. Offenkundig froh darüber, dass ich ihn nicht begleite.
»Das ist sowieso nichts für dich, Carl«, hat er gesagt und mir auf die Schulter geklopft.
Unwillkürlich fasse ich mir an die Stelle und glaube, dort einen Schmerz zu spüren, aber das ist natürlich Einbildung.
Wenn es doch nur alles Einbildung wäre!
Wenn ich einfach nur mit Hans und Artur und Isi in Frieden leben könnte, ohne Ränke, ohne Lügen, ohne Hinterhalt.
Ohne Verrat.
Ich sehe auf die Uhr: Es ist drei Uhr morgens.
Isi schläft längst.
Draußen ist alles still.
Drinnen ist alles still.
In mir ist alles tot.
Gegen halb vier höre ich benommen das Schlagen von Autotüren, dann hämmert jemand gegen die Tür. Schwerfällig rappele ich mich auf, mache Licht, öffne: Oberkommissar Kennel steht vor mir.
Hinter ihm fünf Uniformierte.
»AUS DEM WEG!«, schreit er wütend und stößt mich zur Seite.
Ich packe ihn an der Schulter, halte ihn fest, aber dann schon fühle ich, wie sich ein Arm um meinen Hals legt und zudrückt. Ich werde zu Boden gerissen, Knie in meinem Rücken.
Kennel trampelt die Stufen hoch.
Wenige Sekunden später höre ich Hans aufkreischen.
Kennel erscheint wieder auf der Treppe, Hans auf dem Arm, der in seinem Schlafanzug strampelt und schreit, was den Kommissar nur noch wütender macht.
»PAPA! PAPA!«
Isi ist gleich hinter ihm und brüllt, als sie die Polizisten auf mir sieht: »CARL! UM GOTTES WILLEN!«
Ich wehre mich mit aller Kraft, aber sie sind wenigstens zu dritt auf mir, sodass ich nur den Kopf heben kann: »HANS! HANS!«
Isi versucht, Kennel festzuhalten, aber der dreht sich zu ihr um und schubst sie auf die Treppen. Schmerzverzerrt greift sie sich in den Rücken: Die Stufen sind spitz und scharf.
Dann bleibt er vor mir stehen und zischt: »Sieh nur hin, Hans! Das ist der Mann, der dich verraten hat! Dem ein Schwerverbrecher wichtiger ist als der eigene Sohn!«
»PAPA! PAPA!«
Hans schreit und weint.
Ich schreie und weine.
»GLAUB IHM NICHT, HANS! GLAUB IHM NICHT!«
»Eines Tages wird er alt genug sein, um zu wissen, was Sie getan haben! Er wird alt genug sein, um zu wissen, wer für sein Schicksal verantwortlich ist!«
Er steigt über mich hinweg.
Eilt hinaus, während Hans wie verrückt schreit: »PAPA! PAPA!«
Die Polizisten drücken mich mitleidlos auf den Boden.
Ich winde mich, versuche, mich zu befreien, aber mir schwinden die Kräfte.
Isi hat sich mittlerweile aufgerappelt und stürzt sich auf die Polizisten. Zusammen kullern sie von mir runter: Endlich bin ich frei.
Aber es ist zu spät. Kennel ist weg.
Hans ist weg.
Ich starre in die Nacht.
88
Sie ließen uns nicht einmal eintreten.
Offenkundig hatten sie bereits mit Isi und mir gerechnet, denn als wir aufs Polizeirevier Fünfzig zustürmten, warteten dort bereits vier Beamte vor der Tür, die Schlagstöcke in den Händen. Da half weder Fluchen noch Schreien noch die wütende Aufforderung, Oberkommissar Kennel herauszuholen. Sie standen da wie eine blaue Mauer. Als der Morgen graute, wurden wir ein letztes Mal von ihnen zurück auf die Straße gestoßen und gaben auf.
Wir kehrten zurück in die Voigtstraße und klopften Artur aus dem Bett, der uns gleich ansah, dass etwas passiert sein musste, und hineinbat. Im Gegensatz zu unserer Bleibe oder der von Isi und Aldo wirkte Arturs Haus so, als wäre er gerade eingezogen oder machte sich bereit für einen bald anstehenden Auszug. Alles war provisorisch, spärlich eingerichtet. Keine Bilder, keine Vorhänge, weiße Wände, nackte Glühbirnen an der Decke. Eine Art Heimstatt, zweckdienlich, aber nicht gemacht, um zu einem Zuhause zu werden, einem Ort, an dem man Wurzeln schlagen könnte.
Bei einem sehr starken Kaffee erzählte ich alles, was ich besser nicht verschwiegen hätte, und ich nahm deutlich wahr, wie es dabei in Artur brodelte. Schließlich endete mein Bericht mit dem, was letztlich zu dem morgendlichen Überfall geführt hatte: Ich hatte Kennel eine falsche Adresse genannt, und er hatte ganz offensichtlich dort mit seinen Leuten auf Artur gewartet, bis ihn die Meldung erreichte, dass es in der Friedrichstraße brannte.
Artur seufzte.
Dann sagte er: »Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Hätte es etwas an der Situation geändert?«, fragte ich zurück.
»Ja.«
Erneut begann ich zu weinen und sagte: »Klar, weil du Kennel umgebracht hättest. Aber damit wollte ich nicht leben!«
Artur sah mich ruhig an: »So schätzt du mich ein?«
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht: »Du würdest mir immer helfen. So wie ich dir immer helfen würde. Oder Isi. Egal, was ist!«
»Und du meinst, das schließt bei mir Mord mit ein?«
»Nicht?!«, fragte ich gereizt. »Seit wann so zimperlich?«
»Carl!«, warnte er.
Ich zog mir den Rotz hoch und antwortete: »Tut mir leid, Artur. Ich bin so … Ich kann einfach nicht mehr! Du und Isi seid alles für mich. Das wisst ihr hoffentlich.«
Isi nahm mich in den Arm und küsste meine Wangen: »Wir drei, Carl! Nur wir drei! So war es schon immer, so wird es immer sein!«
Artur nickte: »Wenn es sein müsste, würde ich auch jemanden für dich aus dem Weg räumen. Der Punkt ist nur: Bei Kennel wäre das gar nicht nötig gewesen!«
Ich runzelte verwundert die Stirn: »Nicht?«
»Nein. Wir hätten nur noch etwas Zeit schinden müssen. Jetzt ist die ganze Geschichte sehr viel schwieriger geworden.«
»Kannst du mir helfen, Artur? Hans kann am allerwenigsten dafür.«
Er stand auf und verlangte am Telefon, mit Anwalt Fromm verbunden zu werden. Eine halbe Ewigkeit später hatte der endlich den Anruf entgegengenommen, und obwohl ich Fromms Beschwerden über die unchristlich frühe Zeit durch den ganzen Raum hören konnte, wusste ich, dass er Arturs Bitte Folge leisten würde.
Und so war es auch.
Eine Stunde später stand er geschniegelt und gestriegelt vor uns und machte sich kurze Notizen zu dem, was ich ihm mitteilte.
Dann sagte er: »Als Erstes werde ich nachfragen, wo sie Hans hingebracht haben. Dann müssen wir über unsere Optionen nachdenken.«
»Ich könnte ihn adoptieren!«, rief ich. »Wollte ich sowieso!«
Fromm schüttelte den Kopf: »Das kannst du vergessen, Carl. Für eine Adoption musst du mindestens fünfzig Jahre alt sein. So will es das Gesetz.«
»Dann nehm ich ihn eben in Pflege!«, beharrte ich.
»Das könnte ein Problem werden. Kennel wird den Behörden gesagt haben, dass du polizeibekannt bist und der Junge psychisch auffällig. Die werden Hans nicht rausrücken. Nicht einfach so.«
»Aber irgendwas müssen wir doch tun?«, rief ich.
Anwalt Fromm lehnte sich zurück und ließ sein Monokel wirkungsvoll in die Hand plumpsen, wie so oft, wenn er entweder einen Trumpf zog oder etwas Illegales vorschlug.
»Also, Heime sind keine Gefängnisse. Da kommt es oft vor, dass Kinder verschwinden …«
»Eine Entführung?«, fragte ich.
