Einführung
Warum lautet der Titel dieses Buches Gynaecology Revisited [Anmerkung: übersetzbar als Gynäkologie aus einem anderen Blickwinkel] und nicht „Gynäkologie und Geburtshilfe in der chinesischen Medizin“ oder ähnlich? Nun, Ich habe das Wort „revisited“ gewählt, weil die meisten Leser bestimmt schon zahlreiche Texte zu diesem Thema gelesen haben und weil dieser Text nicht nur für den fortgeschritteneren Schüler geschrieben wurde, sondern auch für die professionelle Therapeutin bzw. den professionellen Therapeuten, die bzw. der die Grundlagen der chinesischen und heutigen Medizin in einem Band zur Hand haben möchte. Er greift das Thema knapp und übergreifend wieder auf und verwendet dabei die Terminologie unseres Berufes und die traditionellen Namen der Arzneimittel und Rezepturen. Er konzentriert sich auf die Kernaussagen der chinesischen Gynäkologie und beinhaltet dabei gleichzeitig das Wissen der heutigen Medizin. In der Tat ist es das Buch, das ich immer gesucht habe, um nicht mehrere Texte sowohl zu den Paradigmen der chinesischen Medizin als auch zu denen der westlichen Medizin zu Rate ziehen zu müssen.
Und warum tauchen die Wörter „Geburtshilfe“ bzw. „Obstetrik“ im Titel nicht auf? Nun, das Wort „Gynäkologie“ leitet sich von den griechischen Wörtern gyne und logos ab und bedeutet „Frauen-Kunde“, was alle gesundheitsbezogenen Themen umfasst, auch die, die üblicherweise der „Geburtshilfe“ zugeordnet werden. In der chinesischen Medizin wird die Geburtshilfe als ein Zweig der Gynäkologie angesehen und nicht als ein eigenständiges Fach. Das Wort „Obstetrik“ leitet sich vom lateinischen Wort obstare, „daneben oder gegenüber stehen“ ab und beschreibt die Aufgabe der Hebamme, die Geburt zu beobachten und bei Bedarf helfend einzugreifen. Probleme während der Schwangerschaft oder in der postnatalen Phase wurden mit diesem Begriff ursprünglich nicht bezeichnet.
Interessanterweise ist es heutzutage nur selten der Fall, dass Geburtshelfer „daneben stehen“. Die Geburtshilfe beinhaltet inzwischen Interventionen des Geburtshelfers, während die Beobachtung der Geburt und die Unterstützung der Mutter unter die Zuständigkeit der Hebamme fallen. Ebenfalls interessant ist die klinische Beobachtung durch Hebammen in modernen Geburtszentren und bei Hausgeburten, dass die Inzidenz von Komplikationen durch niedrigere Interventionsraten reduziert wird und dass, wenn doch Komplikationen auftreten, die Genesungsraten besser sind, wenn die Intervention auf ein Minimum reduziert wird.
In den vergangenen Jahrzehnten sind Geburtszentren in Krankenhäusern aufgeblüht, und Hausgeburten sind nichts Außergewöhnliches mehr. Als Folge davon haben sich für viele Frauen sowohl die Entbindung als auch die postpartalen Erfahrungen gewaltig verbessert. Diejenigen, die eine fundierte Entscheidung zur Geburt treffen wollen, finden Informationen auf der Internet-Seite der Maternity Coalition unter www.maternitycoalition.org.au. Die Maternity Coalition ist eine Dachorganisation mit einer großen Auswahl an Organisationsmitgliedern in ganz Australien. Sie führt Bildungsveranstaltungen zu allen Aspekten der Geburt und des Stillens durch und verfügt über eine Liste von privat praktizierenden Hebammen, die Hausgeburten begleiten. Es besteht die Gelegenheit, über die Internet-Seite online zu diskutieren.
Ich hoffe, dass dieses Buch diejenigen unterstützt und ermuntert, die das Gebiet der Gesundheit der Frau betreten, auf dem die chinesische Medizin eine sehr wertvolle Rolle spielt.
Der Zweck dieses Buches ist es, mit chinesischer Medizin arbeitenden westlichen Therapeuten praktische Grundlagen der chinesischen Gynäkologie zur Verfügung zu stellen, und zwar in Form eines einfachen Textes nach dem Vorbild der in China erhältlichen Texte. Um ihn knapp zu halten, werden die Arzneimittel und ihre Wirkungen nicht ausführlich erklärt, denn auf diese kann in einem der bereits verfügbaren ausgezeichneten Texte zur Materia medica zugegriffen werden. Aus dem gleichen Grund habe ich es vorgezogen, bei den einzelnen Krankheitsbildern keine umfangreichen Akupunkturpunktrezepturen zu nennen; ich war der Ansicht, dass leicht nachschlagbare Tabellen im Anhang Wiederholungen vermeiden können. Schließlich habe ich es vermieden, Fallbeispiele aufzuführen und meine persönlichen Erfahrungen zu schildern. Wenn ich dies getan hätte, wäre dieses Buch zu einem 700-seitigen Türstopper geworden, also genau dem, was ich vermeiden wollte. Es ist Aufgabe des Therapeuten, seine eigenen diagnostischen Fähigkeiten einzusetzen und diese mit dem Wissen und den Handlungsempfehlungen, die dieses Buch bieten möchte, zu kombinieren.
