Kapitel 23
K risten Hall trat aus den Flammen. Sie hatte geglaubt, von einer Rakete getroffen zu werden, würde mehr schmerzen, aber sie hatte kaum etwas gespürt.
Neugierig schaute sie auf ihre Arme. Die Ärmel ihres Oberteiles waren weggebrannt und ihre Haut war sichtbar, aber sie war anders, sie schimmerte wie poliertes Chrom. Sie drehte ihre Hand und starrte sie von allen Seiten an. Jeder Fleck bestand aus dem gleichen glänzenden Metall. Sie schaute sich ihre Brust an. Ihre Schutzausrüstung war immer noch da und ihr Polizeigürtel auch, allerdings waren sie jetzt aus Stahl. Ihre Hose war größtenteils, ihre Schuhe komplett verschwunden. Glänzende Stahlzehennägel ließen sie in ein Gesicht aus Metall schauen.
Das habe ich getan ! Irgendwie hatte sie sich und ihre Kleidung in Metall verwandelt, nun, fast alles jedenfalls. Offensichtlich waren die Ärmel ihres Oberteils und ihre Schuhe bei der Explosion verbrannt.
Was sollte das bedeuten? Was war sie? Eine Kugel traf sie in die Brust und der Moment ihrer Selbstreflexion war dahin. Auch das hatte nicht wehgetan, überhaupt nicht. Tatsächlich hatte ihre Stahlhaut nicht einmal eine Delle, aber es erinnerte sie an den Grund ihres Hierseins. Die armseligen Trottel in diesem Lagerhaus hatten Jonesy getötet.
Sie zuckte zusammen, als etwas ihr Gesicht traf. Es war, als würde man mit einem Wasserschlauch bespritzt – lästig, ablenkend und unangenehm. Sie hielt eine Hand hoch, um zu blockieren, was auch immer es war, schaute durch den Strom und erkannte, dass es sich nicht um Wasser handelte, sondern um Kugeln. Jemand feuerte aus einem montierten Maschinengewehr und die Munition fühlte sich für sie wie Wasser an.
Kristen musste lächeln. Rache war heute also kein Problem.
Aus der Ablenkung aufgewacht und zum Handeln angespornt, raste sie vorwärts. Ihr Metallkörper hielt sie nicht im Geringsten auf. Sie fühlte sich auch nicht schwer oder träge, tatsächlich fühlte sie sich großartig. Die in den letzten Monaten geschärften Reflexe kamen zum Vorschein und sie bewegte sich leichtfüßig, während die Schützen immer noch versuchten, sie irgendwo festzunageln. Sie konnten sie nicht einmal treffen, zumindest nicht so, dass es eine Rolle gespielt hätte.
Als sie das Fahrzeug mit dem montierten Maschinengewehr erreichte, schlug sie auf die Motorhaube, nur um zu sehen, was sie tun konnte. Die Haube zerknitterte wie Alufolie.
»Holt mich verdammt noch mal hier raus!« Die Frau, die die Waffe bediente, schrie und wurde sofort von einem Paar Ketten, die mit einer Plattform verbunden waren, in die Luft gehoben. Das Maschinengewehr fuhr mit ihr hoch.
Kristen sprang nach oben, aber leider nicht hoch genug und landete auf dem Fahrzeug. Ihr Stahlkörper zerschmetterte das Dach.
Weitere Kugeln trafen sie von hinten und sie drehte sich zu den Männern auf dem Boden um. Sie waren auf ihrer Höhe. Sie würde sie alle töten, dann auf den Metallsteg steigen und den Job beenden.
Jemand feuerte eine weitere Rakete ab.
Sie verfehlte sie, traf aber stattdessen den Lastwagen unter ihren Füßen. Als die Kiste mit dem Sprengstoff auf der Ladefläche in die Luft flog, wusste sie, dass das so beabsichtigt war.
Die Explosion war viel stärker als die letzte. Es katapultierte sie durch das Lagerhaus in einen weiteren Kistenstapel. Diese zerborsten, als ihr stählerner Körper hineinplumpste und den Inhalt auf die Gegner verstreute, die sich dahinter versteckt hatten.
Sie versuchten zu fliehen, aber sie hatten immer noch ihre Waffen. Wenn sie es schaffen würden, sich zu verziehen, wären sie eine Bedrohung für ihre Freunde draußen. Sie musste jeden nur einmal treffen, denn die Kraft ihrer Schläge reichte aus, um deren zerbrechliches Leben zu beenden.
