Kapitel 25
D rew hatte nicht gelogen, was den Papierkram anging. Als sie die Hälfte davon fertig hatte, schmerzte ihre rechte Hand während der Arbeit alleine schon vom Halten des Stiftes. Die Zeit auf dem Schießstand war körperlich deutlich weniger anstrengend, hatte sie mehr als einmal mürrisch gedacht. Schlimmer noch war die Tatsache, dass sie sich mit den Identitäten all der Leute, die sie getötet hatte, auseinandersetzen musste.
Obwohl sie Kriminelle waren, die Jonesy getötet hatten, fühlte sie sich nach drei Tagen der Durchsicht ihrer Akten schuldig, ihre Leben so schnell beendet zu haben. Ein paar von ihnen hatten Kinder, manche Ehefrauen, andere eine Freundin oder einen Freund. Kristen wusste, dass alle vermisst würden, bis auf ein paar wenige der wirklich Ekelhaften. Verdammt, sogar diese Monster würden wahrscheinlich von irgendjemandem vermisst. Menschen waren schon witzig, wenn es um Gefühle ging.
Aber die Kriminellen, die Freunde und Familie hatten, machten ihr eigenes Verhalten nur noch unverständlicher. Das waren Menschen, die versucht hatten, mit Waffen und Sprengstoff die Macht zu übernehmen. Sie hätten die ganze verdammte Stadt niedergebrannt – ihre eigene Stadt. Was zwang Menschen dazu, zu den Waffen zu greifen und sie gegen ihre Heimat einzusetzen? Detroit hatte sicherlich seinen Anteil an den Protesten in der Vergangenheit, aber Menschen, die mit Maschinengewehren und Raketenwerfern bewaffnet waren und versuchten, das SWAT und wahllos Polizisten auszuschalten, waren weit jenseits der Proteste, die auch gewalttätig ablaufen konnten. Hatte ein Drache sie alle so beeinflusst und sich so ungeheuerlich verhalten lassen?
Sie wusste es nicht und was den Papierkram betraf, spielte es keine Rolle.
Ihr Teamleiter legte ihr eine Hand auf die Schulter und unterbrach sie bei ihrer Arbeit. »Hey, Hall, es ist Zeit.«
Ohne ein Wort zu sagen, nickte sie, stand auf und folgte ihm aus dem Revier und in ein Polizeifahrzeug. Butters saß auf dem Rücksitz. Er blieb ruhig und schaute sie einfach stoisch an.
Drew schaltete das Licht, nicht aber die Sirene an und fuhr los. Keith stieg hinter ihnen in ein weiteres Fahrzeug mit Beanpole am Steuer und Hernandez auf dem Rücksitz. Sie fuhren schweigend bis zum Beerdigungsinstitut.
»Die Verabschiedung sollte bald beendet sein«, sagte Drew.
Er hatte Recht, denn nach einigen Minuten kamen Menschen mit einem Sarg aus dem Beerdigungsinstitut und luden ihn in einen Leichenwagen. Aber es war nicht irgendein ›ihn‹, den sie geladen hatten, es war Jonesy.
Kristen hatte die Leiche bereits gesehen. Der Gerichtsmediziner hatte den Mann offensichtlich nicht gekannt. Er hatte ihn geschminkt, um die Narben in seinem Gesicht zu verdecken und den Mund zu einem schiefen Lächeln drapiert. Jonesy hatte nie gelächelt. Er höhnte und spuckte und sie hatte ihn nur lächeln sehen, wenn er über jemanden geflucht hatte – und jetzt fluchte er nie mehr.
Der Leichenwagen fuhr los, Drew folgte ihm und führte den Trauerzug der Polizeiautos durch die Motor City an. Kristen versuchte nicht zu weinen – schließlich fuhren sie erst in einem Trauerzug, also gab es noch keinen Grund dazu. Aber als sie Butters auf dem Rücksitz schluchzen hörte, gab sie ihre Bemühungen auf, so zu tun, als würde es nicht wehtun, Jonesy zu verlieren und ließ die Trauer zu. Die Tränen kamen zuerst. Es war, als würde sie sich erst jetzt eingestehen, dass er gestorben war, aber nach einer schmerzerfüllten Minute begann sie sich besser zu fühlen. Es war erstaunlich, wie ein Mensch sich anpassen konnte... oder ein Drache, dachte sie dumpf, immer noch schockiert über das, was sie über sich selbst erfahren hatte.
»Er war ein Schwein, weißt du?«, sagte der Scharfschütze.
