Kapitel 5
K
risten versuchte auf dem Weg durch das Revier aufzupassen, wohin sie gingen, aber ihre Gedanken wanderten ständig umher. Warum hatten die Drachen ihre neue Vorgesetzte genötigt, sie in das SWAT-Team aufzunehmen? Warum hatte sie so interessiert nach den Pixies gefragt? Drachen und Pixies gehörten einfach zu der Welt, in der sie lebte, aber das bedeutete nicht, dass sie etwas mit ihnen zu tun hatte...
oder etwa doch?
Sie fühlte sich, als würde sich alle Puzzleteile um sie herum bewegen und verschieben und doch konnte sie nicht sehen, wohin sie letztendlich gehören würden. Das alles war mehr als frustrierend, aber als der Captain sie schließlich in den Mannschaftsraum führte, zwang sie sich, ihre Gedanken vorerst zu verdrängen. Jetzt war nicht die Zeit, über Drachen nachzudenken. Sie musste mit den Leuten arbeiten, auf die sie in diesem Raum treffen würde. Es war ihr Leben, auf das sie in erster Linie achten musste und die Menschen in diesem Raum würden ihr Leben ebenfalls schützen – nicht die Drachen und schon gar nicht irgendwelche Pixies.
»Sergeant Jones und Sergeant Goodman haben Sie bereits kennengelernt«, sagte Captain Hansen herzlich. Jonesy schaute Kristen nur finster an, während er in eine kugelsichere Weste schlüpfte – selbst die war ihm viel zu groß und hing an ihm wie ein Kartoffelsack. Butters allerdings zwinkerte ihr zu.
Sie lächelte zurück. Wenigstens eine Person hatte ihre Anwesenheit akzeptiert.
Captain Hansen deutete auf einen großen Mann, der noch schlanker war als Jonesy. »Der Mann mit der Brille ist Sergeant Jared Polanski.« Er las gerade voll konzentriert in einem Buch.
»Beanpole
ist mein Späher«, sagte Butters mit einem Nicken zu Polanski, »und lass dich nicht von seiner Brille täuschen. Er braucht sie nur zum Lesen, aber ansonsten hat er Augen wie ein Luchs, wenn es darum geht, mich am Leben zu erhalten.«
»Ich versuche nur, meine Arbeit zu tun«, warf Beanpole-Polanski ein.
»Es ist schön, dich kennenzulernen, Beanpole.« Sie ging davon aus, dass sie den Spitznamen auch gleich verwenden konnte, wenn er schon so vorgestellt wurde. Außerdem fand sie den Namen passend, er hatte wirklich etwas von einer kräftigen Bohnenstange.
»Gleichfalls. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«
Es war also mindestens noch eine normale Person in ihrem Team. Welch große Erleichterung.
»Das hier ist Corporal Lyn Hernandez, Sprengstoffexpertin.« Captain Hansen zeigte auf eine Frau in einem Tank-Top, welche gerade ein langärmeliges Hemd über ihre tätowierten Arme zog.
»Was, kein Spitzname?«, fragte Kristen verwundert.
»Nein. Kein verdammter Spitzname«, spuckte Hernandez aus. »Dafür hältst du das hier? Eine Art Verein, in dem wir alle herumhängen und uns gegenseitig einen runterholen?«
»Du musst Hernandez verzeihen«, sagte Butters beschwichtigend. Sein ruhiger Südstaatenakzent war eine willkommene Abwechslung zur Bissigkeit in der Stimme der Frau. »Wir glauben mittlerweile, dass sie ihren Sinn für Humor vor ein paar Jahren mit C4 in die Luft gejagt hat.«
»Leck mich, Butters.« Hernandez drehte Kristen den Rücken zu und schnappte sich einen Gürtel, der ein paar Staufächer mehr hatte als die Standardausrüstung der Polizei.
»Hunde, die bellen, beißen nicht«, flüsterte Hansen Kristen zu. »Aber sei trotzdem vorsichtig, manchmal beißt sie doch zu. Ich hätte sie schon vor langer Zeit aus der Truppe geworfen, aber sie kommt einfach überall rein. Bisher haben wir noch kein Gebäude gefunden, in das sie nicht hineinkommt.«
»Oder in eine Hose.« Hernandez streckte dem Neuankömmling frech die Zunge heraus.
»Oh, du bist lesbisch?«, höhnte Jonesy.
»Ich mach da keinen großen Unterschied, Jonesy. Was mein Körper verlangt, bekommt er auch.«
»Willst du mich jetzt anmachen?«, fragte er fies grinsend. Kristen war sein finsterer Gesichtsausdruck eindeutig lieber.
»Nicht einmal, wenn du der letzte Mann auf Erden wärst«, gab seine Teamkollegin dreist zurück.