»Ach, na ja, das klingt jetzt aber dramatisch. Sagen wir: ein Umzug in eine andere Stadt. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass kein Hahn nach diesen Kindern kräht.«
»Du müsstest dann woanders neu anfangen, Carl«, sagte Artur. »Willst du das?«
Ich schluckte.
Nicht nur, weil ich dann Artur und Isi verlassen müsste, sondern auch meine Anstellung bei der UFA verlöre.
»Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben?«, wich ich aus.
»Vielleicht«, antwortete Artur. »Aber erst müssen wir wissen, wo Hans ist.«
Fromm nickte, erhob sich wie auf ein Stichwort, küsste Isi galant die Hand und empfahl sich. Die nächsten Tage verbrachte er am Telefon, auf dem Polizeirevier Fünfzig, bei diversen Behörden. Doch das Ergebnis war gelinde gesagt ernüchternd: Niemand konnte oder wollte Auskunft geben, wo Hans sich befand. Offenbar hatte Kennel bereits vorausgeahnt, dass wir Hans nicht so einfach aufgeben würden, und den Jungen nicht in Berlin untergebracht, denn auch diverses Nachforschen von Arturs Männern in den Kinderheimen der Stadt brachte kein Ergebnis.
Hans war wie vom Erdboden verschluckt, und entgegen Arturs Beteuerungen glaubte ich nicht daran, dass ich ihn noch einmal wiedersehen würde. Möglicherweise hatte Kennel bereits dafür gesorgt, dass er weit weg von Berlin in Pflege gegeben worden war. Wie könnte ich ihn da noch finden?
Dann, praktisch aus dem Nichts, kam Lubitsch.
Wir hatten gerade die Dreharbeiten zu Das Weib des Pharaos beendet, als er eines Mittags durch die Kulissen des Glashauses schlich und mich irgendwann hinter einer Tür entdeckte, wo ich mein Butterbrot aß und vor mich hin starrte.
»Hier bist du also!«, rief er verwundert.
Ich stand auf: »Herr Lubitsch?«
Er gab mir die Hand und antwortete: »Ernst.«
»Was kann ich denn für Sie … für dich tun?«, fragte ich.
»Nicht du für mich, sondern ich für dich!«
Er trat durch die Tür und schloss sie hinter sich. Jetzt standen wir nahe beieinander, hinter Kulissenwänden, zwischen Kabeln und Gerät, während man von draußen nichts als den Salon eines Herzogs sehen konnte.
»Sicher ist dir nicht entgangen, dass Paul und ich schon länger mit Hollywood liebäugeln …«
»Natürlich nicht.«
»Nun, wir werden im Dezember hinfahren und Das Weib des Pharao dort präsentieren. Und auch die Premiere soll in Amerika stattfinden.«
»Das ist doch toll, oder?«
»Ja, alles dort ist noch viel größer als hier. Und vor allem: Man erreicht die ganze Welt. Aber das ist noch nicht alles … Was ich dir jetzt sage, bleibt unter uns, ja?«
Ich nickte.
»Hast du je von United Artist gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ist vor zwei Jahren von Douglas Fairbanks, Mary Pickford und Charlie Chaplin gegründet worden. Und was soll ich sagen: Mary Pickford will mich!«
Ich machte ein erstauntes Gesicht: »Das ist ja großartig!«
»Ja, ist es. Aber ich werde nicht alleine hingehen. Emil Jannings und Pola Negri werden mit nach Amerika kommen. Theodor Sparkuhl und Hanns Kräly auch. Paul Davidson eh. Und ich möchte, dass du uns begleitest.«
»Ich?!«
»Ja, Carl. Du hast Talent. Und alle mögen dich. Ich mag dich.«
»Vielen Dank.«
»Und? Was denkst du? Wäre Hollywood etwas für dich?«
Ich zögerte mit der Antwort.
»Was fürchtest du?«, fragte Lubitsch.
Da erzählte ich ihm, was vorgefallen war.
Und dass ich Hans nicht einfach aufgeben wollte, auch wenn ich fürchtete, ihn nie wiederzusehen.
Lubitsch hörte sich alles in Ruhe an und antwortete dann: »Siehst du, deswegen mag dich jeder, Carl. In einem Geschäft voller Windbeutel bist du ein guter Mensch. Pass auf, folgender Vorschlag: Such den Jungen! Und wenn es nichts wird, kommst du mit. Erst mal für ein paar Wochen. Na ja, vielleicht auch ein paar Monate. Wenn es sich falsch für dich anfühlt, kannst du immer noch zurück. Einverstanden?«
Ich nickte: »Einverstanden.«
Wieder schüttelten wir die Hände.
Lubitsch zündete sich eine seiner dicken Zigarren an und paffte mir fröhlich eine Wolke ins Gesicht: »Also dann: die Chance deines Lebens! Nicht mehr, nicht weniger!«
Dann trat er durch die Tür nach draußen und spazierte gut gelaunt qualmend durch den Salon des Herzogs.
89
Er hatte gewusst, dass er sterben würde, auch weil sie es im Januar 1920 schon einmal versucht hatten. Die Kugel, die ihn töten sollte, war schon lange vorher gegossen worden, genau genommen am 11. November 1918, als ihn Ludendorff, Hindenburg und all die anderen, die den Krieg zu verantworten hatten, auf diese Waldlichtung von Compiègne geschickt hatten, um dort den Waffenstillstand zu unterzeichnen. Seit diesem Moment war Matthias Erzberger derjenige, der die Bedingungen zu verantworten hatte. Der den vermeintlichen »Schandfrieden« beschlossen und ein ganzes Volk damit verraten und gedemütigt hatte.
Der Mann, der kein Recht hatte weiterzuleben.
Ich kannte mich aus mit der Macht der Lüge, denn ich hatte unzählige Falschmeldungen produziert während des Kriegs, aber keine meiner Lügen war auch nur annähernd so groß wie die, der Matthias Erzberger zum Opfer fiel.
Am 26. August 1921 setzten die ehemaligen Marineoffiziere Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz dem Leben Erzbergers ein Ende, als dieser in Bad Griesbach spazieren ging. Schossen sechs Mal auf ihn, um ihm dann, dem Schwerverletzten, der eine Böschung herabgefallen war und sich zu retten suchte, nachzugehen und noch zwei weitere Male in den Kopf zu feuern. Seinen Parteifreund Carl Diez verletzten sie schwer, aber ihn ließen sie am Leben.
Obwohl die Nachricht niemanden wirklich überraschte, war sie doch ein Schock. Größer noch als zuletzt die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner.
Denn plötzlich tauchte ein Gerücht auf: dass die Mörder keine rechtsnationalen Einzeltäter waren. Nicht wie bei Eisner. Plötzlich munkelte man von einer Organisation, die alle Rechten miteinander verband, die im Untergrund aufgebaut worden war, gegründet und geleitet von Hermann Ehrhardt, ein Geheimbund als Nachfolge seiner verbotenen Marine-Brigade. Benannt nach einem Namen aus einem der falschen Pässe, die ihm der Münchner Polizeipräsident höchstselbst hatte ausstellen lassen: Consul Hugo von Eschwege.
Organisation Consul.
O. C.
Nur wer alles Teil dieser Organisation war und wie groß sie war, das wusste man nicht.
Noch nicht.
Der Mord jedenfalls brachte alles in Bewegung.
Auch für Isi.
Die Attentäter hatten sich nicht gerade Mühe gegeben, ihre Identität zu verschleiern, sodass bald nach dem Mord namentlich und steckbrieflich nach ihnen gefahndet wurde, erfolglos, wie sich herausstellen sollte, denn der Anschlag wie auch die Flucht ins Ausland waren gut geplant gewesen.
Viel brisanter als die Identität der Mörder jedoch war die Liste, auf der sie standen und die Isi in ihren Besitz gebracht hatte. Hatte für die Mitglieder der Organisation Consul schon vorher ein großes Interesse bestanden, ihrer wieder habhaft zu werden, so fühlten sie nach dem Mord an Erzberger die dringende Notwendigkeit, sie Isi wieder abzunehmen, denn keiner der anderen Männer auf der Liste hatte Lust, sich den Ermittlungen der Behörden auszusetzen.
So viel war uns allen klar.
Da erhielt Isi einen weiteren Brief.
Diesmal von Wendell von Torstayn.
