Kapitel 12
E s war unmöglich, im SWAT in Routinearbeit zu verfallen. Die alltäglichen Anforderungen des Jobs waren einfach zu vielfältig und doch tat Kristen ihr Bestes, sich an ihr neues Leben anzupassen.
Die Tage waren gefüllt mit Training – und es war hart, während die Nächte dazu dienten, die Fertigkeiten zu trainieren und zu verfeinern, die ihr Körper brauchte, sie ohne Nachdenken zu verstehen. Natürlich war kein Zeitplan perfekt, auch wenn ein Teil der Jobbeschreibung darin bestand, in einen Van zu steigen und Arschlöcher mit Waffen zu konfrontieren. Dennoch gewöhnte sie sich an den Übergang von Pausenraumwitzen in Situationen auf Leben und Tod so gut, wie man sich an diese Art von Situation eben anpassen konnte.
Das ständige Erfordernis allzeit bereit zu sein, in Aktion zu treten, machte sie dankbarer für die Tage, an denen das nicht geschah. Natürlich verbrachte man die ruhigen Tage in schwülwarmen, baufälligen Wohnhäusern und übte das Eindringen in Räume.
»Kristen, du übernimmst die Führung. Wir haben einen Gegner, der einen unserer Offiziere als Geisel genommen hat. Er weiß, dass er umzingelt ist, also ergibt es keinen Sinn, leise zu sein«, knisterte Drews Stimme über das Funkgerät.
Sie hatte Butters und Beanpole mit Gesten angewiesen, dass sie die Ausgänge beobachten sollten. Ihre Zeichensprache hatte sich zusammen mit all ihren anderen Fähigkeiten deutlich verbessert. Sie bedeutete Hernandez, sie solle die Tür aufbrechen und bereitete sich darauf vor, den riesigen Teddybär zu retten, der als Geisel fungierte.
»Ich würde ja gerne, aber meine ganzen Vorräte wurden in der Basis zurückgelassen«, protestierte die Sprengmeisterin fadenscheinig.
»Zeitverschwendung, Kristen. Was machst du?« Der Teamleiter hatte dies offensichtlich so geplant.
Eine höhnische Erwiderung lag ihr verlockend auf der Zunge, aber es galt keine Zeit mehr zu verlieren. Mit einem Grunzen trat sie gegen die Tür und zersplitterte das Holz um die beiden Riegel, die sie verschlossen hielten.
Noch bevor die Tür überhaupt weit aufgeschwungen war, stand sie mit gezogener Waffe im Raum. »Das Wohnzimmer ist sauber. Jonesy, komm hier rein.«
»Ich versuche es. Ich warte nur darauf, dass sich der Staub wieder legt!»
Sie wartete ein paar Herzschläge und sobald sie seine Schritte hörte, bewegte sie sich vorwärts. Sie traten aus der Küche und begannen im Flur. Sie trat die erste Schlafzimmertür ein und katapultierte sie aus den Angeln.
»Heilige Scheiße, Red.«
»Bleib dran, Jonesy.« Sie ging weiter ins Zimmer daneben.
»Wenn du hier reinkommst, blase ich dem Teddybären das verdammte Hirn raus! Wie Baumwollflocken an der ganzen Zimmerdecke! Willst du damit leben?«, brüllte Keith durch die Tür. Er spielte die Rolle des Gegners und leistete verdammt gute Arbeit. Seine Stimme klang sogar nach einer Spur von Terror. Drew hatte erwähnt, das sei das Gefährlichste, was man in der Stimme eines Feindes hören könne. Angst machte jeden unberechenbar.
An der Stimme war jedoch zu erkennen, dass er fast direkt hinter der Tür stand.
Das war sein erster Fehler.
Bevor jemand etwas anderes sagen konnte, drehte sie sich in einem Roundhouse-Tritt und die Tür flog in den Raum. Sie hatte bereits die Scharniere der letzten getestet und fand sie schwach, also hatte sie ein ziemlich gutes Gefühl dafür, was sie mit dieser machen konnte.
»Ah! Scheiße!«, fluchte ihr Teamkollege lauthals unter der Tür.
