Schmerzlinderung mit Kälte und Eis

Beim Kampfsporttraining benutzte unser Coach regelmäßig die Redewendung: Was Dich nicht tötet, macht Dich stärker. Im Original lautet der Satz: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ und stammt von dem Philosophen Friedrich Wilhelm Nietzsche. 66

Das geflügelte Wort beschreibt seine Idee vom Übermenschen, der durch Schaden wohlmöglich nicht klüger, dafür aber stärker wird – im Gegensatz zum normalen Menschen, der zugrunde geht.

Beim Wein allein ist Nietzsche auf diesen Aphorismus wohl nicht gekommen. Er hat sich gern vom US-amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson 67 inspirieren lassen. 68

Der sagte: „Im Allgemeinen ist jedes Übel, dem wir uns nicht ergeben, unser Wohltäter“.

Superneu war dieser Gedanke nicht. Doch immerhin beschreiben Emersons Worte wesentlich besser das Prinzip, was wir in der Medizin seit Jahrhunderten als Hormesis bezeichnen.

Das griechische Wort für Anregung und Anstoß beschreibt „das Phänomen, dass geringe Dosen schädlicher oder giftiger Substanzen und stressauslösender Umweltfaktoren eine positive Wirkung auf Organismen haben können“ 69 – und zwar bei allen Menschen.

Das bringt Dich und mich zum zweiten Klassiker der Medizin, zu Paracelsus, der sagte:

„Alein die dosis macht, das ein ding kein gift ist“. Paracelsus 70 ist der heutige Namenspatron unzähliger Apotheken und Kliniken und legte vor einem halben Tausend von Jahren die Grundlage für den Heilreiz der Hormesis.

Dem Gedanken der kräftigenden Störung folgen bis heute zahlreiche Therapieformen: Sei es die Akupunktur oder das Dry Needling aus dem vorherigen Kapitel, die Behandlungen mit Stoßwellen, Mikrostrom und Magnetfeld (darum geht es gleich), die Sporttherapie, das naturkundliche Heilfasten, das Apnoe-Training (Luftanhalten) oder auch die Kältetherapie zum Beispiel nach Sebastian Kneipp.

Ein moderneres Wort für Hormesis wäre Disruption. Schließlich ist unser Körper ein Meister darin, sogenannte Mikroverletzungen durch kurzfristige Überlastungen zu reparieren und sich für die Zukunft zu adaptieren.

Gehst Du zum Beispiel nach längerer Zeit das erste Mal wieder laufen, stellt sich häufig am nächsten Tag ein heftiger Muskelkater ein. Der Körper ist dann 48 bis 72 Stunden damit beschäftigt, die entstandenen Gewebeschäden zu reparieren.

Über die Reparatur hinaus finden weitere Anpassungsvorgänge statt. Damit wappnet sich Dein Körper für zukünftige Challenges. Hyperkompensation nennen wir Sportmediziner diesen Prozess.

Doch was, wenn die Motivation und Möglichkeit zur Bewegung durch eine Arthrose gleich null sind? Dann ist gerade Kälte ein wunderbarer Einstieg, um die festgefahrenen, körpereigenen Heilkräfte ein bisschen anzuschubsen.

Die Linderung funktioniert, egal unter welcher Einschränkung Du leidest, und unwichtig, ob Du über die PECH-Regel bei Sportverletzung (Pause, Eis, Compression, Hochlegen), Pfarrer Kneipp oder über Wim Hof zur Kälte kommst.

The Iceman, wie der niederländische Extremsportler, der 26 internationale Rekorde im Ertragen extremer Kälte hält, 71 habe ich persönlich 2016 auf einem Kongress in München kennengelernt. Wir waren beide als Referenten eingeladen.

Ich sprach damals über meinen Kerngedanken Bewegungsanalyse. Also: wenn ich plane, Bewegung als Therapeutikum einzusetzen, muss ich wissen, welche Bewegungen meine Patienten auszuführen in der Lage sind und welche sie eventuell schädigen.

