Die Leistungen der Krankenkasse

Stellen wir uns vor, bei Dir treten Gelenkbeschwerden zum ersten Mal auf – möglicherweise am Knie. Und weil es nach vier, fünf Tagen nicht besser wird, gehst Du zum Hausarzt.

Das Wartezimmer ist erfreulicherweise relativ leer. So hat der Allgemeinmediziner genug Zeit, um festzustellen, dass auf den ersten Blick nichts eingeklemmt ist; dass nichts gebrochen ist und dass das Gelenk keine sogenannten Meniskuszeichen aufweist.

„Vielleicht haben Sie sich einfach ein bisschen überlastet“, beruhigt Dich der Hausarzt. „Ich schreibe jetzt ein antientzündliches Schmerzmittel auf und Sie lassen es mal eine oder zwei Wochen ruhiger angehen.“

Erleichtert atmest Du auf, weil es offenbar nicht so schlimm ist, wie es sich anfühlt. Doch dieses Überlastung klingt harmloser als es ist.

Tatsächlich hast Du gerade die erste Stufe der Leitlinien für die Gonarthrose-Behandlung erreicht. (Gon stammt aus dem Griechischen, bedeutet ursprünglich Winkel, bezeichnet hier das Knie.) 25

Mit dem Rezept wirst Du in der Apotheke eine Salbe oder Tabletten mit Ibuprofen bzw. Diclofenac erhalten. Vielleicht hat Dir der Arzt noch den Tipp mit den kühlenden Umschlägen aus dem vorherigen Kapitel gegeben.

Das ist allerdings meist alles, was bei dem Erstauftreten einer potentiell chronischen Erkrankung passiert, die hierzulande rund 34 Milliarden Euro Gesundheitskosten pro Jahr verursacht 26 .

Aus diesem Grund bin ich ein bisschen zwiegespalten, was besser ist: Wenn Deine Beschwerden dank der Medikamente verschwinden, Du nicht erneut zum Arzt gehst und die Arthrose eventuell still voranschreitet; oder wenn Dir die Schmerzbehandlung inklusive Begleitmaßnahmen nicht helfen und Du Dich erneut beim Arzt vorstellen musst.

Laut Leitlinien sollte Dich Dein Hausarzt zwecks Bildgebung zum Facharzt überweisen. In erster Linie wird das der Orthopäde sein. Und dort wird vermutlich als erstes ein Röntgenbild gemacht.

Leider erfolgt die Aufnahme viel zu häufig im Liegen – so geht es schneller. Dabei trägt diese Technik erwiesenermaßen zur Unterdiagnostik, also dem Nichterkennen, der frühen Arthrose bei. Im unbelastenden Röntgenbild erscheint der sogenannte Gelenkspalt zwischen den Knochenenden größer als er in Wirklichkeit ist. Das verleitet den Behandler dazu, den verbliebenen Knorpel – der im Röntgenbild quasi unsichtbar ist – als dicker einzuschätzen als er ist.

Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Bei Beschwerden der unteren Extremitäten wie Hüfte, Knie, Sprunggelenk ist es wichtig, das Gelenk unter Gewichtsbelastung zu röntgen.

Sollten im Verlauf Hinweise auf eine Weichteilschädigung – zum Beispiel der Bänder oder der Menisken – auftauchen, kann Dein Orthopäde eine Kernspin-Aufnahme veranlassen.

Einen Anspruch darauf als Kassenpatient hast Du aber nicht.

Gelingt es mit Hilfe der Bilder nicht, Deine Schmerzen einer konkreten Ursache wie eine akute Entzündung, einen begrenzten Knorpeldefekt, einen eingerissenen Meniskus oder einen Kreuzbanddefekt zuzuordnen, wird erneut mit sogenannten nichtsteroidalen Antirheumatika (kurz NSAR), wie Ibuprofen und Diclofenac, behandelt.