Aldos Vater.
Erzberger lag noch nicht unter der Erde, als des Morgens ein Kurier an die Tür klopfte. Ich öffnete ihm, erstaunt darüber, einen Mann in Livree zu sehen. Wie sich später herausstellen sollte, war er ein Diener Wendells und hatte diesen nach Berlin begleitet. Und nicht nur ihn.
Der Mann bat um prompte Antwort, sodass Isi den Brief direkt öffnete und eine förmliche Einladung in ihr eigenes Haus darin fand, das Wendell offenbar bezogen hatte. Die von Torstayns waren wie die Boysens Gutsherrn alten Schlags, die niemals fragten, sondern sich einfach nahmen, was sie als das Ihrige ansahen.
Während also Wendells Diener vor der Haustür auf Antwort wartete und Isi fassungslos ob der Dreistigkeit auf die Einladung starrte, lief ich rüber zu Artur, denn in Fällen wie diesen wusste er am besten, was zu tun war. Er kam zu uns, studierte die Aufforderung, dachte eine Weile schweigend nach und nickte dann: »Nimm an!«
»Ich soll mich von denen in mein eigenes Haus zitieren lassen?«, fragte Isi.
»Keine Sorge, du gehst nicht allein.«
»Ich will die nicht sehen!«, zischte Isi.
»Wir sollten wissen, was sie wollen«, antwortete Artur.
»Ist das nicht offensichtlich? Sie wollen die Liste!«, warf ich ein.
»Die Torstayns stehen aber nicht drauf«, sagte Isi.
»Sie gehören irgendwie dazu. Vielleicht geben sie Geld. Wie dem auch sei: Willst du nicht wissen, was mit Aldo ist?«
Isi nickte.
»Dann sollten wir hören, was sie zu sagen haben.«
»Vielleicht steckt Aldo gar nicht mit drin«, gab Isi schwach zurück. Ihr war anzusehen, dass sie nicht einmal selbst daran glaubte.
»Wir haben die Liste. Vielleicht können wir einen Handel erzwingen.«
Sie nickte.
»Willst du Aldo überhaupt noch?«, fragte ich vorsichtig.
Sie schwieg vielsagend.
Am Abend kreuzten zuerst Arturs Männer in der Victoriastraße auf.
In großer Besetzung.
Wendells Diener hatte ihnen die Tür geöffnet, verblüfft über ein Dutzend, das an ihm vorbeimarschierte und jedes Zimmer, jede Kammer, jeden Flur absuchte und auf jedem Stockwerk Position einnahm, während zwei von ihnen vor dem Hauseingang stehen blieben und die Tür bewachten.
Dann erst fuhren Artur, Isi und ich vor, stiegen hinauf in den ersten Stock und betraten den Salon.
Wendell und Victoria saßen in zwei bequemen Sesseln, nippten an einem Portwein und erhoben sich, als wir eintraten. Beide waren festlich gekleidet, Wendell im Frack, Victoria in einem strahlend weißen Seidenkleid, geschmückt mit Diamanten und mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen.
»Luise!«, rief Wendell gut gelaunt. »Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.«
Er kam ihr entgegen und küsste ihr formvollendet die Hand.
Victoria stand mittlerweile neben ihm und nickte huldvoll. Wendell begrüßte auch uns mit einem Handschlag und wies dann mit einer Geste zu der Sitzgruppe, aus der sie sich erhoben hatten.
»Lassen Sie uns doch einen Aperitif nehmen. Sie bleiben doch zum Essen?«
»Nicht, wenn es sich verhindern lässt«, pampte Isi.
Victorias Gesicht blieb völlig unbewegt, aber ihre Augen funkelten kalt. Wendell dagegen nahm die Unhöflichkeit sportlich und lächelte: »Warum so übellaunig? Kommen Sie, ein kleiner Port wird die Stimmung lockern.«
Er schenkte jedem von uns ein Glas ein und stellte es auf den Tisch – niemand von uns trank.
»Vielleicht kommen wir gleich zum Punkt!«, forderte Artur und lehnte sich zurück.
Victoria lächelte ihren Mann an: »Er hat recht, Liebster. Was nutzt die Etikette, wenn man sie nicht kennt?«
»Sie wollen die Liste, nehme ich an?«, fragte Artur kühl.
»Welche Liste?«, fragte Wendell überrascht.
»Warum lassen wir nicht die Spielchen? Die Liste mit den Mitgliedern der Organisation Consul. Die Aldo geschickt bekommen hat.«
Wendell starrte ihn kalt an: »Ach das. Sehr bedauerlich. Aldo ist so beeinflussbar. Behalten Sie die Liste ruhig. Ich bin nicht daran interessiert.«
Ich denke, wir waren alle drei überrascht.
Jedenfalls blickten wir uns völlig verdattert an.
»Nicht dass ich die Ziele der Vereinigung nicht unterstützenswert fände«, fügte Wendell an, »aber ich habe Aldo geraten, sich da rauszuhalten. Das ist doch alles sehr primitiv. Jedenfalls für Menschen wie uns.«
Er wirkte nicht, als ob er ablenken wollte.
Er meinte jedes Wort davon, nur: Weswegen waren wir dann hier?
Wendell schlug die Beine übereinander und sagte: »Nun, Fräulein Beese …«
»Frau von Torstayn!«, korrigierte Isi, um mit einem boshaften Lächeln anzufügen: »So viel Etikette muss doch sein, lieber Schwiegerpapa!«
Wendell betrachtete seufzend seine Fingernägel und fuhr dann ungerührt fort: »Wie auch immer. Liebe Luise, Ihnen ist sicher nicht entgangen, dass Sie in meiner Familie nicht willkommen sind. Zu allem Unglück ist mein einziger Sohn ein großer Kindskopf und hat die ganze Angelegenheit ein wenig kompliziert gemacht, sodass wir gezwungen sind, eine einvernehmliche Lösung für alle zu finden.«
»Wo ist Aldo?«, fragte Isi.
Wendell hob abwehrend die Hand. »Später, Luise, später. Zunächst wollen wir versuchen, einen Ausweg zu finden.«
»Einen Ausweg für was?«, fragte Isi.
Wendell sah sie mitleidig an: »Luise … Sie gehören einfach nicht zu uns. Das muss Ihnen doch klar sein.«
»Ich gehöre nicht zu Ihnen. Oder zu Ihrer Frau«, gab Isi zurück. »Zu Aldo schon!«
»Machen wir uns doch nichts vor: Sie sind eine einfache Frau aus dem Volk. Ich kann mir denken, dass es Sie mit großem Stolz erfüllt, sich als eine von Torstayn zu geben, aber die Wahrheit ist: Sie sind keine. Sie werden auch nie eine sein. Warum also nicht beenden, was niemals hätte beginnen dürfen?«
»Ich denke, das entscheidest nicht du, Wendell«, gab Isi kühl zurück. »Du bist hier in Berlin, nicht auf deinem Gut in Ostpreußen. Hier gilt das Gesetz. Und das besagt, dass ich mit deinem Sohn Aldo rechtmäßig verheiratet bin.«
Wendell schwieg und gab sich äußerlich vollkommen unbewegt. Auch wenn ihm Isis provozierendes Duzen ganz sicher einen erhöhten Puls verursachte.
Dann aber schwenkte er um und fragte ebenso vertraut: »Was verlangst du?«
»Meinen Ehemann.«
»Das ist doch Unsinn. Eure Ehe ist am Ende. Und du weißt das auch!«
»Dann soll er mir das selbst sagen!«, fauchte Isi.
Wendell nickte: »Das wird er. Nichtsdestoweniger braucht er deine Zustimmung zu einer Annullierung. Und die wollen wir dir vergolden …«
Wenn er Isi gekannt hätte, hätte er gewusst, dass das Gespräch mit einer Bemerkung wie dieser ab jetzt keinen konstruktiven Verlauf mehr nehmen konnte.
»Du willst mich kaufen? Wie eine Hure?«, fragte Isi kalt.
Wendell öffnete den Mund, um zu antworten, aber Victoria kam ihm zuvor.