Anschließend sprach Wim Hof. Über die schweren Auseinandersetzungen des Menschen mit der Kälte im Verlauf der Geschichte; wie uns – trotz des modernen Wohnungsbaus – die Urangst vorm Erfrieren bis heute beherrscht; und wie stark die Vermeidung der Begegnung mit Kälte in den letzten 50 Jahren unserer Gesundheit geschadet hat.

Ich nahm damals ein paar Übungsvorschläge mit nach Hause, mit denen ich meinen inneren Schweinehund überlisten sollte. Allerdings dachte ich noch nicht daran, sie auch umzusetzen.

Das kam erst vor drei Jahren, 2020, zum Ende des ersten Jahres der Corona-Pandemie. Ich hatte enorm viel Stress im Beruf, suchte wiedereinmal für mich selbst nach Hilfsmitteln in meinem Therapieköcher.

Als ersten Pfeil zog ich erneut bewusstes Atmen aus dem Köcher. Du erinnerst Dich? Die Hausapotheke und das Navy Seals Box Breathing 72 ?

Da das allein nicht ausreichte, kramte ich nochmal im Therapieköcher herum, erinnerte mich an Wim Hof und fing in kleinen Schritten mit einer Kälte-Challenge an: Jeden Morgen kaltes Duschen.

Ich schraubte den Brausekopf vom Schlauch ab und begann mit fünf Sekunden. Ich brauste den herzfernen, rechten Fuß kalt ab. Führte den drucklosen Strahl über die Außenseite des Unterschenkels bis zur Hüfte hoch und über die Innenseite des Beines zurück. Geschafft.

Am nächsten Tag wurde das Ritual um fünf Sekunden verlängert. So wie an allen folgenden Tagen. Nach dem rechten Bein kam das linke dran. Am übernächsten Tag beide Beine und der rechte Arm. Am vierten Tag beide Beine und beide Arme. Am fünften Tag zusätzlich der Rücken. Am sechsten Tag gar noch Brust und Bauch. Am siebten Tag Gesicht und Kopf.

Nach zwei Wochen duschte ich bereits eine ganze Minute kalt. Und das Spannende war: Von mal zu mal ging es mir besser. Nicht nur mein Körper fühlte sich erholter und widerstandsfähiger an. Ich spürte, wie sich meine Stimmung und meine Resilienz verbesserten, wie ich dem Stress in der Praxis entspannter begegnen konnte.

Zugegeben, bis ich das erste Mal in die Eiswanne gestiegen bin, verging nochmal ein Dreivierteljahr. Und auch das mache ich nicht regelmäßig. Mir reicht es, im Alltag das Gesicht oder die Hände in Eiswasser einzutauchen.

Letztlich muss und kann jeder seinen Weg finden, wie weit er bei der Kälte gehen mag. Du kannst sie, wie gesagt, hervorragend allein zur lokalen Behandlung gegen Schmerzen einsetzen. Per Coolpack, Eis oder kaltem Guss.

Das funktioniert gut – insbesondere, wenn sich ein Gelenk warm anfühlt, entzündet ist oder wehtut. Und wenn Du das Gefühl hast, dass Kälte Dir guttut. Denk dran: Wenn Dir Wärme vom Gefühl her lieber ist, probiere das erstmal aus.

Lokal arbeiten wir auch in der Klinik damit, wenn wir mit der Kohlendioxyd-Kältepistole die Einstichstelle für die Spritze mit Hyaluronsäure oder dem plättchenreichen Plasma betäuben. Oder die Entnahmestelle am Bauch für die Stammzellen mit Kälte nachbehandeln.

Du kannst aber auch eine zentrale Schmerzlinderung mit Kälte anstreben. Dazu steht Dir das kalte Duschen nach Kneipp oder das Eisbaden nach Wim Hof zur Verfügung. Es gibt zudem Zentren und Kliniken, die setzen spezielle Kältekammern mit bis zu minus 110 Grad ein. Entsprechende Adressen in der Nähe findest Du ohne Probleme im Internet.

