Ein gesunder Knorpel ist ungefähr so glatt wie chinesisches Porzellan, schimmert kaltweiß und fühlt sich prall an.Seine extrem verschleißarmen Gleiteigenschaften verdankt er der besonderen Struktur; die vornehme Blässe der Tatsache, dass er nicht durch das Blut, sondern durch sogenannte Gelenkschmiere genährt wird. Auch die Elastizität kommt von diesem Gewebewasser, das in der Gelenkkapsel unablässig nachproduziert wird.
In unserer Klinik führe ich pro Jahr über 250 operative Knorpelbehandlungen durch. Am häufigsten am Knie, gefolgt von Hüfte, Schulter-, Sprunggelenk.
Im Rahmen minimalinvasiver, arthroskopischer Eingriffe teste ich regelmäßig mit einer feinen Sonde den Zustand des wundervollen Gewebes, das die meisten Knochenenden in den Gelenken überzieht.
Der Tasthaken, den ich dafür durch einen winzigen Gewebeschnitt in die Gelenkkapsel einführe, dient als Verlängerung meiner Finger. Da er starr ist, spüre ich in den Fingerspitzen feinste Unterschiede bei der Elastizität des Puffergewebes, dessen zentrale Aufgabe bei den gewicht-belasteten Gelenken, wie Hüfte, Knie oder Sprunggelenk, die Druckverteilung und -minderung ist.
Gesunde Knorpel bestehen aus Knorpelzellen, die um sich herum ein Netzwerk aus Kollagen aufbauen. Das Besondere an den komplexen Matrixmolekülen ist, dass sie über körpereigene Hyaluronsäure Wasser einlagern und so ein natürliches Gelkissen bilden.
Wenn die Fläche den Druck meines Instruments leicht abfedert und keine Spuren zurückbleiben, weiß ich: Der Knorpel ist wohlauf und gesund.
Anders, wenn das feste Bindegewebe beschädigt ist. Dann kann es geschehen, dass sich der Zellverbund locker und brüchig anfühlt; und dass ich mit der Sonde die Oberfläche eindrücken kann.
Schlimmstenfalls ist gar kein Knorpel mehr vorhanden. Dann kratze ich mit dem Haken über eine rauhe Oberfläche und spüre blanken Knochen.
Es beeindruckt mich immer wieder aufs Neue, welche komplexen Einflüsse diese zarte, wenige Millimeter dünne Gewebeschicht auf Beweglichkeit, Alltagsgestaltung und Lebensqualität hat. Und parallel fasziniert mich, wie genial Mutter Natur das wunderschöne Gewebe nährt, das ähnlich einem feinen Schwamm ist.
Ein alter Chef von mir sagte früher mit Blick zu den Studenten: „Ein Knorpel ist wie ein Azubi: Er braucht Druck und Bewegung“. Ich würde es anders formulieren: Der Knorpel gestaltet Bewegung, und Bewegung gestaltet den Knorpel.
Wie der Naturschwamm im Meer durch den Wellengang ausgewalkt wird und sich anschließend frisches, nährstoffreiches Wasser zieht, so sorgt der Bewegungsdruck auf den Knorpel dafür, dass das verbrauchte Gewebewasser aus dem Biopolster herausgedrückt und in einer anschließenden Ruhephase frische Gelenkschmiere aufgenommen wird.
Als aktiver Taucher und zertifizierter Taucharzt gefällt mir das Bild mit dem Schwamm aus einem weiteren Grund: Jeder weiß, was passiert, wenn man aus dem Badeschwamm oberflächlich ein Stück herausreißt: Die aufgenommene Wassermenge wird kleiner.
Gleiches geschieht bei der Arthrose: An der betroffenen Stelle nimmt der Knorpel weniger Gelenkflüssigkeit auf. Dadurch lässt die Stoßdämpferfunktion nach. Parallel verschlechtert sich die Ernährung des gefäßlosen Stützgewebes. Der Anfang eines Teufelskreis.
Alles klar, denkst Du jetzt womöglich. Ein so geschundener Knorpel ist vermutlich auch bei mir der Grund, warum ich Schmerzen habe. Da muss ich Dich enttäuschen – Abnutzung allein verursacht keine Beschwerden!