»Genau so, liebe Luise. Da du nur wenig von Etikette verstehst, halten wir uns doch alle nicht mehr mit Höflichkeiten auf, ja? Du hast meinen Sohn verführt, um an sein Geld zu kommen. Das kann man drehen und wenden, wie man will, aber es ist und bleibt: Prostitution. Und deswegen werden wir dich bezahlen, damit Aldo wieder der sein kann, der er immer war: ein von Torstayn. Nachfolger meines geliebten Ehemannes.«
Isi lächelte kalt: »Aber, Victoria, wie kannst gerade du über Prostitution urteilen, wenn deine einzige Lebensleistung die war, einen Gutsherrn zu heiraten, um für die Nachzucht zu sorgen? Das Einzige, was dich von einer gewöhnlichen Hure unterscheidet, ist der Preis.«
Victoria war blass geworden vor Hass, mühte sich, die Fassung zu wahren, warf dann aber doch ihr Portweinglas nach Isi. Sie verfehlte sie, obwohl sie ihr direkt gegenübersaß.
»Sie kriegt nichts, Wendell!«, schrie sie. »Eher töte ich uns alle, bevor sie auch nur einen Pfennig von uns bekommt!«
Wendell räusperte sich, ebenfalls um Haltung bemüht, dann antwortete er: »Luise, sei vernünftig. Wir haben die Möglichkeiten, diese Angelegenheit auch anders zu beenden …«
Die Warnung fuhr wie ein eisiger Luftzug durch den Raum.
Artur beugte sich vor und sagte: »Lassen Sie mich eines klarstellen, Wendell. Sollte Isi etwas geschehen, dann wird die Welt nicht groß genug sein, um sich vor mir zu verstecken. Ihre Frau, Ihr Sohn, Ihre Töchter und Ihre Enkel. Niemand entkommt mir. Die von Torstayns wird es danach nicht mehr geben. Habe ich mich da klar ausgedrückt?«
Bei jedem anderen hätte Wendell die Drohung weggelächelt, sie wahrscheinlich sogar amüsant gefunden, aber Artur setzte ihm sichtlich zu. Er betrachtete ihn mit seiner Maske wie einen Geist, einen Racheengel, der ihn auch noch in seinen Träumen finden würde.
»Es muss ja nicht so kommen«, beeilte er sich zu sagen. »Wir sind doch alle vernünftige Menschen.«
»Was bieten Sie?«, fragte Artur.
»Was möchtest du denn, Luise?«, fragte Wendell.
»Ich möchte meinen Mann zurück.«
Victoria lächelte kalt: »Aldo wird eine andere heiraten.«
»Was soll das heißen?«, fauchte Isi.
»Er hat die Zeit bei uns genutzt, um darüber nachzudenken, was das Beste für ihn ist. Und die ungeheure Peinlichkeit, in die du ihn in Wien gebracht hast, hat ihn schließlich erkennen lassen, wo er hingehört. Zu uns!«
»Die ungeheure Peinlichkeit?!«
»Nun, mit deinen überzogenen Forderungen, deinem aufwendigen Lebensstil und deinen vielen kostspieligen Ideen hast du Aldo in eine unmögliche Situation gebracht. Ausgerechnet du, die angebliche Revolutionärin! Aldo hat endlich erkannt, was für eine Lüge eure Ehe ist.«
Diesmal war es Isi, die blass geworden war. Der Angriff war so falsch, so verdreht, dass es ihr tatsächlich die Sprache verschlagen hatte.
»Der Einzige, der einen ausschweifenden Lebensstil pflegt, ist Ihr Sohn!«, gab ich sauer zurück. »Ihr Vorwurf ist geradezu grotesk!«
»Das spielt keine Rolle mehr«, gab Victoria kühl zurück. »Aldo hat seinen Fehler erkannt und ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt. Nur das zählt!«
»Dann soll er mir das selbst sagen!«, sagte Isi wieder einigermaßen gefasst.
»Natürlich!«, antwortete Victoria und nickte einem Diener zu. »Er ist hier und wird dir auch gleich seine neue Verlobte vorstellen!«
»Seine Verlobte?!«, rief Isi empört.
»Eine Dame, die gut zu uns passt! Eine, die eine stolze Mitgift in die Ehe einbringt, anstatt sich wie du durchzuschnorren.«
Der Diener war aus dem Salon verschwunden. Nun öffnete er die Tür und ließ Aldo und seiner neuen Braut den Vortritt.
Wir fuhren fast gleichzeitig hoch und starrten sie an.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so überrascht, um nicht zu sagen geschockt, gewesen zu sein wie in diesem Moment: Die Braut an Aldos Arm war Helene Boysen.
Falks garstige kleine Schwester.
Die Verbindung war offensichtlich, allein, wir hatten sie nicht gesehen. Aldo hatte Kontakt zur Organisation Consul, deren Mitglied Falk war. Und dass sich die alten Familien in Ost- und Westpreußen kannten, war allgemein bekannt, auch wenn die Boysens nicht zum Hochadel gehörten. Aber sie waren fast so wohlhabend wie die von Torstayns. Zumindest gewesen, denn Westpreußen war ja jetzt Polen.
Helene jedenfalls genoss ihren Auftritt.
Sie präsentierte ein ähnliches Kleid wie Victoria, war üppig mit Schmuck behängt und trug noch dieselben Korkenzieherlocken, auf die sie schon in Thorn so furchtbar stolz gewesen war. Aldo sah daneben blass und krank aus und konnte den Blicken Isis kaum standhalten. Vielleicht wäre es Isi bei einer anderen Frau gelungen, Haltung zu bewahren, aber ausgerechnet Helene Boysen … Eine Träne kullerte ihr über die Wange, noch bevor die beiden an uns herangetreten waren.
»Ich denke, ich muss niemanden vorstellen«, sagte Wendell genüsslich. »Wenn ich richtig informiert bin, kennen Sie sich schon lange.«
»Wie kannst du mir das antun, Aldo?«, fragte Isi mit rauer Stimme.
Aldo antwortete nicht, dafür sein Vater: »Du siehst, Luise, alles ist jetzt so, wie es von Anfang an hätte sein sollen. Wir jedenfalls freuen uns sehr über unsere neue Tochter und wünschen dem glücklichen Paar nur das Beste. Doch auch du, Luise, sollst nicht leer ausgehen. Wir dachten da an eine jährliche Apanage, die dir ein vernünftiges Leben sichern wird. Natürlich nicht annähernd so fürstlich wie das, das du mit Aldo hattest, aber das wäre ja nun auch wirklich nicht angemessen. Dennoch wird es genügen, dass du dir, in gewissen Grenzen, keine Sorgen machen musst.«
Isi hatte offenkundig kaum zugehört, sondern fixierte ihren Ehemann.
»Aldo?«, fragte sie.
Der schluckte und antwortete nur: »Es ist besser so, Isi.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast?«, fragte Isi.
Helene lächelte sie falsch an: »Jetzt sei nicht dumm, Isi. Nimm die Apanage!«
Isi sah sie kurz an, dann wieder Aldo: »Liebst du sie?«
Da Aldo mit der Antwort zögerte, sprang Helene ein: »Aber natürlich tut er das! Sieh uns doch nur an: Alle finden, dass wir ein Traumpaar sind. Wirklich alle!«
Schweigen fiel wie ein Leichentuch über unsere Köpfe.
Niemand rührte sich.
Isi sah nur Aldo an, während alle anderen die Blicke wandern ließen.
Schließlich reckte Isi das Kinn und sagte: »Ich werde mich weder scheiden lassen noch einer Annullierung zustimmen!«
Die von Torstayns und auch Helene schienen aufrichtig überrascht, Artur und ich dagegen nicht.
»Jetzt sei doch vernünftig!«, mahnte Wendell. »Es ist für jeden nur von Vorteil!«
Isi sah Aldo an und sagte: »Wenn du zu mir gekommen wärst und mich um die Scheidung gebeten hättest, wenn du zu mir gekommen wärst und mir gesagt hättest, dass du mich nicht mehr liebst, Aldo, dann hätten wir uns scheiden lassen können, und wir wären trotzdem Freunde geblieben. Aber jetzt …«
Sie machte eine Pause.
Sah erst ihn, dann Helene, dann Wendell und schließlich Victoria an.
Dann sagte sie kalt: »Ihr wollt Krieg? Ihr sollt ihn bekommen!«
»Isi, bitte!«, flehte Aldo.