Kristen stürzte nach vorne, bis sie über ihm war, also steckte er effektiv unter ihr fest.
»Netter Versuch, aber...« Bevor Drew seinen Satz beenden konnte, machte sie einen Überschlag, schnappte sich ein Kissen aus dem Bett und schleuderte es dorthin, von wo seine Stimme vernahm.
Ein dumpfer Aufprall bestätigte, dass das Kissen in seinem Gesicht gelandet war und in der nächsten Sekunde war sie bei ihm. Sie packte einen seiner Arme, zerrte ihn hinter seinen Rücken und versuchte, den anderen zu greifen.
»Ja, klar, du rothaarige Schlampe.« Er stieß ihr einen Ellbogen ins Gesicht.
Der Teamleiter hatte vorher deutlich gemacht, dass er glaubte, sie wüst zu beschimpfen sei ein wichtiger Bestandteil des Trainings, weil Gegner Polizisten in der Regel hassten und daher war es wichtig, dass sie sich daran gewöhnte.
Dem musste sie zweifellos zustimmen. Als Schlampe bezeichnet zu werden, ließ jedes Schuldgefühl einfach verpuffen, das sie vielleicht empfunden haben könnte, als sie ihm in die Rippen geschlagen hatte, während sie sich fallen ließ und gleichzeitig seinem Ellbogen ausweichen musste.
Er grunzte nach dem Schlag, also ließ sie den Arm los und warf den Mann dann – mit einer der Lieblingsbewegungen ihres Bruders Brian – über ihr ausgestrecktes Bein zurück und schlug ihm die Beine weg. Er lag wie ein trostloser Haufen da und – wie eine Kirsche zur Deko obendrauf – zog sie ihre Pistole und zielte auf sein Gesicht.
Drew nickte zufrieden und begann zu lächeln.
Bevor sie darüber nachdenken konnte, donnerte ihr Keith einen Stuhl auf den Rücken. Er hatte sich offensichtlich überhaupt nicht zurückgehalten, weil der Stuhl auf ihrem athletischen Rücken in Stücke gebrochen war.
Die Kraft des Schlages ließ sie wanken und sie ertappte sich dabei, dass sie zum Abstützen Drews Körper statt des Bodens benutzte, was den Mann ein weiteres Mal grunzen ließ.
Kristen schnappte sich eines der Stuhlbeine und drehte sich, um es in den Körper ihres Angreifers zu schleudern. Zumindest hatte sie das so vorgesehen, aber stattdessen erwischte sie ihn im Gesicht.
»Ah!«, schrie er im Moment des Auftreffens, taumelte zurück, stolperte über die kaputte Tür und krachte ins Bett.
»Oh, mein Gott! Keith, es tut mir so leid!«, stotterte sie und wusste nicht was sie tun sollte. Sie wollte die Übung nicht abbrechen, aber sie konnte sehen, wie er sich die Nase hielt und Blut floss. Offensichtlich hatte sie ihn viel härter getroffen als geplant.
»Es geht schon, es geht schon«, blubberte er, während er sich die Nase zuhielt und versuchte, den Blutfluss zu stoppen. »Das ist die Quittung fürs Improvisieren.«
Sie bereitete sich auf einen weiteren Angriff von Drew vor, aber es kam nichts mehr.
Der Teamleiter drückte sich lediglich vom Boden hoch – dabei stöhnend, was sie viel stolzer machte als jeden anderen, der seinem Chef einen Schlag in die Rippen verpasst hatte – und brach das Training ab.
»Verdammte Scheiße, Red. Das war verdammt unglaublich«, nickte Jonesy, als er die Trümmer begutachtete, die sie hinterlassen hatte. Es war ziemlich beeindruckend – drei kaputte Türen, ein zersplitterter Stuhl und zwei verletzte Beamte.
»Versuch das nächste Mal einfach, niemandem die Nase zu brechen«, sagte Hernandez und Kristen runzelte die Stirn. Selbst nach all den Monaten des gemeinsamen Trainings war die Frau noch immer nicht freundlich zu ihr, außer dem einen Mal in der Umkleidekabine. »Es sei denn, es ist die von Jonesy. Jemand muss das krumme Ding ja irgendwann auch mal wieder gerade biegen.«
Kristen lächelte und entspannte sich. Von Hernandez war das im Grunde wie eine Umarmung und ein Schulterklopfen.