»Du wirst dich an die beiden gewöhnen«, sagte Captain Hansen. »Sie sind beide riesige Nervensägen, aber meistens beleidigen sie sich nur gegenseitig und schenken sich dabei nichts.«
Kristen musste lächeln. Mit Jonesy und Hernandez würde es nicht einfach werden, aber wenigstens den Captain schien sie auf ihrer Seite zu haben.
»Sprechen Sie nur für sich selbst, Captain. Sie müssen schließlich nicht mit den beiden in einem Mannschaftswagen fahren«, warf Butters ein.
»Es gibt wohl doch Vorteile, wenn man Captain ist«, sagte seine Chefin fröhlich. Sie wandte sich an einen jungen, attraktiven Mann mit athletischem Körperbau. Er hatte ein eckiges Gesicht, einen sauberen Haarschnitt und sah genauso aus, wie Kristen sich einen Cop vorgestellt hatte, als sie elf war. »Das hier ist Corporal Keith Wentworth. Er war unser Frischling, bis du hier aufgetaucht bist.«
»Willkommen bei der Truppe, Neuling«, sagte er, reichte Kristen die Hand und versuchte, ihre Finger wie in einem Schraubstock zusammenzudrücken.
Sie war jedoch von einem Polizisten aufgezogen worden, also drückte sie mit gleicher Kraft zurück. Er war beeindruckt und drückte stärker. Kristen erwiderte auf gleiche Weise, bis er schließlich aufgab und ihre Hand losließ. Heimlich rieb sich Keith die Hand.
»Der Frischling denkt, er wäre mein verdammter Schatten. Wenn du also einem Tollpatsch hinterherrennst und denkst, du würdest mir folgen, dann ist es sicher er«, warf Jonesy ein.
»Jetzt, wo sie hier ist, kannst du mich nicht mehr Frischling nennen«, protestierte Keith und verdrehte die Augen.
Der Sergeant hob eine Augenbraue. »Sie hat dir die Hand zerquetscht wie die Red Sox die Tigers jedes verdammte Jahr und du bist der Meinung, dass deine Tage als Anfänger jetzt vorbei sind?«
»Die Red Sox zerquetschen die Tigers nicht«, klagte Keith. »Das letzte Spiel ist knapp ausgegangen.
«
»Wen interessiert das schon?«, schoss Jonesy zurück. »Sie haben trotzdem verloren.«
»Niemanden. Das interessiert absolut niemanden«, sagte der einzige Mann im Raum, der bisher nicht vorgestellt worden war.
»Und das...« Captain Hansen ging zu dem großen Mann mit der gefurchten Stirn und warf einen Arm um seine Schulter – keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, wie klein sie und wie breit die Schultern des Mannes waren. »Hier spricht dein furchtloser Truppenführer, Alexander Drew. Sergeant Drew wurde bereits über die... Besonderheiten Ihrer Ankunft informiert, stimmt’s, Drew?«
»Ja, Ma’am«, antwortete er und sein Blick ruhte auf Kristen. Es war völlig klar für sie, welchen Platz im Team er ihr zugedacht hatte, aber wenigstens war er nicht so offensichtlich gegen sie wie Jonesy und Hernandez.
Der Captain nahm ihren Arm von seiner Schulter und richtete das Wort an alle Anwesenden. »Leute, das ist Kristen Hall, eure neue Mitstreiterin. Sorgt dafür, dass sie sich aufgenommen fühlt und dass sie auf alles vorbereitet wird. Ab sofort fährt sie mit euch. Jemand, der deutlich mehr Blech an der Uniform hat als ich, hält sie für heißes Eisen, also sorgt besser alle dafür, dass sie diese Woche übersteht, ohne erschossen zu werden.«
»Was, wenn sie in die Luft gejagt wird?«, fragte Hernandez beinahe hoffnungsvoll.
»Dann ist es deine Aufgabe das Chaos zu beseitigen, Hernandez.«
Die Frau überlegte kurz. »Klingt gar nicht so schlecht.«
»Zum Aufräumen gehört auch der ganze Papierkram«, erinnerte der Captain.
Die Sprengstoffexpertin rümpfte die Nase und nickte nur. Kristen fing an, sich vor dem Papierkram zu fürchten.
Captain Hansen nickte der Mannschaft zu und überließ Kristen ihrem neuen Team.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Kristen gab sich der Hoffnung hin, das sei ein gutes Zeichen, bis sie bemerkte, dass alle den Teamleiter anstarrten.