So wie der Knorpel nicht ans Blut- und Lymphsystem angeschlossen ist, verfügt er auch nicht über Nerven.Vergleichbar ist das mit der Situation beim Zahn.
Erst wenn der Schaden so tief reicht, dass der Nerv betroffen ist, spüren wir etwas. Beim Gelenk ist das der Übergangsbereich vom Knorpel zum Knochen. Erst in diesem Bereich sitzen die sogenannten Schmerzrezeptoren, die Druck, Dehnung und andere Reize aufnehmen und als Schmerzsignal zum Rückenmark weiterleiten.
Klassische Arthrosebeschwerden erinnern im Tagesverlauf stets ein bisschen an die Form des Buchstabens M und sind mit Knochenschmerzen allein kaum zu erklären:
Das beginnt – zum Beispiel an der Hüfte – mit einem steil ansteigenden Anlaufschmerz am Morgen, der am Vormittag langsam besser wird. Die Patienten berichten meist davon, dass sie sich erstmal einlaufen müssen.
Bereits mittags kehrt mit jedem weiteren Schritt ein belastungsabhängiger Schmerz zurück, der schlagartig nachlässt, sobald Du Dich abends hinlegst.
Wobei es auch Patienten gibt, die sagen: „Morgens habe ich noch nichts, sondern erst nach 500 Metern kommen die Schmerzen“.
Bei anderen tut es nur morgens weh und danach sind sie schmerzfrei. Dritte haben selbst in der Nacht Beschwerden: relativ selten in Rückenlage; häufiger in Seitenlage.
Gleiches gilt, wenn es bergab oder treppab stärker schmerzt als bergauf bzw. treppauf. Das alles und noch viel mehr kann Arthrose sein.
Wie komplex Gelenkschmerzen sein können, zeigt der Fall einer 48-jährigen Patientin, die kürzlich bei mir war. Im Frühjahr hatte sie zusammen mit ihrem Mann angefangen, regelmäßig Tennis zu spielen. Seitdem leidet sie nach jedem Match unter starken Schmerzen in beiden Knien.
Sie kam zu mir, um sich eine Zweitmeinung einzuholen. Der Orthopäde, der sie behandelt, hatte ein MRT machen lassen und festgestellt, dass sie – auf einer Skala von null für kein Schaden bis vier für Knochen liegt frei – einen Knorpelschaden Grad eins bis zwei in beiden Knien hat.
Der Kollege war der Meinung, dass er unbedingt den Knorpel therapieren müsse. Die Patientin hatte die CD mit den Kernspin-Schichtaufnahmen mitgebracht. So konnte ich die Bilder selbst in Augenschein nehmen.
Tatsächlich war eine gewisse Schädigung des Knorpels erkennbar. Doch passte der leichte Grad der Arthrose – meiner Erfahrung nach – nicht zu den beschriebenen Beschwerden.
Dazu hätte noch eine gewisse Form der entzündlichen Aktivierung gehört.
Eine solche Akutreaktion erkennen wir Ärzte daran, dass sich im Gelenk mehr Flüssigkeit befindet, als dort hingehört. Wir sprechen vom Gelenkerguss. Außerdem reagiert der Knochen unterhalb des Knorpels ebenfalls mit einer Flüssigkeitsansammlung. Das nennen wir Knochenmarködem.
Was mich stutzig machte: Auf den MRT-Bildern der Patientin war weder Erguss noch Ödem erkennbar. Ich habe deshalb die Frau ein paar einfache Übungen ausführen lassen. Eine tiefe Kniebeuge zum Beispiel.
Dabei stellte sich heraus, dass sie nicht richtig abhocken konnte. Sie hob jedesmal die Ferse vom Boden. Außerdem fiel sie bei der Übung in eine ausgeprägte X-Bein-Stellung.
Diese einfachen Tests dauern wenige Sekunden, helfen mir jedoch dabei zu erkennen, ob die Patienten ihre Beine optimal ansteuern können.
