Kapitel 10
D
ie Tür flog auf und landete an der Innenwand. Kristen verlor keine Zeit, stürmte hinein, suchte die linke Seite ab und dann die rechte, indem sie das Licht an ihrer Waffe benutzte, um die Dunkelheit zu durchdringen.
»Sicher!«
Sie ging ins Nebenzimmer. »Hier ist die Polizei. Öffnen Sie die Tür.«
Als sie keine Antwort erhielt, trat sie die Tür ein.
»Sicher!«
Im Nebenraum hatte ein Krimineller eine Frau als Geisel genommen und hielt ihr eine Pistole an den Kopf.
Ohne zu zögern, schoss Kristen ihm zwischen die Augen.
»Nur eine verdammte Sekunde.«
Die Stimme kam aus ihrem Funkgerät und sie fuhr fast aus ihrer Haut. Sie hatte nicht damit gerechnet, weil es bereits nach Feierabend war und sie sich alleine in einem der Trainingsgebäude des SWAT befand.
Nach einem schnellen, tiefen Atemzug drückte sie die Sprechtaste an ihrem Funkgerät. »Wer ist da?«
»Wer zum Teufel glaubst du, ist hier? Ich bin’s, Jones.«
»Jonesy?«
»Ja, Red, der verdammte Jonesy.«
Kristen suchte den Raum erneut ab, ging schnell in die Küche und schaute auch dort nach, konnte ihn aber nicht finden. Sie hatte immerhin das Haus geräumt, also hätte sie ihn sehen müssen. »Wo bist du?«
»Ich bin draußen. Glaubst du, ich verstecke mich in den Küchenschränken oder so? Komm schon. Ich bin kein Idiot, vor allem nicht, nachdem du die Pappfiguren fertig gemacht hast.«
»Wie kannst du mich dann sehen?«
»Verdammt noch mal. Es gibt Ferngläser. Schonmal davon gehört?«
Ihr Gesicht lief rot an und wurde ohne Zweifel so rot wie ihr Haar. Sie machte sich auf den Weg aus dem Haus zu der Stelle, an der Jonesy von irgendwo auf dem Parkplatz auf sie zukam. Genau wie er gesagt hatte, trug er ein Fernglas um den Hals.
»Was machst du hier?«, fragte sie neugierig.
»Ich könnte dir die gleiche Frage stellen.«
»Drew und Captain Hansen haben recht. Ich bin noch unerfahren und habe eigentlich kein Recht hier zu sein, so wie der Rest von euch. Ich weiß nicht, warum ich diese Möglichkeit bekommen habe, aber ich habe nicht vor, sie zu vergeuden. Ich werde diese Übungen machen, bis sie im Muskelgedächtnis landen. Was ist mit dir?«
Er zuckte die Achseln und grinste halb. »Manchmal komme ich gerne hier her und schieße die Fenster raus.« Er deutete auf den leeren Wohnblock, der in der Dunkelheit zu sehen war.
»Aber das ist Polizeieigentum.«
»Ich weiß. Das macht es ja perfekt. Sie glauben immer noch, dass es ein paar dumme Kinder sind, die Schüsse abfeuern.« Er lachte. »Apropos, so einen Schuss kannst du nicht abgeben.«
»Auf ein Gebäude in der Dunkelheit?« Sie hatte nicht verstanden, wovon er sprach.
»Nein, der letzte Schuss, den du drinnen abgefeuert hast. Jemand hatte eine Geisel mit einer Pistole am Kopf. Du kannst ihm nicht eine Kugel zwischen die Augen jagen.«
»Das Protokoll sagt, wenn du eine Chance hast, dann ergreifst du sie.« Sie war sich dessen ziemlich sicher, denn sie hatte das Handbuch studiert, wenn sie ihren Trainingsabend für eine Pause unterbrach.
»Ja, technisch gesehen hast du recht.
Aber du kannst dennoch nicht schießen. Zuerst wird ein Gegner sehen, wie du die Tür eintrittst und er muss nur noch abdrücken, um es für dich zu beenden.«
»Deshalb muss ich schneller sein.«
»Ich bewundere deine Entschlossenheit, wirklich. Das tue ich verdammt noch mal auch, aber du kannst den Schuss so nicht ausführen. Selbst wenn du so gut schießen kannst wie Butters, kannst du es immer noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Wenn du es tust, hast du eine Geisel, die mit dem Gehirn eines Arschlochs bedeckt ist, was einen verdammten Albtraum an Papierkram bedeutet.«
Kristen musste darüber lachen. »Willst du behaupten, ich soll einen Mann wegen des Papierkrams davonkommen lassen?«
»Ich meine, du solltest darüber nachdenken. Wenn du die Wahl hast, einen Schuss zu platzieren und möglicherweise eine arme Frau zu töten oder den Schuss zu setzen und sie mit einem Gehirn zu bedecken, musst du zuerst einige andere Optionen ausprobieren.