Weitere Schüsse prallten von ihr ab und sie sprintete zu ihrer Quelle.
»Wir ergeben uns!«, rief einer der Männer, der Sekunden zuvor auf sie geschossen hatte.
Sie zögerte einen Moment, unsicher, wie man in diesem Chaos einen Gefangenen machen könnte. Der Mann nutzte die Gelegenheit, um eine Pistole von hinten aus dem Hosenbund zu ziehen. Er hatte keine Gelegenheit mehr, sie abzufeuern.
Kristen stürmte nach vorne, hob ihn an seinem Hemd hoch und schleuderte ihn durch den Raum. Er flog in eine Frau, die ebenfalls geschossen hatte. Kristen wusste nicht, ob die beiden überleben würden, aber ehrlich gesagt war es ihr mittlerweile auch egal.
Eine weitere Salve kam von oben, also schaute sie hinauf und entdeckte eine Leiter zum Steg.
Schnell rannte Kristen hin, trat auf die unterste Stufe und fühlte, wie sie sich unter dem Gewicht ihres Stahlkörpers verbog. Zum Glück hielt die Leiter und Kristen kletterte flott hinauf.
Oben versuchte der Mann am Raketenwerfer gerade, eine weitere Rakete zu laden. Ihre Nerven waren offensichtlich besser als die seinen, denn er zitterte und fluchte bei dem Versuch, die Rakete an ihren Platz zu schieben.
Sie hob ihn hoch wie ein lästiges Insekt und warf ihn von der Plattform. Er schrie beim Hinunterfallen, aber plötzlich verstummte er.
Ihr Blick richtete sich auf die Rakete, sie hob sie auf und überlegte, sie mit der Hand zu zerquetschen.
»Lass es, jemand könnte das Ding brauchen, um herauszufinden, wer dahinter steckt.«
Erschrocken sah sie Butters an. Sie hatte völlig vergessen, dass er noch da war und dass er der Grund für ihre Rückkehr war. Die Rache hatte sie geblendet und fast das Leben eines Teamkollegen gekostet. Er war in Ordnung. Sie lächelte. Er war verdammt noch mal in Ordnung. Eine Welle der Erleichterung überkam sie und im nächsten Augenblick wurde ihre stählerne Haut wieder normal. »Wo ist Beanpole?« Sie fühlte sich sofort schuldig, weil sie nicht früher nach ihm gefragt hatte.
»Also, das ist seltsam«, sagte der angesprochene Mann und schaute Butters über die Schulter.
In der folgenden Schießerei ließen sich die beiden Männer auf die Plattform fallen und schrien sie an, dasselbe zu tun. Sie ignorierte sie – schließlich war sie unempfindlich gegen Schüsse. Nur, dass sie sich von Stahl wieder in Fleisch verwandelt hatte. Sie hob die Hand, um den Kugelhagel abzufangen und sobald der heiße Metallklumpen auf ihre Haut traf, verwandelte sich ihr Körper. Sofort war sie wieder aus Stahl und die Kugel prallte ab.
»Bleibt hier«, sagte sie. »Ich habe die Rückseite des Lagerhauses bereits geräumt. Ich bringe den Job jetzt zu Ende.«
Kristen erwartete, dass Butters protestieren würde, aber stattdessen zeigte er nach vorne und nach rechts. »Welches Gerät sie auch immer haben, das den Funk stört, es befindet sich dort drüben. Wir haben versucht, es zu erreichen, aber wir sind nicht... äh... nun, wir sind nicht aus Stahl.«
»Hier.« Beanpole drückte ihr sein Sturmgewehr in die Hand. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie das von Hernandez verloren hatte. Sie nahm es mit einem Kopfnicken als Dank.
Als sie an Butters und Beanpole vorbei war, sah sie zu, wie die beiden die Leiter hinunterkletterten und setzte ihren Angriff auf die Leute fort, die Jonesy getötet und versucht hatten, ihre Stadt von den Leuten zu übernehmen, die dort zu Hause waren.
Bewaffnet mit dem Sturmgewehr und geschützt durch ihre Stahlhaut, war sie eine unaufhaltsame Kraft der Zerstörung. Sie drehte sich nach jedem Schuss, der sie traf, um und erwiderte das Feuer. So viel von ihrem SWAT-Training hatte sich darum gedreht, aus einer Deckung auf Gegner zu schießen, aber jetzt musste sie das nicht mehr. Sie drehte sich einfach um, ließ die Kugeln von sich abprallen, zielte und feuerte auf ihren Angreifer. Auch wenn ihr Ziel nicht immer sofort zu erkennen war, fand sie doch dessen Spuren. Immerhin duckten sich ihre Gegner ständig hinter Kisten und dem demolierten Förderband, reckten aber die Hälse hoch, um Kristen sehen zu können. Sie blieb ruhig und atmete gleichmäßig wie auf dem Schießstand.