Drew nickte. »Es ist Jonesy, über den wir hier reden, zeig etwas Respekt. Er war ein verdammtes Schwein, ein gottverdammtes Scheißschwein.« Er hielt an und holte tief Luft. »Ich... Gott, niemand konnte so fluchen wie er, nicht einmal Hernandez.«
»Sag das nie ihr gegenüber, sie ist in schlimmerem Zustand als alle anderen«, murmelte Butters.
Kristen wusste nicht, wie es möglich sein konnte, dass sich jemand noch schlechter fühlte als sie. Jonesy war ihretwegen gestorben – er hatte diese Kugeln für sie abgefangen und er war deswegen gestorben und jetzt zu denken, dass, wenn er nicht in den Weg gesprungen wäre, ihre Stahlhaut sie wahrscheinlich sowieso gerettet hätte. »Wenigstens hat sie ihn nicht getötet«, platzte sie heraus.
»Du auch nicht«, sagte Drew mit einer Schärfe, die sie überraschte. »Ein Krimineller mit einer Waffe hat es getan, vergiss das nie! Ich kenne zu viele Beamte, die sich die Schuld für die Taten eines Idioten mit einer Waffe geben.«
»Hätte ich die Kugel in der Pfandleihe nicht abgefangen, hätte er vielleicht nicht versucht, mich zu beschützen und ich hätte mich früher verwandelt. Egal, wie man es auch betrachtet, sein Tod ist meine Schuld.«
»Lass den Scheiß, Hall.« Das klang heftiger als bei Jonesy.
»Aber es ist wahr, hätte ich meine Kräfte benutzt, hätte ich...«
»Deine Kräfte sind mir scheißegal, aber ich schätze, du hast recht. Wir alle hätten einen kugelsicheren Drachenkrieger etwas früher im Kampf gebrauchen können.«
»Warum schreist du mich dann an?«
»Tu bloß nicht so, als wäre Jonesy kein gottverdammter Held gewesen. Er hätte diese Kugeln abgefangen, egal, ob du welche für ihn abgefangen hast. Er war ein Held, ein gottverdammter Held.« Drews Fassade begann zu bröckeln. Er biss die Zähne zusammen und wischte über die Augen, bevor die Tränen fließen konnten.
»Natürlich war er ein Held«, sagte Butters vom Rücksitz aus. »Glaubst du, wir hätten uns seinen Schwachsinn gefallen lassen, wenn er das nicht gewesen wäre? Er war ein lauter, respektloser – und wenn ich ganz ehrlich bin – rassistischer Mistkerl. Er hat sich mehr Feinde als Freunde gemacht und war eine Nervensäge, aber verdammt, er war ein guter Polizist. Er hat sich auch nicht von dieser Scheiße beeinflussen lassen. Er hat keine Ladendiebe umgebracht oder schwarzen Kindern in den Rücken geschossen, wie es manch andere Polizisten tun. Er hat die Politik zu Hause gelassen, aber nicht seine gottverdammte Zunge.«
»Genau«, sagte Drew. »Er war ein verdammtes Arschloch, aber er war auch ein verdammt guter Polizist.« Er schüttelte den Kopf und zwang sich, nicht zu weinen.
Sie kamen auf dem Friedhof an und zu sechst – Kristen, Drew, Butters, Beanpole, Hernandez und Keith – trugen sie Jonesys Sarg zum Grab.
Es gab Reden und Tränen. Sie hörte zu, aber alles, woran sie denken konnte, war der Mann, der gleich ins Grab hinab gesenkt werden sollte. Am Ende warf sie eine Handvoll Erde auf den Sarg.
Es brach ihr fast das Herz, aber sie wusste, dass auch Jonesy schon Menschen verloren hatte. Jeder bei SWAT hatte Leute verloren, also ließ sie sich nicht davon überwältigen. Sie würde weiter kämpfen und diese Stadt für die Menschen, die er zurückgelassen hatte, absichern.
* * *
Brian hatte sich geweigert, zu Buddy’s zu gehen und stattdessen darauf bestanden, dass Kristen eine der nicht gebackenen Pizzen aus der Pizzeria mitnahm, damit sie zu Hause essen konnten.
Es hatte ihr nichts ausgemacht, bis sie erkannte, dass ihr Bruder einen Hintergedanken hatte.
»Ich kann es immer noch nicht glauben, meine Schwester ist auf keinen Fall ein Drache.«
Kristen rollte mit den Augen, vermutlich zum tausendsten Mal. »Brian, was gibt’s da noch zu glauben? Schau mal.« Sie hatte geübt, ihre Haut in Stahl und zurück zu verwandeln und hatte ein gewisses Maß an Kontrolle darüber erreicht. Nach einem tiefen Seufzer hielt sie ihm ihre Hand vors Gesicht und verwandelte sie in Stahl.