»Genug!«
»Wie du willst«, schnappte da Helene. »Am Ende werde ich gewinnen. Weil wir Boysens immer gewinnen. Du solltest das eigentlich wissen.«
Isi nickte uns kurz zu und antwortete: »Leb wohl. Und ich gratuliere zu deiner Braut: Ihr habt einander verdient!«
Ohne weitere Worte folgten wir Isi nach draußen.
Setzten uns in den Wagen.
Fuhren los.
Dann erst brach sie weinend zusammen, und wir konnten nichts weiter tun, als sie zu trösten.
90
Es machte wenig Sinn, zu versuchen, Isi davon zu überzeugen, mit Aldo und den von Torstayns abzuschließen, die ganze Geschichte hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Oder gar die Apanage zu nehmen und sie in ihr Büro zu investieren, um damit Gutes zu tun. Aldos unsägliche Feigheit, Helenes dummdreiste Frechheit und die beispiellose Arroganz Wendells und Victorias hatten sie herausgefordert: Sie würde allen Beteiligten das Leben zur Hölle machen.
Sie begann damit, dass sie die geheime Liste der Staatsanwaltschaft übergab, die daraufhin Dutzende Mitglieder der Organisation Consul festnahm, jedenfalls die, derer sie habhaft werden konnte. Falk Boysen war nicht darunter, was uns vermuten ließ, dass er sich noch im Osten, möglicherweise in Polen, aufhielt. Auch dort hatte der Geheimbund diverse Aufstände angezettelt und war dauerhaft in Kämpfe verwickelt.
Bald schon jubilierten die Zeitungen, dass O. C. ausgehoben worden war, vernichtet, nicht mehr existent, übersahen aber, dass viele der Festgenommenen wieder freigelassen wurden: aus Mangel an Beweisen.
O. C. war nicht tot.
Denn die Versprengten fanden im Verborgenen wieder zueinander.
Und während die Rechten sich formierten, suchten wir weiter nach Hans.
Und fanden ihn nicht.
Der September verging, und ich hätte Kennel umbringen können. Leider war er für mich genauso unerreichbar wie Hans.
Dann aber stand Artur eines Tages vor meiner Tür.
Lächelte und sagte: »Komm, wir holen uns den Jungen.«
Erfreut rief ich: »Du weißt, wo Hans ist?«
Er schüttelte den Kopf: »Nein.«
»Und wo gehen wir dann hin?«
»Auf eine Hochzeit.«
Ich war ziemlich verwirrt, was Artur sichtlich amüsierte. Er zog mich am Arm und schubste mich in sein Auto. Es war ein strahlender Oktobertag, man hätte sich für eine Hochzeit keinen schöneren wünschen können. Die Sonne wärmte die Häuserwände, das Blau des Himmels spannte sich über die ganze Stadt und ließ alle, die den Blick nach oben wandten, vergessen, in welcher Misere sie steckten. Der Krieg war vor knapp drei Jahren zu Ende gegangen, doch nur, um von einem anderen Krieg abgelöst zu werden: ohne Front, ohne Waffen, ohne Schreie, aber mit Hunger, Krankheit und einem leisen Sterben der Hoffnung.
Zu meiner Überraschung querten wir die Schillingbrücke: Die St.-Thomas-Kirche erhob sich vor uns. Gerade einmal ein Jahr war es her, dass Isi und Aldo dort geheiratet hatten. Wie alles andere, was seit meiner Ankunft in Berlin passiert war, schien das unendlich lange her zu sein. Was mochte mit Phillip Curecken geschehen sein? Was mit seiner Mutter Elisabeth? Heimlich schielte ich zu Artur, der souverän den Wagen steuerte: Wer fragte, sollte auch die Antwort aushalten können. Schnell blickte ich wieder nach vorne und blieb still.
Wir umfuhren den Mariannenplatz und erreichten die Muskauer Straße, bogen links ein und hielten vor einem Lokal mit dem etwas seltsamen Namen Lazarus. Wir stiegen aus.
»Willst du mir nicht endlich sagen, was wir hier machen?«
»Dem Brautpaar gratulieren«, antwortete Artur knapp.
»Wer heiratet denn?«
Artur sah mich an und grinste: »Komm!«
Wir traten in ein spartanisch eingerichtetes Gasthaus, an dessen Tischen ein paar verstreute Besucher saßen, vor allem Familien mit Kindern, die nicht sehr appetitlich aussehendes Essen zu sich nahmen und Wasser tranken. Artur fragte nach der Hochzeit. Der Wirt nickte in Richtung des rückwärtigen Teils des Hauses, aus dem deutlich Stimmengewirr und Gelächter zu hören waren. Offenbar gab es dort einen Saal, den man vom übrigen Betrieb abgetrennt hatte. Aus einer Tür sah man Kellnerinnen mit leeren oder vollen Tellern hin und her huschen.
Wir näherten uns und konnten schließlich in den Raum blicken, der mit vielleicht hundert Gästen rappelvoll war. Gleich vorn an der Festtafel das Brautpaar: Oberkommissar Kennel und Anna. Daneben ein Bischof, ein Pfarrer sowie weitere Würdenträger der Gemeinde mit ihren Frauen. Im Saal einige mir bekannte Polizisten, natürlich ohne Uniform. Ich nahm an, dass Kennel mehr oder minder das ganze Polizeirevier Fünfzig zu seiner Hochzeit eingeladen hatte. Ich glaube, es war das trockenste Fest, das ich je gesehen habe, denn Alkohol wurde nicht ausgeschenkt, was den Gästen aber nichts auszumachen schien.
Artur suchte Kennels Blick, doch Anna entdeckte uns zuerst und stupste ihren Mann dezent an. Kennels Miene verfinsterte sich innerhalb eines Wimpernschlages – dann stand er auf und kam uns entgegen, gleich hinter ihm Anna. Niemand sonst schien uns zu bemerken, die Gäste konzentrierten sich auf ihr Essen, das deutlich besser aussah als jenes, was draußen serviert wurde.
Kennel drängte uns aus der Tür hinaus in den Gastraum des Lazarus und fauchte: »Sie sind hier nicht willkommen!«
»Aber, Herr Oberkommissar, wir wollten doch nur gratulieren!«, sagte Artur unschuldig.
»Verschwinden Sie!«
»Aber nicht, ohne Ihnen unsere Aufwartung gemacht zu haben.«
»Hauen Sie ab, Mann! Oder ich lasse Sie rauswerfen!«
Artur nickte: »Sie sind immer noch sauer wegen damals, oder? Wissen Sie, es ist nicht gut, Hass immer weiter mit sich zu tragen. Ich möchte daher mit Ihnen ein neues Kapitel aufschlagen: Lassen Sie uns Freunde sein!«
Kennel sah Artur giftig an: »Sagen Sie, Burwitz, sind Sie besoffen? Verschwinden Sie! Sofort! Oder ich hole meine Leute!«
Artur verzog abschätzig den Mund: »Also, das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun …«
»Das reicht jetzt!«, fluchte Kennel und wandte sich ab, um seine Kollegen zu rufen.
Artur hielt ihn am Arm und sagte: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Kennel.«
Kennel wandte sich wieder um.
Und dann tat Artur etwas, das mir den Mund aufklappen ließ.
Er nahm Annas Hand, zog seine ehemalige Nachtigall an sich und küsste sie.
Auf die unanständigste Weise, die ich je in meinem Leben gesehen habe.
Und Anna ließ es nicht nur zu, sie erwiderte den Kuss und drängte gleichzeitig ihr Becken gegen das Arturs. Ja, man konnte wirklich sagen, dass die frisch getraute Braut ziemlich in Hitze geriet.
Kennel hatte darüber jede Gesichtsfarbe verloren und starrte auf seine Frau, sah, wie ihre Zunge Arturs suchte, wie ihre Hand sich an seinem Körper herabschlängelte. Mit flatternden Lidern und einem Seufzer sagte sie: »Gott, Artur, hab ich das vermisst! Ich dreh gleich durch!«
Endlich ließ Artur von ihr ab, während sie weiter an ihn geschmiegt blieb. Kennel schien jede Körperspannung verloren zu haben. Alles an ihm schlackerte kraftlos herum.
