Vor einigen Wochen hatte ich ein besonders schönes Erlebnis: Meine zweitälteste Arthrosepatientin ist jetzt 92 Jahre alt und war bei mir in Bonn. In diesem Alter wünschen sich die meisten Patienten, dass ihnen eine große Operation, wie der Ersatz beider Kniegelenke, erspart bleibt.
Manchmal steht diesem Wunsch die Sorge um die Wirksamkeit der Selbsthilfe gegenüber.
Deshalb hat es mich tief beeindruckt, wie entspannt und gleichzeitig entschlossen sich die Dame auf mein Behandlungskonzept eingelassen hat.
Wenn ich ihr gesagt habe: „So, also nächste Woche ein bisschen piano“, hat sie sich daran gehalten. Und als sie etwas bei der Ernährung umstellen sollte, hat sie das gleich akzeptiert.
Die Frau ist eine richtige Macherin. Hat promoviert. Vier Kinder. Die Hälfte des Jahres lebt sie in Deutschland, die andere Hälfte in Italien. Mich hat diese Vita tief beeindruckt. In dem Alter wäre ich gern geistig so fit, begeisterungsfähig und aufgeschlossen.
Aus diesem Grund bin ich am Ende der Sprechstunde noch einmal zur Patientin ins Behandlungszimmer gegangen und habe mich bedankt. Dafür, dass ich sie behandeln darf und dass sie so toll mitmacht. Dass sie gleich verstanden hat: Knorpeltherapie fängt im Kopf an. Knorpeltherapie braucht Motivation. Knorpeltherapie verlangt Zeit.
Ohne die Unterstützung der Patienten geht es nicht – so meine Erfahrung nach über 15 Jahren als Knorpel-Doc.
In den meisten Fällen ist Gelenkverschleiß keine Folge eines einmaligen, schicksalshaften Ereignisses, wie ein Verkehrsunfall oder ein Sporttrauma. Auch die Abnutzung des Knorpels durch Dauerbelastung – wie beim Fassadenkletterer in den Daumensattelgelenken oder beim Fliesenleger in den Knien – kommt viel seltener vor, als Du vielleicht vermutest.
Wenn Du jetzt das Buch zuklappst, aufstehst, Dir dabei das Knie verdrehst, kann ich mich als Dein Arzt ausschließlich um das Gelenk kümmern. Bei mindestens jedem zweiten Patienten betrifft die Arthrose aber mehr als nur ein Gelenk und hat in der Regel eine mindestens monate-, meist jahrelange Vorgeschichte.
Kleinere Verletzungen in der Jugend oder Dauerbelastungen mögen eine Rolle spielen; doch bei der Mehrzahl der Fälle in meiner Praxis tragen individuelle Lebensumstände, wie Schreibtischarbeit, Mangel an Bewegung, einseitige Ernährung, Übergewicht oder Rauchen dazu bei, dass aus überlasteten Gelenken schmerzhafte Gelenke werden.
Im englischsprachigen Raum gibt es den Begriff „Sitting Disease“, die Sitzkrankheit. Hierzulande bestätigen aktuelle Untersuchungen, dass ein wichtiger Risikofaktor für Arthrose unser moderner, sitzender Lebensstil ist.
Laut Studie des Robert Koch-Instituts sitzen „22,6 Prozent der Frauen und 24,3 Prozent der Männer mindesten vier Stunden am Tag und üben keine körperliche Aktivität in der Freizeit aus.“ 7 Folgt man den alarmierenden Erkennntissen, dürften Stühle jedweder Bauform nur mit Beipackzetteln verkauft werden.
Während in Australien zum Beispiel die Gesundheitsbehörden das Sitzen als das neue Rauchen bezeichnen und gezielt aufklären 8 ,bekomme ich – während ich das hier schreibe – unter dem Suchwort Sitzen auf den Seiten des Bundesgesundheitsministeriums nur Inhalte zum Thema Sitzung, Wohnsitz oder Dienstsitz angezeigt.
Pro Jahr werden laut Statistischem Bundesamt aufgrund von Arthrose knapp eine halbe Million Menschen im Krankenhaus stationär behandelt 9 .An den gesamten Krankheitskosten im Jahr 2020 lagen die Kosten für Arthrose bei 12,1Milliarden Euro 10 .Gesamtausgaben: 440,6 Milliarden Euro.
Aufgrund der weitreichenden Folgen gehört für mich die individuelle, ganzheitliche Erfassung der Lebensumstände seit Langem zu einer erfolgreichen und nachhaltigen Arthrosetherapie dazu.
Erst wenn ich als Arzt weiß, welche Auslöser gerade bei Dir zum Gelenkverschleiß geführt haben, kann ich Dich motivieren, an diesen Stellschrauben zu arbeiten – natürlich nur dann, wenn Du es ebenfalls möchtest.
An diesem Punkt scheitert in der normalen orthopädischen Praxis viel zu oft die Behandlung. Das liegt zum Teil daran, wie unser Gesundheitssystem in Deutschland im Augenblick organisiert ist; dass die Zeit, die ich für diese Beratung benötige, von den Krankenkassen nicht ausreichend erstattet wird.