Tennis ist wunderbar. Durch die Start-Stop-, Rechts-Links-, Rückwärts-Vorwärts-Bewegungen ist der Sport doch körperlich extrem fordernd und gelenkbelastend. Dazu kommen die ganzen Rotationsbewegungen.
Die Art und Weise, wie die Patientin die Funktionsübungen ausführte, verstärkten bei mir einen Verdacht: Dass die Beschwerden eher als Summenprodukt von den Weichteilen stammen, die sich um das Knie herum befinden, als vom objektiven Knorpelschaden, den mir das MRT präsentiert.
De Facto kann dieser Verschleiß bereits seit Jahren unbemerkt bestanden haben und ist jetzt zufällig von meinem Kollegen entdeckt worden – ohne direkt im Zusammenhang mit den Beschwerden zu stehen.
Das Knie ist eines unserer beweglichsten Gelenke. Der runde Kopf des Oberschenkelknochens läuft auf dem flachen Teller des Schienbeinkopfs. Der Unterschenkel kann nicht nur vor und zurück und nach rechts und links schwingen, sondern auch nach innen und außen rotieren.
Stabilität erfährt diese extrem flexible Knochenverbindung durch die umgebenden Muskeln, Bänder, Sehnen und die robuste Weichteilkapsel.
Im Gegensatz zum Knorpel sind alle diese Gewebestrukturen – wie wir Ärzte sagen – innerviert, also mit Nerven ausgestattet und in der Lage, weh zu tun – lange bevor Knochen auf Knochen reiben.
„Klar, ich kann Ihnen auch eine Spritze ins Gelenk geben. Dann sind Sie mich in fünf Minuten los“, erklärte ich meiner ratsuchenden Patientin. „Besser und nachhaltiger wäre es, wenn wir erst einmal Ihren Bewegungsapparat optimieren.“
In Wahrheit war die Frau von der Muskulatur und der Ansteuerung der Gelenke gar nicht in der Lage, Tennis zu spielen. Alternativ ist Ruhe und No Sports auch kein Konzept. Dadurch würde schützende und stützende Muskulatur abgebaut. Das Problem würde nur größer werden.
„Geben Sie mir drei Monate mit gezielten Mobilitäts- und Kräftigungsübungen“, bat ich meine Patientin. „Danach haben sich Beweglichkeit, Stabilität und die Ansteuerung der Beine so weit verbessert, dass Sie schmerzfrei Tennis spielen können. Und wenn nicht, können Sie immer noch zu meinem Kollegen gehen.“
Dieser Fall ist für mich ein gutes Beispiel dafür, wie komplex Arthrose sein kann: Manchmal braucht es sehr, sehr lange bis sich Symptome manifestieren. Ähnlich einer Pflanze, die sich erst über ihr Wurzelwerk ausbreitet, um final – wie der Bambus – innerhalb von Wochen meterweise nach oben zu schießen.
Am Anfang steht ein verändertes Bewegungsverhalten – aus welchem Grund auch immer.
Ändert sich dies, können wiederum Umbauprozesse im umgebenden Gewebe stattfinden: in der Muskulatur, dem Gleit- und Führungsgewebe – den sogenannten Faszien – dem Bandapparat und anderem Bindegewebe.
Dann kommt der Tag, an dem Du eine Stufe verpasst, auf Glatteis ausrutscht oder wieder mit dem Tennis anfängst. Und plötzlich hast Du heftigste Gelenkschmerzen. Die kommen dann nicht vom Knorpel, sondern vom überlasteten, umgebenen Gewebe.
Darüber hinaus können die Beschwerden weitere Ursachen haben. Eine aktivierte Arthrose zum Beispiel. Auslöser sind in diesem Fall Entzündungszellen, die ins Gelenk eingewandert sind. Oder das Brennen und Stechen stammt von einem freien Gelenkkörper, der sich verklemmt hat.
Wie ich das unterscheide? Strukturelle Beschwerden wie freie Gelenkkörper, gerissene Bänder oder Menisken erkennen wir im MRT, Röntgen oder Ultraschall. Deshalb rate ich routinemäßig allen Patienten zur durchdachten Bildgebung.
