Kapitel 22
J emand hatte die Tore zum Lagerhaus geschlossen, aber das war ihr egal. Kristen trat mit solcher Kraft gegen die riesige Metalltür, um sie eindellen und aus den Angeln heben zu können.
Stimmen schrien überrascht auf, doch dann verstummten sie.
Gut. Sie hatte bereits das Leben von zwei dieser Mörder ausgelöscht und ein paar andere verletzt. Sie sollten ruhig sehen, dass sie keine Angst hatte.
Ein Moment lang war es völlig still in dem Raum, jede Waffe zielte auf sie. Auch das war gut so. Je mehr sich die Kriminellen auf sie konzentrierten, desto weniger würden sie ihr Team zur Kenntnis nehmen.
Sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie tun würde, wenn die Typen einem anderen aus ihrer Truppe Schmerz zufügen würden. Gott möge all denen helfen, wenn es noch jemanden aus ihrem Team treffen würde, aber wenn auch Butters verletzt würde... Nun, sie würde es einfach nicht zulassen.
Kurz bevor jede einzelne Waffe abgefeuert wurde, sprang sie zu einem Stapel Kisten. Zwei Gegner hatten sich auf der anderen Seite versteckt. Sie schlich sich herum, hob einen von ihnen am Hals hoch und ließ seine Verbündeten ihm in den Rücken schießen, während er sie vor den einschlagenden Kugeln bewahrte. Trotz der Tatsache, dass sie einen der ihren als Schild benutzte, wurde der Beschuss nicht einen Deut weniger. Sie schwang seinen Leichnam mit genug Kraft gegen seine Kumpane, um beide durch die Kisten zu schleudern, hinter denen sie sich zusammengekauert hatten.
Ein Teil von ihr wunderte sich vage über die Kraft, die dazu nötig war, aber diese Leute versuchten, sie zu töten und sie ließ keinen weiteren Gedanken daran zu.
Ihre Deckung war dahin, also schnappte sie sich den Deckel einer der Kisten und rannte weiter in das Gebäude hinein. Sie benutzte den Deckel wie einen Schild um Kugeln abzufangen, die sie töten sollten. Seltsamerweise konnte sie spüren, dass sie sich schneller als je zuvor bewegte. Sie konnte den Kugeln nicht ausweichen, aber sie wusste genügend darüber, wie sie Leute mit Waffen ausweichen musste, wenn sie darauf zu rannte.
Um den Feind zu verwirren, wechselte sie zwischen dem direkten Weg und Zickzack-Manövern. Sie kam ihrem Ziel immer näher, während sie den Deckel der Kiste zwischen sich und der Armee von Schützen hielt. Gelegentlich ließen sie kleine Schmerzstöße an die Airsoft-Spielerei denken. Sicherlich tut es mehr weh, angeschossen zu werden, als das hier? Sie war wohl nur gestreift worden.
Ein ungewohnter Instinkt in ihr sagte ihr, sie müsse weitermachen. Sie spürte eine Kraft, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Was auch immer es war, es wurde durch den Verlust eines ihrer Freunde und die Drohung, noch weitere zu verlieren, angeheizt. Das würde sie nicht zulassen und die Kraft in ihr sagte ihr, dass sie das auch nicht musste.
Etwas erwischte sie am Brustkorb und Kristen ließ den Deckel der Kiste durch die Arena rauschen. Der drehte sich fast so schnell wie eine Kreissäge und enthauptete in seiner Flugbahn eines der Gangmitglieder. Sie empfand rein gar nichts bei dem Gemetzel. Er hatte versucht, ihr Team zu töten und bekam, was er verdiente. Es war zumindest schnell gegangen, was besser war, als sie über Jonesy hätte sagen können.
Zwei Männer drängten sich ihr in den Weg, beide mit Schrotflinten bewaffnet. Kristen sprintete zur Seite, rollte sich ab und stand hinter einem weiteren Stapel von Kisten wieder auf. Die beiden Männer versuchten sie von beiden Seiten zu erreichen – irgendwie konnte sie ihre Stimmen über die Schüsse hinweg hören – also schob sie den kompletten Kistenstapel an und stürzte ihn um, um beide Männer zu zerquetschen und damit sofort aus der Gleichung zu entfernen.