Er zuckte die Achseln. »Keine große Sache! Also, du hast einfach einen Trick gelernt, das beeindruckt mich nicht.«
»Das ist kein Trick, Brian, schau her!« Sie schnappte sich eines der Küchenmesser ihrer Mutter und stach in ihre Handfläche – oder sie versuchte es zumindest. Die Klinge zerbrach.
»Du hättest das Messer vorher manipulieren können und außerdem habe ich im Internet Handschuhe gesehen, mit denen das auch geht.«
»Dann such du ein Messer aus. Stich irgendwo zu und schau, was passiert.«
»Wenn ihr denkt, ihr könnt mir wegen eures Geschwisterstreits alle Messer ruinieren, dann habt ihr euch geschnitten«, blaffte ihre Mutter sie an. »Das Abendessen ist fertig, wascht euch die Hände und kommt zu Tisch.«
Sie gehorchten ihr, wuschen wie aufgetragen ihre Hände und setzten sich an den Tisch. Kristen fühlte sich so entspannt wie seit Tagen nicht mehr. Zu Hause zu sein, fühlte sich wieder normal an. Brian behandelte sie immer noch so wie immer und ihre Eltern? Nun, sie waren immer noch ihre Mutter und ihr Vater, genau wie immer.
Sie war adoptiert worden, aber was soll’s? Sie konnte damit umgehen. Am Ende des Tages war das nicht mehr wichtig. Die Liebe und Fürsorge, die ihre Eltern ihr das ganze Leben entgegengebracht hatten, war das, was wirklich zählte.
»Ich dachte, Drachen sollen so etwas wie geniale Reflexe haben.« Ihr Bruder warf ihr eine Olive ins Gesicht, sie schlug sie weg.
»Brian! Lass deine Schwester in Ruhe«, schimpfte ihre Mutter.
»Ich habe gute Reflexe, ich habe dich in allem geschlagen, was wir je gespielt haben.«
»Nicht in Videospielen, du kannst nicht mal bei Mario Kart gewinnen!«
»Doch, das kann ich.«
»Auf keinen verfickten Fall.«
»Brian! Pass auf, was du sagst!«, ermahnte ihre Mutter giftig.
»Was? Dad redet auch so.«
»Dein Vater war 30 Jahre bei der Polizei. Er hat sich ab und zu das Recht dazu verdient.«
»Habe ich den Scheiß richtig gehört?« Frank stürmte ins Zimmer.
Marty lächelte das Lächeln, das aussagte, es sei jetzt nicht die Zeit zum Streiten. »Natürlich darfst du, das weißt du auch, aber nicht beim Essen. Kristen, du bist eine Dame, du solltest dir das besser nicht angewöhnen.«
»Aber, Marty, ich bin keine Dame, ich bin ein Drache, das habe ich doch schon erzählt.« Sie verwandelte ihre Haut in Stahl und wieder zurück.
»Mom, Kristen gibt an«, beschwerte sich Brian.
»Kristen Hall, wenn du mich noch einmal Marty nennst, werfe ich dich raus und dein Bruder kann deine Pizza essen.«
»Das ist doch dein Name.«
»Für dich nicht, junge Dame. Selbst wenn du ein verdammter Golddrache wärst, du hast deine Mutter zu respektieren«, sagte Frank ohne Strenge. Er grinste sogar noch breiter als Brian. »Aber für deinen alten Herrn, mach das mit der Silberhaut bitte noch mal, es ist einfach zu cool.«
Sie lächelte und ließ ihren Stahl aufblitzen, was ihrem Vater ein noch größeres Grinsen entlockte. Kristen schüttelte den Kopf. Er war nicht Frank für sie und würde es nie sein. Der Mann war ihr Vater und würde es immer bleiben.
Es machte keinen Unterschied, dass sie adoptiert worden war. Es war ihr egal, dass dies nicht ihre biologische Familie war und – zumindest unter diesem Dach – es war ihr egal, ein Drache zu sein. Sie wusste aber auch, dass der Begriff Familie nicht nur hier gelten würde. Da sie mit diesen Menschen nicht blutsverwandt war, war ihre neue Verbindung zum SWAT-Team umso wichtiger, aber sie würde nie vergessen, woher sie kam.
Obwohl, wenn Brian nicht endlich die Klappe halten würde, müsste sie ihre Kräfte einsetzen und ihn bei seinen Videospielen vernichtend schlagen.
ENDE
Kristen Hall kehrt zurück in:
»Stahldrache 02 – Drachenwut«