Funktionelle Beschwerden, wie gereizte Muskelfaszien, haben ihre Ursache im Bewegungsapparat oder unserem Gehirn. Letzteres ist für die finale Steuerung verantwortlich. Funktionelle Beschwerden erkenne ich vor allem bei der passiven und aktiven Bewegung des Gelenks.
Leider untersuchen viele Kollegen ihre Patienten häufig nur auf der Liege. Dort bekomme ich aber keine aussagekräftigen Informationen über die wahre Mobilität der Kranken. Diese wichtigen Informationen bekomme ich nur, wenn Du mir sagen kannst, ob dies oder jenes geht oder nicht geht:
Jedes Nein kann ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass bei Dir funktionelle Defizite vorliegen. Bedeutet, Deine Mobilität ist eingeschränkt, Deine Stabilität ist reduziert oder die Ansteuerung ist beinträchtigt.
Im Prinzip ist es ein bisschen wie beim Auto: Der Fahrer ist das Gehirn. Der Motor und das Getriebe sind unsere Muskulatur. Die Reifen und weitere mobile Teile sind die Gelenke. Ist eine oder sind gleich mehrere Komponenten defekt, läuft der Wagen nicht mehr rund.
Kurz zusammengefasst – was ich meinen Freunden, meiner Familie und Dir rate:
„Nicht Wissen ist Macht, sondern angewandtes Wissen ist Macht!“
Natascha Wegelin alias Madame Moneypenny
Die Regel der 10.000 Schritte, die jeder täglich machen soll, ist tief in unserem Gesundheitsbewusstsein verankert. Bei vielen Menschen mit Arthrose hat diese Regel für Überforderung und Frust gesorgt. Leider wissen die wenigsten, dass hinter der Faustregel ein Marketing-Gag für den ersten Schrittzähler der Welt steckt.
Ein Jahr nach der Sommer-Olympiade in Tokio erschien in Japan der Manpoke: Man bedeutet 10.000, Po bedeutet Schritt und Ke bedeutet Zähler. Auf den Werbeplakaten stand der Slogan „Jeden Tag 10.000 Schritte gehen“. 10.000 war schlichtweg die größte Zahl, die das Gerät anzeigen konnte. 17
Einen wissenschaftlichen Beweis, dass eine sechs bis acht Kilometer tägliche Gehstrecke besonders gesund ist, fehlt bis heute. Laut der American Heart Association (AHA) reichen 150 Minuten moderate, körperliche Aktivität beziehungsweise 75 Minuten schweißtreibende, körperliche Aktivität pro Woche aus. 18
Das sind knapp elf Minuten Seilhüpfen, Joggen, Schwimmen. Oder 21 Minuten Gartenarbeit, Tanzen oder Wassergymnastik am Tag. Oder einfach 2.000 Schritte.
Genau das ist Deine zweite Challenge. Du klappst jetzt das Buch zu, ziehst Dir Schuhe an und gehst für zweieinhalb Minuten die Straße runter und für zweieinhalb Minuten wieder rauf.
Morgen erweiterst Du jede Strecke auf jeweils fünf Minuten; übermorgen auf zweimal siebeneinhalb; und überübermorgen auf zwei mal zehn Minuten – gerne aufgeteilt auf morgens zehn und abends zehn Minuten.
Diese Strecke behältst Du die nächsten drei Tage bei – und natürlich ist es nicht schlimm, wenn Du mehr gehst. Fühlst Du Dich besser, führe es fort, eigne es Dir an, mache es zu Deiner Gewohnheit! Am besten für immer. Warum?
Moderate, körperliche Aktivität kräftigt Deinen Körper im Ganzen und Deine Muskulatur im Speziellen – das ist gut für den Knorpel.
Moderate, körperliche Aktivität sorgt dafür, dass Du weniger sitzt – das entlastet die Hüft- und Kniegelenke.
Moderate, körperliche Aktivität stärkt Deine körperliche Belastbarkeit – eine bessere Kondition erleichtert die Knorpelarbeit. (Quelle: Life’s Essential der American Heart Association)
Zudem sorgt die Bewegung laut Studie der Sporthochschule Köln für einen besseren Knorpelstoffwechsel. 19