»Und jetzt werde ich Ihnen unsere neue Partnerschaft erklären«, begann Artur ruhig. »Ab sofort gehören Sie mir, verstanden? Sie arbeiten für mich! Wenn ich ein Problem habe, lösen Sie es! Sie bigottes, hinterhältiges Dreckschwein!«
Kennel blinzelte verwirrt: »W-was?«
»Im Gegenzug behalten Sie Ihre schöne Frau, schließlich sind Sie ja jetzt mit Anna verheiratet. Haben vor Ihrer Gemeinde, dem Bischof und Ihren Kollegen das Ehegelöbnis abgelegt: Denn was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Wissen Sie noch?«
Kennel blickte ihn waidwund an.
»Also!«, sagte Artur und hielt zwei Finger hoch. »Zwei Optionen. Die erste: Wir beide werden Freunde. Ihre Karriere wird vorbildlich laufen mit einer Frau an Ihrer Seite, um die Sie jeder beneidet. Natürlich werden Sie ein paar Abstriche machen müssen, etwa auf den ehelichen Beischlaf verzichten. Und Anna wird wieder eine Arbeit aufnehmen. Ihr Ersatz im Arcasi ist gut, aber seien wir ehrlich: Anna ist die Nachtigall. Sie ist die Beste, und sie erhält ihre Stelle natürlich wieder zurück.«
Anna lächelte: »Ich danke dir, Artur. Für beides übrigens.«
»Aber Sie wird Ihnen bei allen privaten oder dienstlichen Anlässen zur Seite stehen, wird auch offiziell bei Ihnen wohnen. Und sonntags wird sie natürlich mit Ihnen in die Kirche gehen. Das klingt doch gut, oder?«
»Sie … Sie …!«, stammelte Kennel.
»Oder aber Option zwei …«, fuhr Artur ungerührt fort. »Alles kommt raus, die Blamage vor Ihrer Gemeinde wird unaussprechlich sein. Und dann werden sich die Kollegen natürlich fragen, wie die Razzia bei mir nur so schiefgehen konnte. Wieso Sie bei den Brandstiftungen nie da sind, wo Sie sein sollten. Wieso Sie mich nicht festnehmen, obwohl nun wirklich offenkundig ist, dass ich der Halbwelt angehöre. Und natürlich, wieso Sie eine Hure geheiratet haben, die mit sämtlichen Mitgliedern Ihrer Gemeinde und Ihres Polizeireviers schläft.«
»W-was?!«
Anna legte Kennel beruhigend die Hand auf den Arm: »Aber nicht doch, Liebling. Noch habe ich gar nichts gemacht. Aber wenn du nicht tust, was Artur sagt, lege ich los. Und mit dem Prädikanten fange ich an …« Sie zog mich ein wenig zur Seite und blickte mit mir in den Festsaal. »Der fette Typ. Widerlich. Zieht mich mit den Augen jedes Mal aus, wenn er mich nur sieht.«
Dann kehrten wir zu Kennel und Artur zurück.
»Also, Kennel, genug geplaudert. Sei froh, dass du einen Wert für mich hast, denn nachdem du Hans in unsere Auseinandersetzung gezogen hast, würde ich dich am liebsten ganz langsam auseinanderpflücken. Bis nichts mehr von dir und deiner verlogenen Frömmelei übrig ist.«
Kennel antwortete nicht.
Er war vollkommen zerstört.
Ein Bild des Jammers.
Wie ein Kind, das man beim Klauen erwischt hatte und das jetzt in Erwartung seiner Strafe vor seinen wütenden Eltern stand.
»Kennel?«, fragte Artur.
Er blickte zu ihm.
»Hör jetzt genau zu, denn ich frage das nur ein Mal, und wenn ich nicht die richtige Antwort bekomme, ist unser Handel null und nichtig. Dann lasse ich Anna von der Leine und werfe dich in ein Loch, aus dem du nie wieder rausfindest. Hast du mich verstanden?«
Er nickte schwach.
»Wo ist Hans?«
Einen Moment schien er zu zögern, dann sagte er: »Im Kinderheim in Potsdam.«
Artur nickte: »Gut, dann wirst du denen sagen, dass wir kommen und dass es keinerlei Bedenken mehr gibt, Carl den Jungen zu überlassen. Sag Ihnen, es war alles ein großes Missverständnis. Und jetzt …« Er wedelte mit den Händen. »Husch, husch, deine Gäste warten!«
Anna hakte sich bei ihrem Mann ein und lächelte uns beide an: »Es ist so schön, wieder zurück zu sein. Ihr glaubt ja nicht, wie sehr ich euch beide vermisst habe.« Sie blickte mich an: »Das mit Hans tut mir so leid, Carl. Glaub mir, wenn ich gewusst hätte, was mein lieber Mann vorhat, hätte ich es ihm ausgeredet. Oder euch rechtzeitig gewarnt.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange: »Und das mit Lissi tut mir auch leid. Hättest mich nehmen sollen!«
Sie lachte, dann führte sie ihren Mann zurück in den Saal.
»Du hast das die ganze Zeit geplant?«, fragte ich Artur fassungslos.
Der zuckte mit den Schultern: »Hast du nicht selbst gesagt, man könne einen Polizisten nicht einfach umbringen?«
Ich nickte.
Er klapste mir auf die Schulter: »Also los, wir fahren nach Potsdam.«
91
Der Plan, Kennel auf diese Weise zu disziplinieren, war früh entstanden und Annas Idee gewesen. Sie wusste natürlich, dass sie auf Männer mehr als attraktiv wirkte, aber vor allem wusste sie genau, wann sie sich einen Kerl untertan machen konnte, unabhängig davon, was er sagte oder nicht sagte, was für Tugenden er vor sich hertrug oder welche Sünden er verabscheute. Sie hatte ihn bereits im allerersten Moment durchschaut, als er im Arcasi beim Hinausgehen versehentlich in sie hineingelaufen war und seinen Hut lüftete, obwohl sie sich in einem Lokal befanden, das ihn offiziell anekelte. An einem Ort, wo man auf Kleinigkeiten achtete, denn alles zählte in einem Betrieb, der darauf ausgelegt war, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Man hatte Gefahren hier zu wittern, bevor sie offenkundig wurden. Diese kleine unterbewusste Geste hatte Kennel also schon verraten. Er hatte in ihr eine Dame gesehen, die hier nicht hineingehörte.
Alles, was es jetzt noch brauchte, war eine glaubwürdige Abkehr vom Pfad der Sünde, um dann die Umarmung eines mitfühlenden, aber gierigen Bekehrers zu suchen. Mit Arturs Wissen nahm Anna Geld aus der Kasse, was Phillip zufälligerweise beobachtete. Eingeplant als Zeuge war eigentlich jemand anderes, so oder so konnte Artur nun Anna öffentlich zur Rede stellen, was dann zu einem inszenierten lautstarken Rauswurf geführt hatte.
Annas Verwünschungen hatte jeder mitbekommen, und es brauchte wirklich nicht lange, bis man das Zerwürfnis Kennel zutrug. Er suchte Anna auf und entdeckte in ihr das Lamm, das er aus den Klauen eines Wolfes befreien wollte.
Der Rest war für eine wie sie dann geradezu beleidigend einfach.
Kennel war ihr bald verfallen, und sie so gottesfürchtig zu sehen ließ ihn sein Glück kaum fassen. Diese unfassbar erotische Frau könnte ihm gehören! Ihm allein! Denn sie liebte Gott! War auf der richtigen Seite. Er sprach mit dem Pfarrer und bat ihn um dessen Einverständnis, eine gefallene Frau wieder ehrbar zu machen. Der gab es unter der Voraussetzung, dass das Paar bis zur Hochzeit keusch blieb: Anna sollte damit Gottesfurcht beweisen.
Müßig zu erwähnen, dass Anna sich ihrem Zukünftigen mit diabolischer Freude so reizvoll präsentierte, dass sie zwischenzeitlich Angst hatte, er könnte vor ihren Augen explodieren. Immerhin erreichte sie damit, dass Kennel ihre Verlobungszeit von einem Jahr auf ein halbes verkürzte.
Das alles erzählte Artur mir auf unserem Weg nach Potsdam, und ich dachte voller Bewunderung, dass es scheinbar kein Problem gab, das Artur nicht lösen konnte. Und dass er traumhaft sicher die Menschen fand, die ihm gegenüber vollkommen loyal waren, während es bei mir eher andersrum lief.