Es liegt aber ebenso daran, in welchem Bewusstsein, mit welchem Wissen und mit welchem Wunsch Patienten zum Arzt gehen.
Ich vergleiche unsere Gelenke gern mit den Zähnen. Knorpel enthalten wie der Schmelz keine Nervenfasern, können sich deshalb nicht unmittelbar bemerkbar machen. Stattdessen gibt es oft eine lange, stumme Phase. In dieser erfolgt eine Schädigung, die jedoch nicht als solche wahrgenommen wird. Beim Zahn kommt es erst zu Beschwerden, wenn sich die Karies durch den harten Schmelz durchgefressen hat. Zur Vorbeugung leiten wir unsere Kinder an, sich täglich morgens und abends die Zähne zu putzen. Im Erwachsenenalter halten wir selbstverständlich an diesem Ritual fest und lassen uns gern zusätzlich die Zähne ein bis zweimal pro Jahr professionell reinigen.
Wenn ich meine Arthose-Patienten im Erstgespräch frage, was sie analog zu den Zähnen in den letzten Jahren für ihre Gelenke getan haben, ernte ich überwiegend verständnislose Blicke.
Viele kommen mit dem Selbstverständnis in die Praxis, als würden sie ihren Körper in eine Art Autowerkstatt bringen: „Hier, Herr Doktor, machen Sie mal was gegen die Schmerzen.
Und bloß keine Operation und kein neues Gelenk. Je schneller und einfacher, desto besser!“ Genau dieses Mindset, diese Haltung zum eigenen Körper, ist gefährlich – nicht nur für den Knorpel, sondern für den Menschen als Ganzes! Je komplexer eine Erkrankung, so meine Erfahrung, umso eher neigen sowohl Patienten als Ärzte dazu, Problematiken zu vereinfachen. Wenn sich beide Seiten keine Zeit für die eigentliche Ursache nehmen, ist es nur konsequent, dass die Kortisonspritze häufig die Therapie der Wahl darstellt.
Zum Unglück der Patienten. Denn die entzündungshemmende Gelenkinjektion lindert viel zu schnell. Das klingt paradox, ist es aber nicht! Ein amerikanischer Merksatz zur Arthrosetherapie mit dem synthetisch hergestellten Hormon lautet: Short gain, long pain. Übersetzt bedeutet das: Kurzfristige Linderung, langfristige Schädigung.
Das liegt daran, dass Kortison ab einer gewissen Dosierung auf Dauer knorpelschädigend wirkt. Hinzu kommt – und das ist wichtig –, dass die einfache Spritze eine tiefere Beschäftigung mit den wirklichen Ursachen überflüssig erscheinen lässt.
Es ist auf tragische Weise konsequent, dass Kortison bei vielen Patienten die wesentlicht Therapie-Option bleibt, die bis zum künstlichen Gelenk mehr als vollständig ausgeschöpft wird.
Du hast bereits gehört oder gelesen, dass in Deutschland zu viele Gelenkprothesen eingebaut werden? Die Bertelsmann Stiftung hat dazu 2018 eine Studie vorgestellt und macht fehlgeleitete finanzielle Anreize verantwortlich.
So seien „Knieprothesen-Operationen … für die Kliniken lukrativer geworden. Niedergelassenen Ärzten scheint darüber hinaus nicht genügend Budget für konservative Therapieansätze wie Physiotherapie zur Verfügung zu stehen.“ 11 Das stimmt: In der Orthopädie liegt der Tätigkeitsschwerpunkt mehr auf Gelenkersatz als auf Arthrosevorbeugung. Aus meiner Sicht kommt eine weitere Ursache dazu: Kortison erzieht Arthrose-Patienten falsch!
Menschen, die die schnelle Spritze haben wollen, sind oft die ersten, die nach dem Gelenkersatz fragen – so meine Erfahrung.
Um nicht missverstanden zu werden: Eine einzelne Kortisonpritze verursacht in der Regel keinen Schaden. Doch sie wiegt Dich in unangebrachter Therapiezufriedenheit.
Ich will Dir nichts vormachen. Meine Arthrosetherapie ist manchmal schweißtreibend. Sie erfordert Zeit und ab und zu eine gewisse Anpassung der Lebensumstände. Aber sie lohnt sich.
Nicht allein, weil sich der Knorpel – im Gegensatz zum Zahnschmelz – erholen und gesunden kann. Auch weil anhaltende Schmerzfreiheit, bessere Beweglichkeit und gesündere Ernährung vor Diabetes, Gefäßverkalkung und Schlaganfällen schützen und darüber hinaus eine nachgewiesen antidepressive Wirkung haben.
Im besten Fall bedeutet das für Dein Leben nicht nur mehr Jahre – sondern für Deine Jahre mehr Leben. 12 Was Du dafür brauchst? Etwa vier Stunden pro Woche. Und ein Ziel.
Das wichtigste Interesse, das eigentlich alle Menschen mit Arthrose teilen, ist Schmerzfreiheit. Die lässt sich kurzfristig mit Schmerztabletten oder – wie beschrieben – mit Kortison erreichen. Nachhaltiger ist eine persönliche, individuelle Zielsetzung.