Sechseckmuttern flogen aus den zerbrochenen Kisten und ganz kurz fragte sie sich, wie sie diese überhaupt hatte bewegen können. Jede von ihnen musste fast eine Tonne gewogen haben. Sie hatte davon gehört, dass man in solchen Extremsituationen Kraftreserven anzapfen konnte, aber das hier schien jenseits dessen zu liegen, was möglich sein sollte. Es gab da eine Kraft in ihr – dieselbe Kraft, die schon immer da gewesen war, die sie durch die Polizeiakademie gebracht und die jede Trophäe an ihrer Wand verdient hatte. Aber erst jetzt brachte sie diese wirklich zum Einsatz.
Sie fragte sich, woher sie wusste, dass die Kraft da war oder wie sie sie überhaupt anzapfen konnte, aber das war nicht wichtig, nicht jetzt. Ihr Team war immer noch in Schwierigkeiten und sie würde diese Kraft, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie sie besaß, nutzen ohne unnötige Fragen zu stellen.
Schüsse landeten in den Holzkisten, hinter denen sie sich versteckt hatte, fast im selben Moment, als sie aus der Deckung stürmte und auf das Förderband zulief. Sie erreichte es mit einem Sprint durch die Mitte der Lagerhalle und lokalisierte ihr Team. Ihre Kameraden krochen noch immer unter dem Förderband entlang und folgten ihm, wie es sich über den nun tödlichen Lagerboden schlängelte. Sie hatten es gerade mal sechs Meter geschafft und Keith blutete immer noch.
»Hall, komm verdammt noch mal hier drunter«, sagte Drew.
»Macht euch bereit zu rennen«, antwortete sie und kickte das gesamte Förderband – Metallrahmen und alles andere – auf eine Seite, um dem Team einen Schutzschild zu geben, der sie vor der Hälfte des Lagers schützte, bis sie den Ausgang erreichten. Sie würde sie vor der anderen Hälfte und den zwanzig Gegnern dort schützen.
»Da sind immer noch Leute auf der anderen Seite«, protestierte Hernandez. »Das schaffen wir nie.«
»Die gehören mir.«
»Du bist keine Ein-Mann-Armee«, platzte Drew heraus.
»Da hast du recht, ich bin kein Mann«, antwortete sie.
Etwas zwischen Angst und Ehrfurcht trat in seine Augen. »Wir werden es versuchen. Butters ist immer noch da oben und wir kommen mit Verstärkung zurück, um ihn zu holen. Hall, du gibst uns Deckung und folgst uns raus.«
»Los«, sagte Kristen, nahm Hernandez’ Sturmgewehr und feuerte auf die Gegner, die ihr Team noch effektiv angreifen konnten. Sie übten Vergeltung, aber der ständige Schusswechsel schien langsamer zu werden. Die Gangmitglieder hatten erkannt, dass sie die rothaarige Kriegerin nicht treffen konnten, also hatten sie ihre Taktik geändert. Das war in Ordnung für sie.
Drew, Hernandez und Keith stolperten über die beschädigten Tore aus dem Lagerhaus und in Sicherheit. »Hall, komm schon!«
Kristen schaute auf das Sonnenlicht, das in das Lagerhaus eindrang und überlegte. Vielleicht musste sie gehen. Es waren zu viele und sie wusste nicht, wo Butters war. Sie könnte noch mehr von ihnen töten – sicherlich könnte sie das, aber sie wusste nicht, wie viele. Was zählte, war nicht die Rache – noch nicht. Das Einzige, was wirklich zählte, war Butters zu retten.
Dann sah sie den Mann mit dem Raketenwerfer.
Er hatte bereits auf sie gezielt – er musste schon länger ohne eine gute Gelegenheit auf ihr Team gezielt haben – aber jetzt, da sie das Förderband auf die Seite getreten hatte, hatte er leichtes Spiel.
Bevor sie sich bewegen konnte, schoss er die Rakete auf sie ab. Sie sprang über das Förderband und versuchte, es als Deckung zu benutzen, aber ein knapper Zentimeter Stahl und etwas Gummiband konnten zwar Kugeln ausreichend verlangsamen, dass sie nicht tödlich waren, aber gegen eine Rakete würde das rein gar nichts ausrichten.
Das letzte, was Kristen sah, bevor die Hitze der Explosion ihre Augen schloss, war ihre spärliche Barriere, die in Stücke gesprengt wurde und sie selbst wurde von den Flammen verschlungen.