Wird heutzutage über die Volkskrankheit Arthrose in den großen Publikumsmedien kritisch berichtet, geht es meist klischeehaft um eine skrupellose Pharmaindustrie, um geizige Krankenkassen, gewissenlose Prothesenhersteller und operationswütige Kliniken. Der Arthrose-Patient als Opfer ist ein Bild, das sich aufmerksamkeitsstark vermarkten lässt.
Den wirklich Betroffenen helfen diese reißerische Überschriften und das Clickbaiting1 letztlich wenig: Die teils berechtigte, teils überzogene Kritik liefert leider wenig Substanz für eine bessere Behandlung.
Viel zu oft hinterlassen Stereotype verunsicherte Patienten, die in ihrem Alltag voller Beschwerden und Schmerzen am Ende keine andere Möglichkeit sehen, als sich den bestehenden Behandlungsprotokollen zu unterwerfen.
Auf der anderen Seite sind die medizinischen Informationen, die von Kliniken, Ärzten und Krankenkassen zum Thema Gelenkschmerzen veröffentlicht werden, in vielen Fällen gleichermaßen kritikwürdig. Eine aktuelle US-amerikanische Studie zur Online-Aufklärung zeigt, dass die Patientenkommunikation in Punkto Lesbarkeit, Verständlichkeit und Umsetzbarkeit durch die Bank als schlecht zu bewertet ist. 2
Eine andere Studie zur Arzt-Patienten-Kommunikation in der Orthopädie hat gezeigt, dass Chirurgen ausgerechnet jene Patientengespräche als am schwierigsten empfinden, in denen sie darüber aufklären müssen, warum eine Patientin oder ein Patient aufgrund einer nicht chirurgischen Diagnose nicht operiert wird. Erst an zweiter Stelle folgt der Umgang mit enttäuschten Erwartungen nach der Operation. 3
Deshalb verfolge ich mit diesem Buch einen anderen Ansatz: Die Arthrose Sprechstunde ist meine Vision eines idealen Patient-Arzt-Gesprächs.
Dabei bin ich mir bewusst, dass der Zeitaufwand für dieses Gespäch in der Realität jede Sprechstunde in jeder orthopädischen Praxis sprengen würde. Als Gerüst dient mir die Idee des Medical Coaching. Aus diesem Grund hoffe ich, dass Sie, liebe Leserin, und Sie, lieber Leser, es mir verzeihen, dass ich für die nachfolgenden Kapitel die Du-Ansprache gewählt habe.
Bevor ich Arzt wurde, war ich Personal Trainer. (Dazu später mehr.) In den allermeisten Fällen duzte ich mich mit meinen Klienten, und diese positiven, konstruktiven Atmosphäre soll auch diesen Ratgeber prägen.
Mir ist es wichtig, dass sich die Leserinnen und Leser ihrer positiven Möglichkeiten, Fähigkeiten und Stärken bewusst werden – bei allem Respekt vor den erheblichen Einschränkungen und dem Leidensdruck, die die chronische Erkrankung mit sich bringt.
Durch Erläuterungen der Ursachen und der Wechselwirkungen des Knorpelverschleißes im Zusammenhang mit dem komplexen Bewegungsapparat und unserer Ernährung möchte ich Informationen vermitteln, die abrufbare Wissensbilder im Kopf schaffen.
Die Patienten sollen in die Lage versetzt werden, medizinische Behandlungsstrategien für sich selbst zu bewerten. Ich stelle Therapien vor, die den Knorpel sanieren können; Übungen, die das Gelenk entlasten und stabilisieren; Selbsthilfemöglichkeiten, mit denen jeder ganz gezielt die Entstehung und Wahrnehmung von Schmerzen steuern kann.
Ich weiß, das ist an mancher Stelle viel Wissen – auch Fachwissen – auf einmal. Wem sich die Frage nach einer Prothese (noch) nicht stellt, wer mehr an Vorbeugung interessiert ist, dem soll die gewählte Gliederung nicht den Schwung und die Motivation nehmen.
Stattdessen empfehle ich nach den folgenden drei Abschnitten gleich den Sprung zu den Kapiteln Bewegung und Ernährung . Anschließend können Sie zur Vertiefung das Kapitel Gelenkerhaltende Therapien lesen.
Mehr über mich und meine Philosophie erfahren Sie im vierten und fünften Unterkapitel.
Um die Ratgeberfunktion optimal nutzen zu können, empfehle ich Ihnen, die Challenges am Ende jedes Unterkapitels – quasi als Lesebestätigung – mit dem Smartphone abzufotografieren. So können Sie diese jederzeit nachlesen oder für den Selbstgebrauch ausdrucken.
Etwas Theorie für die richtige Motivation bleibt aus meiner Sicht allerdings weiterhin sinnvoll und wichtig.
Mein erstes Ziel ist es, dass sich die Sicht auf den Knorpel als Verschleißteil ändert. Der Mensch ist keine Maschine wie das Auto. Und das Gelenk ist kein Stoßdämpfer, der spätestens nach 150.000 Kilometern ausgetauscht werden muss.
Wenn wir uns von diesem mechanischen, unbiologischen Bild verabschieden, fällt es gedanklich leichter, den Weg von der heutigen Ersatz-Medizin zur Sanierungs-Medizin – im besten Fall hin zur Prophylaxe-Medizin – zu beschreiten.
Das bedeutet nicht, dass in einigen Krankheitsverläufen nicht doch eine Prothese notwendig wird. Regelmäßige Zahnreinigung hat nicht dafür gesorgt, dass Zahnprothesen nicht mehr erforderlich sind. Das Mammographie-Screening nicht dafür, dass keine Mastektomien mehr stattfinden. Blutdruckmessen nicht dafür, dass es keine Infarkte gibt.
Es geht um Zahl und Zeitpunkt. Laut Endoprothesenregister werden in Deutschland Jahr für Jahr mehr als 400.000 künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt. 4 Der Gelenkersatz gehört seit Dekaden unverändert zu den häufigsten großen Operationen dieses Landes.
Jeder zwölfte, in Deutschland endoprothetisch versorgte Patient – mehr als 30.000 Menschen jährlich 5 – muss erneute Operationen (Revisionen) und dauerhafte Funktionsbeeinträchtigungen hinnehmen. Unzufrieden mit dem Ergebnis ihrer Prothese sind je nach Studie und Beobachtungszeitpunkt etwa 20 Prozent der Patienten.
Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Kollegen, Therapeuten und Trainer Patienten kennen, die für „eine der größten Erfolgsgeschichten der modernen Medizin“ 6 einen hohen Preis bezahlt haben.
„Sanieren statt ersetzen“ würde die Orthopädie, wie wir sie kennen, verändern. Sie würde auch die Position der Patienten verändern: Weg aus der Opferrolle und hin zum Gestalter.
Bonn, im Sommer 2023