Sie ging weiter vorwärts zu einer Abzweigung im markierten Weg und bog nach rechts ab. Vor ihr stand eine seltsame Maschine und eines der bemannten Maschinengewehre. Sie näherte sich während der Mann, der das Maschinengewehr bediente, die volle Kraft seiner Waffe gegen sie zum Einsatz brachte.
Die Kugeln erwiesen sich als ungeeignet und wurden einfach abgelenkt , als Kristen näher kam. Sie erreichte die Maschine und schlug mit stählerner Faust darauf ein. Sofort erwachte ihr Funkgerät zum Leben.
»Wir haben Funk.«
»Das Störgerät ist ausgefallen, Hall hat es zerstört.« Diese Stimme gehörte Butters.
»Ich habe ein Auge auf sie, Drew. Sie ist auf dem Steg, ein Gegner schießt ihr mit dem Maschinengewehr in die Brust.«
»Hall, komm da raus!«, brüllte Drew.
Kristen reagierte nicht.
»Ich glaube nicht, dass sie das muss, Sir«, sagte jemand. Kristen nahm an, dass das einer der Scharfschützen war, der sie zweifellos im Auge hatte.
»Dann gehen wir rein.« Von der Vorderseite des Lagers war ein Schrei zu hören, als das SWAT das Gebäude stürmte und in der Nähe der Tür Verteidigungspositionen einnahm.
Der Mann mit dem Maschinengewehr schoss weiter auf Kristen. Es war schockierend, wie wenig sie das fühlte und sie fragte sich wieder, was mit ihr geschah. War jemand beim SWAT ein Magier, der sie mit einer Art Schutzzauber belegt hatte? Sie wusste so gut wie nichts über die Menschen, die Magie ausüben konnten, aber sie wusste auch nicht, wie sie das alles sonst erklären sollte.
Sie war ein Mädchen aus der Vorstadt von Detroit. Ihre Mama und ihr Papa waren normale Menschen – nur waren sie nicht ihre Mama und ihr Papa, nicht biologisch – und man hatte sie ihnen anvertraut und ihnen aufgetragen, sie zu beschützen. Sie hatten es getan und sie sogar so in Sicherheit bewahrt, dass sie sich nie vollständig offenbaren musste, was auch immer diese Kraft in ihr genau war. Jetzt war Kristen an der Reihe, ihre Stadt zu beschützen.
Sie trat nach vorne und warf das Gerät, das den Funk gestört hatte, einfach um wie einen leeren Pappkarton.
Ihr Gegner hielt das Maschinengewehrfeuer aufrecht, also eilte Kristen zu ihm und stieß ihn mit einem einzigen Tritt vom Steg.
»Sir, sie ist in über hundert verdammte Kugeln gerannt. Ich weiß nicht, was wir tun könnten, um ihr zu helfen«, sagte eine Stimme über die Funkgeräte. »Sie ist... sie ist kein Mensch!«
»Es ist mir scheißegal, was sie ist, weil sie meine verdammte Teamkollegin ist. Wir können unseren gottverdammten Teamkollegen einfach decken«, antwortete Drew. Es folgten weitere Schüsse. Die Feinde konzentrierten ihre Feuerkraft nun auf die SWAT-Mitglieder, die das Lagerhaus betraten.
Wenn sie sich einfach ergeben hätten, hätte man Kristen vielleicht überreden können, ihre Leben zu verschonen. Aber stattdessen bestanden sie scheinbar darauf, sich töten zu lassen. Selbst im Angesicht einer drohenden Niederlage weigerten sie sich, die Waffen niederzulegen.
Das Donnern von schwerem Maschinengewehrfeuer überlagerte sich mit dem Geräusch von Funkgeräten und Sturmgewehren. Sie schaute geradeaus über den Steg, der die Halle durchquerte. Die Frau mit dem Maschinengewehr, die ihr zuvor entkommen war, war dort und zielte gerade auf das SWAT-Team.
»Nein!«, rief Kristen und sprang nach vorne, als die Frau zu feuern begann.