In unserer Praxis in Bonn bieten wir unseren Patienten als ultraschnelle Kälteanwendung bei akuten und chronischen Schmerzen neuerdings das professionelle Alpha Cooling an 73 .

Das besondere dabei ist, dass die Kälte zwar über die Hände zugeführt wird, sie jedoch durch die Vakuumapplikation trotzdem zentral im Körper wirkt.

Normalerweise führt Kälte an den Händen dazu, dass sich die Blutgefäße zusammenziehen.

Dadurch wird der Zustrom von wärmerem und der Abfluss von kühlerem Blut erheblich verlangsamt – egal ob wir einen Schneemann ohne Handschuhe bauen oder unsere Hände therapeutisch in Eiswasser baden.

Beim Alpha Cooling werden dagegen die Hände durch einen Trick zum Wärmetauscher für den Körper: Die Kältebehandlung erfolgt in einer Unterdruckbox. Das Vakum hindert die Gefäße daran, sich zusammenziehen.

Das Blut strömt während der computergesteuerten Kaskadenbehandlung nahezu ungebremst in beide Extremitäten, wird dann in den verzweigten Gefäßbögen der Handflächen heruntergekühlt und von dort in den Körper zurückgepumpt.

Innerhalb von zwei Minuten wird die Kerntemperatur des Körpers um bis zu eineinhalb Grad gesenkt. Das reicht aus, um die positiven, körpereigenen Prozesse zu aktivieren, die zu einer zentralen Schmerzlinderung führen.

Üblicherweise treten die ersten Erfolge nach zwei bis drei Anwendungen ein. Manchmal setzt die Linderung sofort während der Behandlung ein, manchmal auch erst nach Tagen.

Manchmal leider auch gar nicht.

Studien weisen deshalb darauf hin, dass die Unterdruckkühlung stets mehrfach wiederholt werden sollte. Bei uns machen die Patienten zwischen drei und fünf Anwendungen, die jeweils zwei Minuten dauern.

Deshalb wird das Alpha Cooling überwiegend von Menschen aus der Umgebung genutzt, insbesondere, wenn sie wegen der Stammzellbehandlung oder anderer Therapien sowieso bei uns im Haus sind.

Selbst wenn mir die Patienten berichten, dass die kurze Handbehandlung angenehmer sei als kaltes Duschen: Lebst Du in Hamburg, Berlin oder München, dann macht es keinen Sinn, dafür extra nach Bonn zu fahren.

Besser ist es, dass Du die Kälte nutzt, die Du zur Hand hast. Egal, ob Kneipp-Guss, Eisbad, Kältekammer oder Unterdruckkühlung. Kälte ist immer gut. Inzwischen ist es wissenschaftlicher Konsens, dass Kälte im Notfall gut wirkt. Auch dass die zentrale Schmerzwahrnehmung bei all diesen Verfahren herabgesenkt wird, stellt niemand in Frage. Und ebenfalls, dass es für die Gefäße gut ist.

Ja, ich weiß, das Buch heißt Die Arthrose Sprechstunde. Und ja, wir behalten die Arthrose weiter im Fokus. Tatächlich sind gesunde Gefäße auch nicht nur kardiologisch-internistisch von Bedeutung.

Je besser Deine Gefäße trainiert sind, desto größter sind die globalen Vorteile für Deine Gesundheit. Für die Orthopädie bedeutet das: Alles, was mit Gefäßen versorgt ist, profitiert von Kälte – Muskeln, Faszien, Bandapparat und Knochen. Letzterer bildet wiederum die Basis für den Knorpel.

Im Gegenteil ist auch bekannt, dass beispielsweise Rauchen die Gefäße verengt und sich schädigend auf die Knochenheilung und den Knorpel auswirkt. Ich will hier gar nicht die Anti-Nikotin-Glocke läuten. Das ist vermutlich inzwischen bei jedem angekommen. Aber wenn Du von dem Laster bislang noch nicht losgekommen bist, dann gehe wenigstens kalt duschen.