»Was zum Beispiel?«
»Beim SWAT geht es nicht darum, dass eine Person das Richtige tut. Es geht um eine Teamleistung. Du kannst niemals ein Gebäude alleine einnehmen. Das wäre wie ein Wolf, der alleine unterwegs ist. Diese Scheiße passiert nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich weiß, du hast recht, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich muss besser werden, aber ich kann die Leute doch nicht einfach bitten, nach der Arbeit zu bleiben und mir beim Training zu helfen. Daher muss ich die Übungen einfach alleine weiterführen, bis ich es anständig kann.«
»Das ist verdammte Zeitverschwendung und wir beide wissen das.«
Schließlich seufzte und nickte sie. Er hatte ja recht. Das würde nicht wirklich funktionieren.
»Gib mir eine Sekunde, um eine Weste anzuziehen und wir machen ein paar Übungen zusammen.«
Kristen sah ihn schnell an. Er zuckte nur die Achseln und hob eine Augenbraue. »Jonesy, das würde mir so viel bedeuten.«
»Halt einfach die Klappe, okay? Ich tue das nicht für dich. Ich tue es für die Dame, die du mit Gehirn bespritzen wolltest.«
»Das ist immer noch irgendwie edel.«
»Ach, fick dich«, erwiderte er. »Ich sagte doch, es bedeutet einen Berg von Papierkram. Außerdem, wenn ich dir beibringen kann, nicht so viel Mist zu bauen, lässt du mich nicht wieder schlecht aussehen, indem du noch mehr verdammte Kugeln in die Brust bekommst, die du eigentlich nicht mitnehmen darfst.«
»Danke, Jonesy.«
Der Mann wischte ihre Dankbarkeit mit einer abweisenden Geste weg. »Im Ernst, nicht der Rede wert. Ich... Hör zu, du hast Talent, okay? Es ist offensichtlich für Drew und es ist offensichtlich für mich. Die Art und Weise, wie du das alles angegangen hast, macht es verdammt offensichtlich, dass du deinen Abschluss mit Auszeichnung oder so gemacht hast.«
»SWAT ist nicht wie die Akademie.«
Jonesy grinste wissend. »Siehst du? Du lernst schon. Der Punkt ist, dass ich glaube, dass du das Zeug dazu hast. Du wurdest angeschossen, aber anstatt den Schwanz einzuziehen und aufzuhören, um Buchhalterin zu werden, hast du dich entschieden, Überstunden zu machen. Das zeigt Entschlossenheit.«
Danach führten sie gemeinsam Übungen durch und er stattete das Haus mit verschiedenen Szenarien aus. Das war viel nützlicher für sie, als es allein zu tun. Zunächst einmal wusste sie nicht, wo jeder Gegner sein würde. Mit ihm an ihrer Seite wurde außerdem jeder Fehler, den sie beging, mit ausreichend Strenge korrigiert, damit sie sich daran erinnerte, es nicht noch einmal zu tun.
»Verdammt noch mal, Red. Tritt keine Tür ein und steh einfach nur da. Wartest du darauf, dass dir ein Arschloch eine überzieht?«
»Jesus Christus am Kreuz, glaubst du, jeder verdammte Mensch ohne Waffe ist unschuldig? Du wurdest von einer alten Dame mit einer Knarre in der Tasche in den Rücken geschossen und komm mir nicht mit dem ›sie war eine alte Frau‹-Scheiß. Ich habe schon viele Männer gesehen, die von alten Schlampen erschossen wurden. Wenn du schon irgendwo reinplatzt, sorgst du dafür, dass alle auf dem Boden liegen. Sie sollen sich nur nicht die Hüfte dabei brechen!«
»Das war ein Test und du bist verdammt noch mal durchgefallen. Wenn du ein verdächtiges Paket mit heraushängenden Drähten findest, machst du nicht einen auf MacGyver, du rufst Hernandez!«
Nach jeder Übung kam eine andere. Jonesy schien wirklich zu wissen, was er tat, weil er bei jedem Fehler, den sie begangen hatte, an einer weiteren Übung arbeitete, aber nie an der unmittelbar folgenden. Das hatte zur Folge, dass sie seine einfachen Ratschläge immer wieder aufnehmen und nicht nur auf die nächste, sondern auf alle folgenden Missionen anwenden musste.