Individuell kann noch eine Bandage zur Entlastung, Physiotherapie oder auch eine allgemeine Lebensstilberatung verordnet werden.

Kortison als Spritze ins Gelenk gibt es nur bei konkreten Hinweisen auf eine Entzündung.

Das ist zum Beispiel bei einem Gelenkerguss der Fall. Alle andere Spritzen, zum Beispiel mit Hyaluronsäure oder körpereigenem Plasma, sind bereits Selbstzahlerleistungen.

Liefert die Bildgebung Hinweise auf eine Verletzung der Bänder bzw. der Menisken, können diese im Rahmen einer Gelenkspiegelung ersetzt, genäht oder geglättet werden.

Gleiches gilt für kleinere, begrenzte Knorpelschäden. Hier kann im Rahmen einer Arthroskopie per Mikrofaktorierung, Mikrodrilling oder autologen Knorpelknochen-Transplantationen versucht werden, das überlastete Knorpel-Areal zu stabilisieren.

Kommt das nicht in Frage, beziehungsweise halten die Beschwerden an, ist laut Behandlungsleitline bei jüngeren Patienten (bis 50 Jahren), die an einer Fehlstellung wie X- oder O-Beinen leiden, die sogenannte Umstellungs-Osteotomie eine weitere Therapie-Option.

Dazu wird der Unterschenkelgelenkteller durch einen Knochenschnitt neu ausgerichtet. Anschließend läuft im Gelenk wieder gesunder Knorpel auf gesundem Knorpel.

Bei allen anderen Patienten mit Arthrose steht an dieser Stelle im Behandlungsalgorithmus bereits der Gelenkersatz. Abweichungen sind selten. „Von den mehr als 83 Millionen Menschen in Deutschland waren im Juli 2022 rund 74 Millionen in 97 Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert“. 27

Im Regelfall bin ich für gesetzlich versicherte Menschen nicht die erste Anlaufstelle, sondern Zweit- oder Drittarzt. Die meisten davon kommen über eigene Recherche zu mir in die Sprechstunde. Oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Nur sehr selten auf kollegiale Zuweisung.

Wenn jemand sagt: „Mein Orthopäde hat Sie mir empfohlen“, gibt es dafür meist zwei Gründe. Der Erste: Der Kollege war in einem Weiterbildungsseminar bei mir. So wie kürzlich, als ich in der Beta Klinik vor zehn Ärzten die Stammzellenbehandlung an sechs Patienten demonstrierte.

Bei solchen Veranstaltungen sind immer Kollegen dabei, die mir bereits Patienten zugewiesen haben und aufgrund der positiven Ergebnisse das Verfahren erlernen wollen.

„Das Knie wollen wir in Zukunft selbst machen. Hüfte und Rücken schicken wir aber weiterhin zu Dir“, sagen sie zum Beipiel, weil sie nicht die technische Ausstattung wie einen Computertomographen haben.

Der Zweite: Die andere Gruppe, die uns geschickt wird, sind oft Patienten, die von Kollegen weggelobt werden, weil sie diese Patienten nicht mehr in ihrer Praxis haben wollen: Die Armen haben alles bekommen, was die Kollegen verordnen können. Trotzdem sind sie nicht zufrieden und eine Prothese wollen sie auch nicht.

Es gibt genügend Gründe, warum jemand keine Prothese haben oder zumindest jetzt noch nicht haben will. Ich erinnere mich gut an den Wanderschäfer. 59 Jahre alt.

„Nächstes Jahr gehe ich in Rente“, erzählte er mir. „Bis dahin verkaufe ich meine Herde. Ich habe niemanden, der die Tiere übernimmt.