Sie wollte gerade etwas sagen, um das Schweigen zu brechen, aber Drew sprach zuerst und duzte sie frei heraus. »Der Captain hat mir deinen Zuteilungsbefehl gezeigt. Es sieht so aus, als kämst du frisch von der Akademie.«
»Ja, Sir, ich habe gerade erst vor wenigen Tagen meinen Abschluss gemacht.«
»Hattest du andere zusätzliche Kurse oder so?«
Kristen hatte keine Ahnung was er wollte. »Wie... Sport? Ja, Fußball, Volleyball, Basketball, Lacrosse...«
Bevor jemand anderes etwas erwidern konnte, mischte sich Jonesy ein. »Nein, nicht das! Er meint, ob du schießen gelernt hast? Oder vielleicht hast du einen Psychologiekurs besucht, in dem man sich darauf konzentriert, geistesgestörte Irre niederzuquatschen? Vielleicht auch einen Fahrkurs, in dem du gelernt hast, wie man Schüssen ausweicht, während einer deiner besten Kumpels versucht, einen anderen besten Kumpel am Verbluten zu hindern?«
Kristen musste schlucken. »Nein... nein, nichts dergleichen.«
Butters kam ihr zu Hilfe. »Jonesy, ich wage zu behaupten, dass auch du nichts von all dem getan hast, bevor du hierhergekommen bist. Wir waren alle mal grün hinter den Ohren.«
»Echt nicht dein Tag heute«, brummte Hernandez amüsiert.
»Butters hat Recht«, sagte Drew und brachte sein Team zum Schweigen. »Manches lernt man nur durch Erfahrung. Aber kennst du den Unterschied zwischen verdecktem und gewaltsamen Eindringen?« Er hatte eine tiefere Stimme als der Rest der Truppe – er sprach so leise, dass er fast nicht zu hören war – aber wenn er redete, schwieg das gesamte Team sofort.
Sie dachte an die Akademie zurück. »Äh... verdeckt heißt, du schleichst dich rein, während mit gewaltsam gemeint ist, du brichst die Tür auf?«
»Glück gehabt«, sagte Hernandez bissig.
»Weißt du, wie man eine Mauer macht?«, wollte Drew wissen.
»Das ist, ähm... in einem 90-Grad-Winkel zueinander zu stehen, wenn man einbricht?«
»Wir brechen nicht ein«, korrigierte Hernandez weinerlich, »wir erzwingen uns den Zutritt.«
»Und hast du das schon einmal gemacht?«, fragte Drew und ignorierte Hernandez.
»Ähm, nein, aber ich habe etwas darüber gelesen«, antwortete Kristen ehrlich.
»Ah. Du liest also. Gut.« Drew wandte sich von ihr ab, als ob das, was er gesagt hatte, irgendeinen Sinn ergeben würde.
Jonesy nahm die Herausforderung an. »Was ist mit dem Schussbereich?«
»Oder, äh... was bedeutet es, wenn ein Raum grün oder rot ist?« Das kam von Keith, der hinter dem dünnen Mann stand und dabei versuchte, besonders hart rüberzukommen. Kristen wurde langsam klar, warum ihn alle Frischling nannten.
Kristen wusste das. »Rot bedeutet Gefahr und grün bedeutet sicher.«
Jonesy ignorierte sie und wandte sich stattdessen Keith zu, um ihn anzuknurren. »Verdammt, Frischling, natürlich weiß sie das. Jeder, der schon mal auf einer verdammten Rollschuhbahn war, weiß, was rot oder grün bedeutet.«
»Moment... heißt das etwa, dass Sergeant Patrick Jones vom Detroit SWAT auf einer Rollschuhbahn war?« Butters’ Grinsen war jetzt noch breiter als sein Bauch.
»Natürlich war ich schon auf einer verdammten Rollschuhbahn. Wer ist denn noch nicht Rollschuh gefahren? Himmelherrgott!«
»Ich bin noch nie Rollschuh gefahren.« Hernandez’ Grinsen zeigte sehr deutlich, was sie über Jonesys Freizeitaktivitäten dachte.
»Ich auch nicht.« Beanpole schaute von seinem Buch auf und grinste ebenfalls.
»Wir alle wissen, wenn ich damit anfangen würde, könnte ich nicht mehr bremsen.« Butters musste über seinen eigenen Witz lachen.
»Hört zu, ihr Möchtegern-Klugscheißer ohne einen Funken Klasse, entschuldigt, dass ich eine Dame nicht mit noch einem langweiligen Abend in einem verdammten Restaurant verwöhne, sondern zur Abwechslung mal etwas Lustiges mit ihr mache.«
»Es reicht, Jonesy!« Obwohl Drew seine Stimme nicht erhoben hatte, zuckte der Angesprochene praktisch zusammen. Er blickte jeden im Team finster an und verließ den Raum, um seine Waffe zu polieren, obwohl Kristen sie bereits außergewöhnlich glänzend fand.