Die Frau lächelte schadenfroh und boshaft. Kristen erinnerte sich an den Gesichtsausdruck eines Jungen, mit dem sie in der vierten Klasse war. Er hatte Freude daran, Insekten die Beine abzureißen. Der Gesichtsausdruck dieser Frau war derselbe – die Befriedigung, die aus dem Leiden anderer abgeleitet wurde, war wirklich krankhaft.
Sie dachte an die Menschen, die sie heute bereits getötet hatte, aber erinnerte sich auch an die Gründe weshalb. Dass sie es getan hatte, weil die Kriminellen darauf aus waren, diese Stadt zu zerstören und ihre Teamkollegen fertigzumachen und... weil sie Jonesy getötet hatten. Hatten sie es verdient zu sterben? Vielleicht. Aber war das ihr Problem? Zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt? Nein. Nein, das konnte es nicht sein. Nicht, wenn sie sich von dieser Frau unterscheiden wollte.
»Hey!« schrie sie ihre Gegnerin an. »Hör jetzt auf, und du lebst weiter.«
»Fick dich, verdammte Drachenschlampe! Ich kann dich vielleicht nicht töten, aber ich werde deine Freunde ausbluten lassen, wie die fetten Schweine, die sie sind. Wir brennen diesen Ort nieder und die ganze verdammte Stadt wird nach Speck stinken.« Sie lachte wie eine Wahnsinnige und nahm den Angriff auf die Männer und Frauen dort unten wieder auf.
Wütend sprang Kristen nach vorne und trieb ihre neuen Fähigkeiten bis an die Grenze des Möglichen. Sie ignorierte, wie die Frau sie genannt hatte und ob es Sinn ergab. Der Steg bebte unter ihr, als sie vorwärts rannte, und zwar schneller, als sie es je für möglich gehalten hätte.
Trotz der Drohung, ihre Freunde zu töten, richtete die Frau das Maschinengewehr immer noch auf Kristen, als sie näher kam.
Genau wie vorher passierte Kristen nichts. Sie nahm die Schüsse gerne entgegen und ertrug sie, weil sie wusste, dass jeder auf sie abgegebene Schuss einer war, der nicht auf ihre Teamkollegen unten abgefeuert wurde.
Innerhalb von ein paar Herzschlägen war sie nur Zentimeter von der Waffe entfernt.
»Ich sagte: Stopp!« Sie griff den Lauf und verdrehte ihn mit den bloßen Händen, wobei sie den Stahl wie einen Pfeifenreiniger nach hinten umbog.
»Fick dich!« Die Frau zog ein Messer und schoss auf Kristen zu.
In diesem Moment schwor sie sich, niemals wie diese Frau zu werden – besessen von Mord und Totschlag. Ihre Bereitschaft weiter zu töten, selbst angesichts der offensichtlichen Niederlage, war einfach nur widerlich.
Der Gedanke ließ Kristen innehalten. Sie wollte diese Frau nicht töten – sie wollte niemanden mehr töten, es sei denn es musste sein, um die Menschen zu schützen, die sie liebte.
Anstatt die Frau am Hals zu packen oder ihr einen Tritt in die Brust zu verpassen oder ein beliebiges anderes einfaches Manöver einzusetzen, das jetzt wegen ihrer Stahlhaut tödlich wäre, schlug sie einfach mit aller Kraft auf das Maschinengewehr und wiederholte: »Ich sagte, aufhören!«
Der Schlag war ausreichend, die Waffe zu zerstören als wäre sie aus Spielknete und nicht aus Metall. Er war auch ausreichend, den Laufsteg von den Stützen zu trennen, an denen er aufgehängt war. Die gesamte Anlage krächzte und wackelte.
»Warte!«, rief sie der Frau zu, aber diese hatte offensichtlich nicht die erforderlichen Reflexe. Als die Plattform zu schwanken begann, stürzte sie von der Kante und mitten in das SWAT-Team in einen unansehnlichen Tod.
»Raus hier!«, schrie Kristen den Leuten unter ihr zu.
»Ihr habt sie gehört. Los, raus!«, befahl Drew den Beamten um ihn und niemand widersprach.
Als der Steg sich löste, verließ ihr SWAT-Team gerade das Gebäude und entfernte sich schnell von dem herabfallenden Stück Metall.
Kristen sprang über das sich windende Netz aus Plattformen, Geländern und Leitern bis zum Boden. Ihr Gewicht war so immens, dass sie bei ihrer Landung den Beton sprengte.
Der Steg folgte mit einem donnernden Krachen, zertrümmerte alles und setzte eine große Staubwolke frei.
Ruhig stand Kristen auf und verließ das Gebäude.