»Entschuldige wegen des Stuhls«, murmelte Keith und kniff immer noch den Nasenrücken zusammen.
»Entschuldige dich nicht«, polterte Drew und rieb sich die Rippe, die Kristen getroffen hatte. »Gegner improvisieren oft und es ist ja nicht so, dass du sie verletzt hättest. Stimmt’s, Kristen?«
»Ich hatte Glück.« Sie zuckte mit den Achseln. »Der Stuhl muss wohl ziemlich morsch gewesen sein.«
Die anderen Teammitglieder teilten untereinander einen Blick, der besagte, dass der Stuhl definitiv nicht morsch war.
»Das hat nichts mit Glück zu tun. Du hast verdammt hart trainiert und das merkt man. Du bist schneller und stärker als jede Frau, die ich je getroffen habe«, sagte Drew anerkennend.
»Jede Frau?«, mischte sich Hernandez ein. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der unseren furchtlosen Anführer mit einem Schlag in die Rippen einfach umhaut.«
Er versuchte, nicht darüber zu lächeln, scheiterte aber kläglich. »Ja, da hat Hernandez wohl recht. Ich habe noch nie außerhalb eines Wrestling-Rings jemanden stehenbleiben sehen, nachdem ihm ein Stuhl auf den Rücken geknallt wurde.«
Kristen versuchte, bescheiden zu bleiben. »Ich habe euch gesagt, dass ich früher Sport getrieben habe.«
»Blödsinn«, schüttelte Jonesy den Kopf. »Du hast jede verdammte Nacht Überstunden mit mir gemacht – wir können das übrigens beenden und dazu übergehen, einfach nur ein Bier zu trinken – und du hast dabei gelernt. Du kannst besser mit den verdammten Handzeichen umgehen als ich.«
Hernandez schnaubte. »Jeder kann besser mit den Handzeichen umgehen als du.«
»Ja? Wie wär’s mit einem Handzeichen speziell für dich?« Er streckte seinen Mittelfinger und hielt ihn der Frau vors Gesicht.
»Eines meiner Lieblingszeichen. Soll ich ihn abreißen? Du könntest ihn dir in den Schritt kleben und schon wäre dein Schwanz doppelt so groß!«
»Genug, ihr zwei«, unterbrach Drew die Streiterei. »Tatsache ist, du hast dich verbessert. Ich werde anfangen, dich anstelle von Jonesy die Führung übernehmen zu lassen«, sagte er ganz nebenbei.
»Oh, komm schon, wirklich?«, protestierte der Sergeant.
»Ich bin überrascht, dass du dich beschwerst, um ehrlich zu sein. Aber du hast recht, fair ist fair. Keith, schnapp dir den Stuhl und zerschlag ihn auf Jonesys Rücken. Wenn er stehen bleibt, wissen wir alle, dass Kristen noch viel zu lernen hat.«
»Solange wir wissen, dass sie vorne steht, weil sie gerne auf sich schießen und Stühle auf sich zerbrechen lässt! Ich habe kein Problem damit, mit einem Schild aus Fleisch und Blut zusammenzuarbeiten.«
»Danke, Jonesy«, sagte Kristen stolz. Wie bei Hernandez klangen seine Komplimente grundsätzlich nicht wie Komplimente, aber in den vergangenen Monaten hatte sie gelernt, sie zu erkennen.
Butters’ Stimme kam über Funk. »Ich hasse es, das Geplänkel zu unterbrechen, aber wir werden im Büro verlangt. Es sieht so aus, als hätte unser kleiner Star Besuch.«
»Alles klar, wir kommen. Starte den Wagen und lass die Klimaanlage laufen«, befahl Drew.
Kristen strahlte, während sie die Stufen des Wohnblocks hinunterlief. Sie hatte ihre erste Herausforderung gemeistert und sich ihrem Team gegenüber bewährt. Nun war es an der Zeit für die weit schwierigere Aufgabe, Kriminelle zu aufzuhalten, die sie erschießen wollten, statt sie mit Stühlen abzubremsen.