Der Gruppenführer blieb mit einem riesigen Stapel von Lehrbüchern in seinen Händen vor ihr stehen. Die Muskeln in seinem Nacken wölbten sich durch das Gewicht und für einen Moment fragte sie sich, ob sie überhaupt in der Lage sein würde, den Stapel zu halten. Das musste eine Art Test sein.
»Die sind für dich«, sagte Drew und übergab ihr den Stapel in die geöffneten Arme.
Kristen trat einen Schritt zurück, gewann ihr Gleichgewicht wieder und schaute ihm in die Augen. Er lächelte nicht – er schien ehrlich gesagt nicht der Typ Mensch zu sein, der jemals lächelte – aber sie sah etwas in seinem Blick, das Vergnügen bedeutete. Der Bücherstapel war tatsächlich ein Test und ihn nicht fallen zu lassen, hieß dann wohl, dass sie bestanden hatte.
»Was soll ich damit?«, fragte sie und überlegte, ob das hier eine Art Schikaneritual sein sollte. Obwohl sie keine prallen Muskeln hatte wie er, so war sie doch gut trainiert. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, konnte nicht mehr als ein paar Stockwerke hoch sein. Sie hoffte darauf mit den Büchern in ihren Armen laufen zu können.
Er sah sie mit finsterer Miene an. »Das sind Bücher, lies sie. Lerne jedes Wort, jedes Konzept und jedes Akronym darin. Du bist fertig, wenn dir Informationen da drin in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ich will nicht, dass mein Team mitten in einem Einsatz Zeit verschwenden muss, um zu erklären, wie ODS funktioniert.«
»Oder KISS.« Hernandez warf Jonesy eine Kusshand nach.
Kristen schaute auf den Stapel in ihren Händen. Ihre Arme waren voll gestreckt, sodass das unterste Buch in Höhe ihrer Taille lag und doch reichte ihr der Stapel bis zum Kinn. Das würde ausreichen, sie bis zum Winter zu beschäftigen. »Bis wann?«
Drew sah sie an, ohne zu blinzeln. Sie bemerkte, dass sich seine Augen nicht ein kleines bisschen bewegten wie bei den meisten Leuten. Er starrte einfach nur und bewegte sich überhaupt nicht – wie gefroren oder wie aus Stein. »Jeder andere in diesem Raum hat all das gelernt, um sich einen Platz im Team zu sichern, bevor er durch diese Tür gehen durfte. Du hast viel aufzuholen. Ein Sattelschlepper voll Nachholbedarf.«
Sie zwang ein Lächeln auf. »Also, zwei Wochen?«
Der Mann erwiderte das Lächeln nicht. »Am besten bis gestern!«
Wirklich? Das musste ein Scherz sein, oder?
Kristen wartete darauf, dass alle loslachten. Es war unmöglich, das alles in einer Woche, geschweige denn an einem Tag durchzuarbeiten. Als er sich nicht bewegte und auch nichts mehr sagte, wusste sie, dass das sehr wohl ernst gemeint war. Tolles Willkommen bei der Polizei, oder?
Schließlich legte sie den Stapel Bücher auf eine der Bänke, setzte sich daneben und schnappte sich das oberste Buch. Sie öffnete es und sah eine Darstellung mit Menschen, die eine Wohnung öffneten und sie Raum für Raum räumten. Zumindest ist die Lektüre interessant, dachte sie.
»Was machst du da?«, fragte Drew und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder von dem Buch weg.
»An die Arbeit gehen.« Sie schaute ihn an und wieder starrte er zurück. »Sir«, fügte sie hinzu und hoffte, dass es das war, worauf er gewartet hatte, obwohl sie deswegen so ihre Zweifel hegte.
»Heute ist nicht der Tag für Papierkram«, sagte er streng.
Hernandez warf ein: »Wenn das so wäre, würdest du deinem Team beim Ausfüllen der verschissenen Formulare helfen und nicht hier deine Hausaufgaben machen.«
»Ich dachte, ich sollte das alles wissen, um dem Team nicht im Weg zu stehen«, protestierte Kristen.
»Oh, das tust du sowieso«, sagte Drew und auf seinem ansonsten steinernen Gesicht zeigte sich ein winziges Lächelns. »Aber du musst auch den physischen Teil des SWAT-Trainings durchlaufen.«
»Zu deinem großen Glück hatten wir sowieso vor, fünf oder sechs Stunden zu trainieren«, grinste Jonesy hinterhältig.
Kristen fand sich mit dem Unvermeidlichen ab und stand auf. »Nun, dann lasst uns zur Sache kommen. Wie schlimm kann es schon werden? «