Um die Schafe weiden zu lassen, stelle ich einmal pro Woche 1.000 Meter Zaun auf. Danach geht es weiter. Es reicht mir, wenn Sie mich bis ins nächste Jahr bringen. Dann habe ich alles organisiert.“

Eine Knieprothese wäre für den Mann keine kurzfristige Option gewesen. Doch mit seinem Wunsch nach Beschwerdelinderung ohne Gelenkersatz fällt dieser Mensch aus dem Behandlungsalgorithmus der gesetzlichen Krankenversicherungen.

Laut Sozialgesetz müssen „die Leistungen … ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ 28

Diese Formulierung erinnert mich an die Schule. Da genügt ausreichend, damit man versetzt wird. Letztlich ist aber klar, dass so nur ein Bruchteil der Leistungen abgedeckt werden, die möglich sind.

Ich wiederhole mich, ich weiß. Aber es ist wichtig: Eine der Grundbedingungen für eine erfolgreiche Behandlung ist der Faktor Zeit.

In einer orthopädischen Standardpraxis mit 60 und mehr Patienten am Tag ist Zeit allerdings Mangelware – auch aus diesem Grund werden in Deutschland mehr Gelenke ersetzt, als notwendig sind.

„Sie sollten sich mehr bewegen, sich dehnen, Gewicht reduzieren“. All diese Basisinformationen kann ein Kassenarzt im Grunde gebetsmühlenartig für einen Großteil seiner Patienten herunterleiern – wohlwissend, dass sie in den allermeisten Fällen nicht befolgt werden.

Woran das liegt? Sind die Patienten alle dumm? Haben wir Ärzte allein vom Baum der Weisheit genascht? Nein. Das Problem ist, dass die Kassenberatung der individuellen Situation der Menschen nicht wirklich gerecht wird.

In den meisten Fällen versagen die gutgemeinten Ratschläge der Kollegen an festgefahrenen Alltagsroutinen der Patienten. Sind die Eintrittshürden zu schwierig, fangen die meisten Menschen gar nicht erst an. Erfolgreicher wäre es, eine Veränderung des Lebensstils derart zu gestalten, dass sie auch in das Leben der Betroffenen passen. Genau das braucht mehr Zeit, als die Abrechnungsziffer der gesetzlichen Krankenkassen bietet.

Ein weiteres Problemfeld ist die Physiotherapie, die sehr zurückhaltend verordnet wird. Wer es nicht weiß: Die reguläre Krankengymnastikeinheit von Kassenpatienten dauert 20 Minuten.

Jedes Rezept gilt für maximal sechs Anwendungen. Doch selbst bei diesen Verordnungen ist der Orthopäde nicht frei. In einer Durchschnittspraxis mit 1.200 bis 1.500 Arthrosepatienten pro Quartal, hat die Kollegin oder der Kollege mit Kassenzulassung nur ein Budget für ein Drittel seiner Patienten. 1.200 bis 1.500 Patienten stehen hierzulande also maximal 400 bis 500 Rezepten für Physiotherapie gegenüber. Verordnet Dein Arzt mehr, droht ihm ein Regress.

Einziger Lichtblick am Ende des Tunnels sind momentan digitale Gesundheitsanwendungen. Da habe ich selbst das Konzept für die am meisten verordnete orthopädische App entwickelt – ViViRa.

Diese digitale Gesundheitsanwendung auf Rezept hat den Vorteil, dass sie derzeit nicht budgetiert ist – leider wird sie von den Kollegen bislang jedoch noch zu wenig verordnet.

Das ist anachronistisch, denn seit wenigen Wochen gibt es eine Studie, die belegt, dass eine Verordnung der ViViRa-App deutlich erfolgreicher ist als Krankengymnastik.

„Nach zwei Wochen gaben Patient der Interventionsgruppe mit ViViRa-Therapie (108 Teilnehmer) eine Schmerzreduktion von 38 Prozent an, nach zwölf Wochen um 53 Prozent. Sie war zu jedem Messzeitpunkt größer als die in der Kontrollgruppe mit Physiotherapie (105 Teilnehmer).“ 29

Woher der Erfolg kommt? Das liegt an der niedrigen Einstiegshürde über das Smartphone.