Sie arbeiteten ein paar Stunden lang auf diese Weise, bis er behauptete, dass sie die Übungen verzögern würde, weil sie ihn hecheln gehört hatte, als sie die Treppen des Wohnblocks hinuntergegangen waren.
»Lass uns die Scheiße vergessen. Du verlierst deine Form und du musst für morgen frisch sein. Trink etwas Wasser und geh ins Bett.«
»Willst du etwas essen gehen?«, fragte Kristen müde.
»So spät wird nirgendwo mehr geöffnet sein.«
»Ich dachte an White Castle. Ich habe das Abendessen ausgelassen.«
Er sah sie einen Moment lang an und zuckte schließlich die Achseln. »Klar, machen wir das, aber bestell keine verdammten Pommes. Der Scheiß besteht nur aus Fett und Kohlenhydraten. Bestell dir ein paar Burger, wenn du hungrig bist. Den Scheiß habe ich von diesem fettärschigen Butterball gelernt. Er besteht praktisch aus Pommes und Soda. Iss eine Woche lang mit ihm zu Mittag und es wird dein Leben verändern.«
Sie nickte weise, als ob dieser Ratschlag genauso wertvoll wäre wie die korrekte Durchsuchung eines Gebäudes nach Gegnern.
Sie fuhren hintereinander bis zum nächsten White Castle – sie hatte auf dem Weg eines gesehen – bestellten ihr Essen am Drive-in-Schalter und fuhren noch ein paar Blocks weiter, bis sie über den Detroit River auf die Lichter von Windsors beleuchteter Skyline blicken konnten, der Großstadt im kanadischen Ontario auf der Südseite des Flusses.
»Heilige Scheiße, du hast meinen Rat wirklich befolgt«, sagte er, als er neben ihr auf dem Bordstein saß. Er nahm zwei Burger aus seiner Tüte.
Kristen hatte acht bestellt. »Ich bin hungrig.«
Der Mann nickte und sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber als sie begann ihr Essen praktisch zu inhalieren, hielt er den Mund. Dennoch konnte man von seinem Gesicht ablesen, dass er noch nie eine Frau so essen gesehen hatte, wie sie es gerade tat. Sie lächelte lediglich. Zumindest auf diese besondere Art und Weise würde sie immer eine Hall sein. Niemand konnte schneller essen als ihre Familie – niemand.
»Es ist komisch zu wissen, dass jenseits des Wassers ein Land ist, das nicht von Menschen regiert wird«, sagte sie.
Ihr Begleiter zuckte die Achseln. »Ähhh. Unser Land wird auch kaum von Menschen regiert, zumindest glaube ich das. Die verdammten Drachen haben jahrhundertelang die Fäden gezogen, ohne dass wir eine Ahnung davon hatten. Zumindest ist es in Kanada allgemein bekannt, dass die Zwerge die Kontrolle haben. Ich glaube, das Komische ist, dass wir gerade jetzt nach Süden über einen Fluss nach Kanada schauen.«
Sie warf einen Blick auf Jonesy, der seinen zweiten Burger eifrig mampfte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits fünf gegessen. »Jones, danke dafür. Im Ernst, ich meine es wirklich so.«
Er schüttelte den Kopf und sah ausgesprochen ungehalten aus. »Ich versuche nicht, dir nahezukommen oder so, Red, also beruhige dich verdammt noch mal. Ich mag den verfluchten Akademie-Freak nicht mal, der denkt, er kann hier einfach reinspazieren und meinem verdammten Team beitreten – aber na ja, ich bin auch ein Cop, oder? Ich trage nur meinen Teil dazu bei, dass du niemanden umbringst.«
»Nun, was auch immer deine Motivation ist, es bedeutet mir viel.«
Sein Gesichtsausdruck fror ein und er warf den letzten Bissen seines Burgers in den Fluss. »Ich verpisse mich hier, bevor die Scheiße noch so rührselig wird wie ein verdammtes Hallmark-Special und nenn mich nicht Jones, okay? Alle werden sonst anfangen zu denken, wir wären Freunde oder so was. Nenn mich Jonesy wie der Rest dieser Arschlöcher auch.«
»Alles klar, Jonesy.«
Selbst das schien ihm zu herzlich zu sein. Er sah sie nur noch einmal höhnisch an, stieg in sein Auto und fuhr weg.
Kristen lächelte, bevor sie mit ihrem nächsten Burger begann. Der Mann war ein Miesepeter, aber das störte sie nicht. Es war ihr egal und wenn er an sie glaubte, wusste sie, dass sie es schaffen konnte.
Wenn sie nur Hernandez auch irgendwie überzeugen könnte...