Wir hielten vor einem großen, schmucklosen Backsteinhaus, das trotz der vielen Fenster abweisend und deprimierend aussah. Im Eingangsbereich gingen Ordensschwestern ein und aus, während in einem kleinen Wärterhaus ein älterer Herr mit Backenbart saß, der dort mit wichtiger Miene das einzige Telefon bediente und Notizen machte. Eines der Waisenkinder nahm sie entgegen und trug sie eilig zu ihrem Empfänger.
Er blickte nicht auf, als wir uns vor der Sprechscheibe aufbauten, kritzelte wichtig in einem Buch herum und rief abweisend: »Ja?«
Artur gab mir zu verstehen, nicht zu antworten, und so schwiegen wir, bis der Mann genervt aufblickte. Manchmal war es dann doch amüsant zu sehen, wie Menschen auf Artur reagierten: Der Alte schluckte erschrocken, während Artur ihn nur anstarrte.
»Ja?«, fragte er schon um einiges konzilianter. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«
»Hans Wagner«, antwortete Artur.
»Oh … ja natürlich …«, sagte der Mann schnell, schrieb gleich einen neuen Zettel und reichte ihn unter der Scheibe durch. »Sprechen Sie mit Schwester Martha. Das hier ist ihre Zimmernummer.«
Artur nahm den Zettel.
Im ersten Stock fanden wir Schwester Martha, die uns in einen der Schlafsäle führte: »Eigentlich sind die Kinder um diese Zeit in der Schule, aber Hans geht es nicht so gut.«
Im Raum standen wenigstens dreißig Betten in Reih und Glied, und in einem entdeckte ich die zarte Silhouette eines schlafenden Kindes unter einer Decke.
Ich lief zu Hans und setzte mich zu ihm aufs Bett.
Weckte ihn vorsichtig.
Er schlug blinzelnd die Augen auf.
»Papa?«
Ich lächelte: »Ja, Hans.«
»Wo warst du?«
»Ich habe dich gesucht.«
»Ich dachte, du hättest mich weggegeben …«
Mein Hals wurde rau.
»Nein, Hans.«
Da drehte er sich zur Seite.
Zog die Decke über die Schulter und die Knie an.
Mir stiegen die Tränen in die Augen.
Hilflos blickte ich zu Artur und Schwester Martha, die neben ihm stand. Sie nahm meine Hand und führte mich ein wenig vom Bett fort.
»Er fühlt sich verraten, Herr Friedländer.«
»Aber, das wollte ich doch nicht … Ich …«
Sie nickte: »Geben Sie ihm ein wenig Zeit. Das Ganze war ein großer Schock. Er wird sicher wieder zu Ihnen finden.«
»Und wenn nicht?«
»Er ist ein Kind. Seien Sie geduldig.«
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und fragte: »Ist er schlimm krank? Ich meine, kann ich ihn mitnehmen?«
Sie nickte. »Ich glaube, es ist eher etwas Seelisches. Fieber oder so etwas hat er nicht.«
So kehrte ich ans Bett zurück und berührte ihn an der Schulter: »Hans?«
Er antwortete nicht.
»Wir gehen nach Hause, ja?«
Er drehte sich nicht um.
»Sieh nur: Onkel Artur ist auch da! Er fährt uns!«
Wieder keine Reaktion.
Da nahm ich ihn auf die Arme und trug ihn hinaus.
92
Als wir uns am Abend in meinem Wohnzimmer trafen, mit Wein und Musik aus dem Grammofon, wie wir es schon so oft getan hatten, war es, als machte Schwermut alle Töne dumpf und das Licht matt. So wollte auch kein rechtes Gespräch aufkommen, weil wenigstens in Isis und meinem Kopf Ungelöstes wie Papierschiffchen im rauen Gewässer tanzte. Was war nur geschehen, dass die Dinge einen solchen Lauf nehmen konnten? Wo waren wir falsch abgebogen, und wo war die Ausfahrt ins Licht?
Allein Artur hatte wie immer alles aus dem Weg geräumt, was ihm bedrohlich schien, und ich fragte mich zum wiederholten Male, woher er all die Kraft nur nahm. Denn da war auch diese Dunkelheit, die ihm wie ein Schatten folgte, eine Trauer, die ihn nicht schlafen ließ, die er immer mit sich trug und nicht ablegen konnte. Artur, der Unbezwingbare, unser Fels in der Brandung. Er kämpfte allein gegen seine Dämonen, schwieg, weil er nicht über Riga sprechen konnte und alles, was im Krieg dort geschehen war.
So tranken wir, bis die Schiffchen versanken und die Erinnerung verblasste.
»Hast du etwas von Aldo gehört?«, fragte ich Isi.
Sie zuckte mit den Schultern: »Er lebt jetzt mit Helene in der Victoriastraße. Und gibt auch wieder fleißig Abendgesellschaften. Schließlich will seine neue Braut in Berlin vorgestellt sein.«
»Und es stört keinen, dass er noch verheiratet ist?«
»Die, die es stören würde, sind nicht reich oder radikal genug, um eingeladen zu werden«, gab Isi zurück.
»Ihr müsst hier ausziehen«, sagte Artur plötzlich.
Wir blickten ihn beide fragend an.
»O. C. ist nicht besiegt. Und die von Torstayns kennen genügend Leute, die für sie die Drecksarbeit machen können.«
»Du meinst, ich bin in Gefahr, richtig?«, fragte Isi.
»Ja, du bist in Gefahr, solange du der Annullierung deiner Ehe nicht zustimmst.«
»Das werden sie nicht wagen!«, antwortete Isi.
»Sie werden, wenn sie sich sicher sein können, dass ich sie nicht mehr aufhalten kann.«
»Du glaubst, sie haben es auch auf dich abgesehen?«, fragte ich.
Artur nickte. »Ich würde sogar sagen: Sie werden zuerst versuchen, mich zu kriegen. Oder dich, Carl.«
»Mich?«
»Wenn sie dich holen, dann könnten sie uns erpressen. Sie wissen genau, dass wir dich um jeden Preis beschützen würden.«
»Ihr müsst mich nicht beschützen«, gab ich sauertöpfisch zurück.
Isi lächelte: »Natürlich müssen wir dich beschützen, Carl Schneiderssohn.«
Seit unserer Jugend zog sie mich damit auf, wohl wissend, dass es mich vor allem deswegen ärgerte, weil sie wahrscheinlich auch noch recht damit hatte.
»Es gibt da noch etwas, das ihr wissen solltet …«, begann ich zögerlich.
Sie sahen mich beide neugierig an.
»Ja?«, fragte Isi.
Ich erzählte ihnen von Lubitsch und seinem Angebot.
Sie hörten zu, und als ich geendet hatte, sagte lange Zeit niemand etwas.
»Und du würdest wirklich nach Amerika gehen?«, fragte Isi.
Ich verzog unschlüssig den Mund: »Vielleicht wäre es eine gute Sache – für Hans? Er könnte ganz neu anfangen. Unbelastet sein. Er ist ein Kind, und ich denke, wenn er erst mal da ist, wird er schnell alles vergessen, was ihm hier passiert ist.«
»Und du?«, fragte Isi.
»Ich glaube, dass die Zukunft des Films dort sein wird. Wer Hollywood erobert, der erobert die Welt.«
»Das habe ich nicht gemeint«, antwortete Isi.
»Ich weiß.«
Der Gedanke an das, worauf sie hinauswollte, versetzte mich in puren Schrecken: Es wäre ein Leben ohne Isi und Artur. Die Überfahrt mit dem Schiff, die Querung des Kontinents per Zug – das alles würde Wochen dauern. Einmal dort angekommen, würden wohl Jahre ins Land ziehen, bis ich wieder zurückkehren könnte. Wenn überhaupt, denn Hans würde dort wahrscheinlich Fuß fassen und heimisch werden.
Es wäre nicht nur eine Reise in die Neue Welt – es wäre der Abschied aus der Alten.
»Du solltest das Angebot annehmen, Carl!«, sagte Artur plötzlich und blickte mir fest in die Augen.
»Wirklich?«
»Ja, es ist wie Lubitsch sagt: Das ist die Chance deines Lebens. Tu es!«
Isi schwieg, aber ihre Mundwinkel zuckten.