Denn Kälte trainiert noch etwas ganz besonders Wichtiges. Für mich steht es fast an erster Stelle (auch wenn es hier zum Schluss kommt): Kälte trainiert Deine mentale Stärke, Deinen Willen, Deinen Muskel Gehirn.

Für eine Knie- oder Hüftprothese brauchst Du Überwindung und Vertrauen zum Arzt. Für die Sanierung des Knorpels und den Erhalt des Gelenks brauchst Du ein starkes Mindset. Das ist der Grund dafür, es gleich morgen früh beim Duschen auszuprobieren.

Je regelmäßiger Du das Kältetraining machst, je länger Du dabei bleibst, umso besser fühlst Du dich körperlich und mental.

Kurz zusammengefasst – was ich meinen Freunden, meiner Familie und Dir rate:

Natürlich ist jede und jeder willkommen. Doch niemand muss für eine Kältetherapie den Weg nach Bonn auf sich nehmen.

"Gute Gewohnheiten sind schwer zu entwickeln, aber
es ist leicht mit ihnen zu leben. Umgekehrt
sind schlechte Angewohnheiten leicht zu entwickeln,
aber es ist schwer mit ihnen zu leben."

Merkhilfe

„Nichts in der Welt ist weicher und schwächer als Wasser,
und doch gibt es nichts, das wie Wasser Starres und Hartes bezwingt…“

Laotse

Ein gesunder Knorpel besteht zu 70 bis 80 Prozent aus Wasser. Dieser Wasserkisseneffekt sorgt für die einzigartigen, elastischen, stoßdämpfenden und reibungsarmen Eigenschaften.

Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse haben drei von zehn Erwachsenen Zweifel, ob sie genug trinken, um den Flüssigkeitsbedarf des Körpers zu decken. 74

Als Richtwert gelten bei Erwachsenen 0,035 Liter pro Kilogramm Körpergewicht. Davon stellt der Köper rund 300 Milliliter aus Stoffwechselvorgängen selbst her. Circa einen Liter Wasser gewinnen wir aus fester Nahrung. 75

Im Normalfall solltest Du also rund eineinhalb Liter pro Tag über Getränke zu Dir nehmen. Es sei denn, es ist sehr warm oder Du bewegst Dich viel, dann mehr. Als Faustregel gilt: acht Gläser pro Tag, bei Arthrose bevorzugt ein Mineralwasser, das reich an Kalzium, Magnesium und Hydrogencarbonat ist. 76

Genau das ist Deine elfte Challenge. In den nächsten fünf Tagen trinkst Du täglich zweimal eine 0,7 Liter-Flasche Mineralwasser, egal ob still oder mit Kohlensäure. Am besten glasweise über den Tag verteilt. Nach dem Aufstehen, zum Frühstück, am Vormittag, zur Mittagspause, am Nachmittag, vorm Abendessen, nach dem Abendessen, vorm Zubettgehen.

Fühlst Du Dich besser, führe die Challenge fort, eigne sie Dir an, mache sie zu Deiner Gewohnheit Am besten für immer. Warum?

Mineralwässer sind gut für den Knochen und was gut für den Knochen ist, tut auch dem darüber liegenden Knorpel gut. 77

Aufgrund ständiger Kompression sind insbesondere gewichtsbelastete Gelenke erhöhtem Wasserverlust ausgesetzt. 78 Dieser wird ausgeglichen, wenn wir unseren Körper ausreichend mit Flüssigkeit versorgen. Dieser Mechanismus funktioniert, laut Studien, bis ins hohe Alter 79 .

Eine ausreichende Trinkmenge unterstützt Dich bei dem Ziel der Gewichtsregulation. Mein Tipp: Wenn Du mit einer Gewohnheit oder einem Verlangen ringst, trink vorab ein Glass Wasser und warte zehn Minuten, bevor Du ihr nachgibst. In vielen Fällen verschwindet der Drang.