Ich habe Patienten, die gern mit ihren Enkeln auf dem Boden spielen wollen und sich dafür hinhocken können. Andere wollen mit ihrem Partner sonntags am Rhein spazieren gehen.
Und Dritte träumen vom New York-Marathon.
Hier ist jetzt der Platz für Dein Ziel. Nimm Dir einen Augenblick, trage Dein ganz persönliches Vorhaben ein, das Du erreichen möchtest.
Mein Ziel ist:
Das war einfach, oder? Jetzt wird es schwieriger. Jetzt geht es darum, was Du bereit bist zu investieren. Um Deine Freizeit. Ich denke, eine gute, halbe Stunde pro Tag über die nächsten drei Monate ist realistisch. Ganz schön viel … Oder nicht, wenn Du bedenkst, dass Du pro Woche 168 Stunden zur Verfügung hast. Abzüglich von etwa 63 Stunden Schlaf, circa 40 Stunden Arbeit und ungefähr 14 Stunden fürs Essen bleiben noch 51 Stunden.
Jetzt bist Du gefordert, Dir zu überlegen, in welchem Bereich Du bereit bist, Zeit umzuschichten. Anregung von mir: Schaue Dir mal die wöchentlichen Bildschirmzeiten auf Deinem Smartphone an. Vielleicht kannst Du Dir ja die eine oder andere Stunde aus der virtuellen in die reale Welt zurückholen.
Dafür entziehe ich mich folgendem Zeiträuber:
In Ordnung! Gibst Du mir Deine Hand drauf? Dann gebe ich Dir meine! Darauf, dass Du bei vier Stunden pro Woche innerhalb von 90 Tagen einen spürbaren Erfolg feststellen kannst. In meiner Praxis sage ich immer: „Wenn Du nach drei Monaten nicht zufrieden bist, schreibe ich Dir persönlich die Empfehlung für eine Prothese!“ Im Rahmen dieses Buches geht das nicht. Vielleicht können wir uns darauf einigen: Wenn Du wirklich mitmachst und sich nach 90 Tagen keine zufriedenstellende Besserung einstellt, weißt Du, dass der Gelenkersatz für Dich der richtige Weg sein kann – und das völlig ohne Schuldzuweisung.
Dann ist Deine Arthrose womöglich so weit fortgeschritten, dass eine Prothese die Lösung ist. Das gibt es! Nur ist es viel seltener, als die meisten Menschen vermuten.
Darum musst Du Dich nicht einmal von Deinen Zielen verabschieden – selbst vom New York-Marathon nicht. Die deutsche Bergsteigerin Billi Berling ist sogar mit einer künstlichen Hüfte im Himalaya unterwegs 13 .
Wenn alles gut verheilt ist und mit der richtigen Reha ist es mit einem künstlichen Gelenk möglich, regelmäßig längere Läufe zu absolvieren. Dazu gibt es in der Fachliteratur immer mehr Daten. 14 Warum ich das erwähne? Weil ich Dich nicht über Deine Angst motivieren möchte. Im Gegenteil: Druck und Stress hemmen Deine Leistungsbereitschaft und -fähigkeit.
Kurz zusammengefasst – was ich meinen Freunden, meiner Familie und Dir rate:
Auf Deutsch bedeutet „to challenge“ herausfordern – und dazu will ich Dich ab jetzt am Ende jedes Kapitels animieren. Mir ist klar, dass Deine Motivation nach diesen wenigen Seiten gering sein wird. Deshalb will ich Dich nicht nerven, gleich etwas tun zu müssen – im Gegenteil!
„Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan,
Und keinen Tag soll man verpassen“
Johann Wolfgang von Goethe, Faust
Um mein 90-Tage-Versprechen einhalten zu können, schicke ich Dich ins Bett.
Eine Woche lang. Du fängst ab heute neun Stunden vor Deiner Aufstehzeit an, Dich schlaffertig zu machen. Genau das ist Deine erste Challenge.
Musst Du morgen um sechs aus dem Bett, ist heute um 21 Uhr Schluss.
Kannst Du eine Stunde länger liegen bleiben, ist um 22 Uhr Zapfenstreich.
Das gilt für die nächsten sieben Nächte. Fühlst Du Dich besser, führe es fort, eigne es Dir an, mache es zu Deiner Gewohnheit. Am besten für immer. Warum?
Ausreichend Schlaf unterstützt die Erneuerung und Reparatur von Zellen, Gewebe und Blutgefäßen – das ist gut für den Knorpel.
Ausreichend Schlaf wirkt regulierend auf das Immunsystem – das hilft gegen die Entzündung.
Ausreichend Schlaf verbessert die Stimmung und die Motivation – das erleichtert Dir die Knorpelarbeit.
Ausreichend Schlaf senkt generell das Risiko für chronische Erkrankungen – auch für Arthrose. (Quelle: Life’s Essential der American Heart Association 15 )
Laut Studien verstärkt ungesunder, kurzer Schlaf jene Schmerzen, die von den Gelenken ausgehen. 16