»Aber …«, sagte ich und brach ab.
Mein Hals war zu rau, und die Sicht verschwamm mir.
Auch Isi brach in Tränen aus.
Dann stürzte sie mir in die Arme.
»Er hat recht, Carl! Geh!«, schluchzte sie. »Du musst!«
Wir weinten beide.
Im nächsten Moment spürten wir Artur, der uns in die Arme nahm.
»Ich will nicht!«, flüsterte ich.
»Geh, Carl!«, sagte Artur ruhig. »Es ist das Richtige!«
Isi küsste mich: »Amerika, Carl! Amerika! Wir sind so stolz auf dich! So stolz!«
Ich nickte, während mir der Rotz aus der Nase lief.
Sie hatten recht, so wie sie eigentlich immer recht hatten. Ich würde nicht nur O. C. aus dem Weg gehen, sondern auch dem immerwährenden Krieg, dem Elend und der erstickenden Enge. Ich könnte jemand anderes sein als Carl Friedländer, Sohn des Schneiders Friedländer aus Thorn, könnte die größten Sterne treffen und ein Haus am Strand haben.
In Amerika gab es keine Grenzen, und es schien immer die Sonne.
Alle sagten das.
Und doch zerriss es mich im Innern.
An jenem Abend gingen wir weinend zu Bett und erwachten mit blinden Augen, tauben Ohren und stummen Zungen. Wir lächelten in die totenbleichen Gesichter der anderen und flohen in den Tag.
Am Nachmittag war Isi ausgezogen, hatte sich ein Zimmer in der Stadt besorgt und mir in einem Brief erklärt, dass sie einen Abschied auf Raten nicht ertrug und einen klaren Schnitt brauchte. Es schmerzte höllisch, aber ich verstand sie gut.
Dachte ich zumindest.
Ich erklärte Hans, wie es dazu kommen konnte, dass Kennel ihn mir weggenommen hatte, ließ nichts aus, war so ehrlich, wie ich nur konnte, und versprach, nie wieder Versprechungen zu machen, die ich nicht einhalten konnte. Auf seine stille, zurückhaltende Weise schien er erneut Zutrauen zu fassen, vielleicht auch, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb.
Heute würde ich sagen, dass dies wahrscheinlich der Augenblick war, in dem in ihm erwachte, was in Dunkelheit, Kälte und Angst neben dem Leichnam seiner Mutter begraben worden war. Er wurde jemand, der sich nicht mehr herumschubsen lassen wollte. Der hart sein wollte. Angreifen wollte, bevor er selbst angegriffen werden konnte. Und zugleich hatten all die erlebten Grausamkeiten das Fundament aufgelöst, das einen wahren starken Charakter ausmacht: Liebe, Vertrauen, Empathie.
Damals jedoch freute ich mich, dass er mir verzieh, dass er die Episode mit dem Heim beiseitewischte, als hätte es sie nie gegeben. Dass er begann, seine Wünsche und Ideen auszusprechen. Dass er mutiger wurde, seinen Willen ausprobierte und Ehrgeiz entwickelte. Plötzlich wollte er sich messen: an seinen Mitschülern, an mir, an allen. So verbesserten sich seine schulischen Leistungen in den folgenden Wochen rasant, was mich einerseits freute, mir andererseits aber fast schon leidtat, denn unsere Zeit in diesem Land lief ja ab. Nach all den Monaten des Stillstandes schien er plötzlich wild heranzuwachsen. Was machte es da schon, dass er mich von da an nie wieder Papa, sondern nur Vater nannte?
Ansonsten vergingen die Tage in Bedeutungslosigkeit und Schweigen.
Artur sah ich in dieser Zeit selten, Isi gar nicht. Lubitsch hatte ich inzwischen zugesagt. Und trotz der drohenden Trennung von meinen Freunden war ich neugierig auf Kalifornien, auf Hollywood, auf Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und Mary Pickford. Auf die Studios und die Stadt, die in der Märchenwelt des Glashauses das El Dorado war: Los Angeles.
Dann traf ich Artur eines Abends im Arcasi. Wir sprachen darüber, dass sich an der Situation um O. C. und Isi nichts zu ändern schien. Es war, als spielten die von Torstayns auf Zeit, als bauten sie darauf, dass Isis Wut irgendwann verrauchte und sie dem Angebot doch noch zustimmen würde.
»Glaubst du das?«, fragte ich Artur.
»Ich habe sie eine Weile nicht mehr gesehen«, wich er aus.
»Aber es geht ihr gut?«, fragte ich.
»Meine Leute lassen sie nicht aus den Augen.«
Erleichtert atmete ich durch.
Artur legte mir die Hand auf meinen Arm und lächelte: »Mach dir keine Gedanken, Carl. Es passiert ihr nichts.«
Ich nickte.
Dennoch war mir, als verschwiegen die beiden mir etwas. Und je näher der Tag meiner Abreise heranrückte, desto stärker wurde in mir das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Umso mehr, weil Isi mir tatsächlich aus dem Weg ging, mich am Telefon vertröstete, weil sie angeblich einfach keine Zeit hatte, mich zu treffen. War es wirklich nur aus dem Grund, dass ich unbeschwerten Herzens nach Amerika abreisen und mir dort ein neues Leben aufbauen sollte? Weil sie wieder einmal alles daransetzte, mich zu beschützen?
Am Morgen unserer Abfahrt, als ich mit Hans über die Moltkebrücke ging, in jeder Hand einen schweren Koffer, den Lehrter Bahnhof vor Augen, der sich prächtig, türmchenbewehrt und mit endlos vielen hohen Rundbögen vor uns aufbaute, wurde mir erst wirklich bewusst, dass ich diese Stadt mit all dem, was wir in ihr erlebt hatten, tatsächlich verlassen würde.
Vielleicht für immer.
Es war nicht kalt an diesem Tag, das Wetter grau in grau. Hans und ich trafen Artur und Isi vor dem Hauptportal. Im Hintergrund konnte ich Lubitsch sehen, der sich von seiner Familie verabschiedete, seinen weinenden Vater umarmte, all die anderen, die schluchzten und die er mit einem breiten Lächeln zu trösten versuchte.
Artur begrüßte mich mit einem Nicken, während Isis Lippen bereits zitterten und ihr erste Tränen über die Wangen kullerten. Sie war ungewöhnlich dick angezogen, als ob wir in einem Wintersturm stünden, und es schien mir, dass sie in den letzten Wochen zugenommen haben musste: Ihr Gesicht wirkte eine Spur voller als sonst.
»Wir verabschieden uns besser hier!«, sagte Artur mit brüchiger Stimme.
»Kommt doch mit?«, würgte ich hervor.
Artur schüttelte sanft den Kopf.
»Isi?«
»Ich kann nicht«, antwortete sie.
»Warum nicht?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht.
So standen wir da, sahen uns an und wussten nichts mehr zu sagen.
Bis Isi mir dann doch in die Arme stürmte und mich küsste: »Pass auf dich auf, Carl Schneiderssohn! Hörst du? Pass auf dich auf!«
Für einen verwirrten Moment dachte ich, dass sie sich seltsam anfühlte, dann aber drückte Artur uns schon an sich. Wir lehnten die Köpfe gegeneinander, und Isi beschwor: »Wir drei! Nur wir drei!«
Als wir uns schließlich voneinander lösten, war Lubitsch bereits verschwunden. Endlich packte auch ich meine Koffer, nickte Hans zu und ging schweren Herzens und mit verschwommenem Blick los.
Doch dann hielt ich plötzlich inne.
Drehte mich um.
Blickte zu Isi.
Und ehe ich michs versah, lief ich zurück, stand vor ihr und riss ihren riesigen Wintermantel mit einem Ruck auf: Ein kleiner Spitzbauch wölbte sich unter ihrem Kleid hervor.
Sie hatte mich dabei die ganze Zeit einfach nur angeschaut, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, ihre kleine Scharade aufrechtzuerhalten. Mir war sogar, als sähe ich Erleichterung in ihren Augen, das, was die beiden die ganze Zeit vor mir zu verbergen versucht hatten, preiszugeben.
Sie legte ihre Hand gegen meine Wange und sagte: »Es ist von Aldo.«