Beim Gebrauch dieses Buches darf man daher nie die Notwendigkeit einer sorgfältigen Untersuchung und Beurteilung des Patienten entsprechend den traditionellen Methoden der vier diagnostischen Verfahren und acht Leitkriterien aus den Augen verlieren. Es bedarf viele Jahre praktischer Tätigkeit, um diese Fähigkeiten zu verfeinern und sie mit der Kenntnis der Arzneimittel und ihrer Kombinationen zu verbinden. Ein Fallbeispiel in einem Lehrbuch kann nicht alle kaum merklichen Zeichen wiedergeben, die ein erfahrener Therapeut bei einem Patienten beobachtet, wobei genau diese zur intuitiven Diagnose und zu der Auswahl an Arzneimitteln führen, die in dieser Situation am zweckmäßigsten ist. Mit „intuitiv“ meine ich die Fähigkeit des Geistes, unterbewusst zu analysieren und den Schlüssel zum vorliegenden Leiden zu erkennen. Darin liegt die Kunst der chinesischen Medizin, und für die meisten Therapeuten ist der intuitive Prozess, der sich durch Erfahrung und Überzeugung entwickelt, effektiver als eine mühevolle intellektuelle Analyse und Rechtfertigung. Was die Auswahl von Arzneimitteln betrifft, so kann der Arzneimitteltherapeut bei einem Patienten Yu Jin (Curcumae longae, Tb) und gleichzeitig bei einem anderen Dan Shen (Salviae miltiorrhizae, Rx) einsetzen, ohne genau erklären zu können, warum.
Wenn man dieses Buch als Leitfaden für die klinische Praxis nutzt, ist es notwendig, die Symptomkonfigurationen zu verstehen und dabei auch die Tatsache zu akzeptieren, dass der Patient, der ein „Lehrbuchfall“ ist, nur selten existiert. Häufiger finden sich mehrere Symptomkonfigurationen gleichzeitig bei ein und demselben Patienten, und oft liegt auch mehr als ein „Leiden“ vor. Deshalb sollte man sich mehr an den Prinzipien der klassischen Rezepturen als an ihren einzelnen Bestandteilen orientieren, so dass oftmals die wichtigsten Ingredienzen oder wichtigsten Prinzipien von zwei oder mehr Rezepturen eingesetzt werden.
Akupunktur stellt eine ausgezeichnete Ergänzung dar. Ebenso wie bei den Arzneimittelrezepturen müssen an den ausgewählten Hauptakupunkturpunkten Modifikationen vorgenommen werden. Wenn beispielsweise eine Disharmonie der Funktionskreise Leber und Milz (gan pi) besteht, können Le 3 (taichong) und Ma 36 (zusanli) eingesetzt werden; liegt Hitze (re) vor, kann statt Ma 36 (zusanli) Mi 6 (sanyinjiao) gewählt werden; bei Ängstlichkeit kann zusätzlich ein Punkt wie He 7 (shenmen) oder Yintang eingesetzt werden, wenn eine energetische Schwäche (xu) des Yin vorliegt, kann zusätzlich Ni 6 (zhaohai) oder Le 8 (ququan) genadelt werden, und bei energetischer Schwäche (xu) des Yang kann Moxibustion zum Einsatz kommen. Diejenigen, die mit Akupunktur behandeln möchten, sollten ihre Punktauswahl auf das Behandlungsprinzip stützen und die Vorschläge in den Tabellen im Anhang zu Rate ziehen. Es existieren bereits hervorragende Texte zu den Wirkungen und zur Kombination von Akupunkturpunkten; dies ist jedoch nicht der Schwerpunkt dieses Buches. Den Arzneimittelrezepturen folgen bei den einzelnen Krankheitsbildern einige Vorschläge für Akupunkturpunkte. Dies sind keineswegs die einzigen Punkte, die eingesetzt werden können, und Alternativen können den Tabellen 4 und 5 im Anhang entnommen werden. Erfahrene Therapeuten werden zweifellos ihre eigenen bevorzugten Kombinationen haben.
Alternativ kann der Therapeut auch eine minimalistische Behandlung wählen, indem er einen einzigen Punkt aussucht und damit gegen die Wurzel der Störung vorgeht.
Dieser Text richtet sich an Studenten im letzten Studienjahr sowie an Therapeuten. Ich bin sicher, dass die Studenten von ihren Lehrern angeleitet werden und dass die Therapeuten die Prinzipien der Bestimmung der Symptomkonfigurationen kennen. Teilweise muss bei einem bestimmten Leiden mehr als ein Kapitel berücksichtigt werden, und manchmal liegt die Lösung in den Modifikationen. Dies möchte ich am Beispiel eines Myoms verdeutlichen, das mit starker Blutung einhergeht: Wenn eine starke Blutung vorliegt, sollte auch das Kapitel zu starken Blutungen zu Rate gezogen werden und nicht nur das Kapitel zu Verhärtungen und Massen, und letzten Endes sind die Modifikationen der Schlüssel zu einer effizienten Behandlung. Unabhängig davon, wie viele eigene Fallbeispiele mit unterschiedlichen Symptomkonfigurationen, Kombinationen und Permutationen ein Autor in einem Text aufführt, ist es schließlich Aufgabe des Therapeuten, die richtige Diagnose zu stellen. Ein Lehrbuch ist nur ein Lehrbuch – es kann nur ein Gerüst mit den wesentlichen Symptomkonfigurationen und Basisrezepten bieten und einige wenige Modifikationsbeispiele nennen. Es kann jedoch nicht anstelle des Therapeuten die Diagnose stellen.