Wenn ich Rituale verändern möchte, wenn ich Bewegungsverhalten ändern möchte, muss ich das häufig tun – am besten täglich. Habe ich den Therapeuten bei mir auf dem Handy in der Hosentasche und habe ich ein motivierendes Konzept, wird es öfter durchgeführt.

Gerade bei Bewegung zählt die Frequenz.

Kurz zusammengefasst – was ich meinen Freunden, meiner Familie und Dir rate:

"DU bist für DEINEN Knorpel verantwortlich!"

Merkhilfe

„Nicht weil es schwierig ist, wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwierig“

Seneca, der Jüngere

Die Entdeckung des Steroidhormons Cortison im Jahr 1935 war eine Sternstunde in der Behandlung von Gelenkschmerzen. Genauso wie die Patentierung von Ibuprofen 1961 beziehungsweise von Diclofenac 1966 in der Substanzgruppe der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR).

Doch bei Arthrose im chronischen Verlauf führen die schnell wirksamen antientzündlichen, schmerzlindernden Substanzen im längeren Verlauf zu zahlreichen, unerwünschten Nebenwirkungen.

Eine Forschergruppe der Universität Duisburg-Essen konnte 2016 zeigen, dass die vierwöchige Therapie mit täglichen Kohlwickeln nicht nur die Kniebeweglichkeit ähnlich effektiv verbessert wie die tägliche Anwendung eines Diclofenac-Gels, sondern auch die Schmerzintensität in gleichem Maße senkt. 30 „Nach zwölf Wochen war die Anwendung von Kohlwickeln dem Schmerzgel überlegen und besserte weiterhin die Lebensqualität. Deutlich abgeschlagen zeigte sich die rein orale Therapie mit Antiphlogistika.“ 31

Genau das ist Deine vierte Challenge. Beim nächsten Einkauf bringst Du aus der Gemüseabteilung des Supermarkts einen Weiß- oder Wirsingkohl mit und probierst zu Hause die Anwendung aus – egal, ob Du Beschwerden hast oder nicht.

Du bereitest ein Schneidebrett vor, das Du mit einem Mulltuch abdeckst. Danach trennst Du zwei bis drei der großen, äußeren Blätter vom Kohlkopf ab, walzt sie mit einem Nudelholz auf dem Schneidebrett aus, bis Gemüsesaft austritt.

Anschließend platzierst Du die Blätter rund um die Kniescheibe entlang des Gelenkspalts, bedeckst das Ganze mit dem mit Gemüsesaft befeuchteten Mulltuch. Darauf folgen ein trockenes Trägertuch, z. B. ein Geschirrtuch und eine elastische Bandage zur rutschsicheren Befestigung.

Je länger die Einwirkzeit, desto stärker die schmerzlindernde und abschwellende Wirkung der im Kohlsaft enthaltenen Bitterstoffe (Flavonoide), so die Beobachtung. Deshalb wird dazu geraten, den Wickel über Nacht im Bett zu tragen.

Fühlt sich das Ganze gut für Dich an, führe die Probeanwendungen an anderer Stelle fort – zum Beispiel am Sprunggelenk oder am Ellenbogen. Eventuell brauchst Du am Arm Hilfe, weil Du nur eine Hand frei hast.

Als Nebenwirkung wird in der Studie gelegentlich eine Hautreaktion mit Juckreiz beschrieben, die nach Entfernung der Kohlblätter schnell verschwindet. Reagierst Du allergisch, kannst Du alternativ Quark oder Retterspitz einsetzen. Frisch nach einem Eingriff (z. B. Gelenkspiegelung) solltest Du keinen Wickel auflegen.

(Quelle: „Naturheilkundliche Ansätze bei Gonarthrose“ von Beate von Busch und Jost Langhorst (2000-2019)