Kapitel 6
Bradley
„Du warst schon immer ein Weichei, großer Bruder“, sagt er.
Ich seufze, lehne mich in meinem Sitz zurück und betrachte das Gesicht meines jüngeren Bruders Ryan auf dem Computerbildschirm.
Er ist nur einer meiner jüngeren Brüder. Ich bin der Älteste von vier Geschwistern und einer der Leiter einer der vier Teilregionen der Carter Group. Unser lieber Vater hat in seinem Testament das Unternehmen - eine Multi-Milliarden-Dollar-Immobilienentwicklungsgesellschaft - in vier geografische Sektionen unterteilt.
Jeder von uns ist für eine Region zuständig und verantwortlich für alles, was darin geschieht. Es war eine ziemlich brillante Art, das riesige und hochprofitable Reich, das er für uns errichtet hatte, unter uns aufzuteilen. Aber das ist auch nicht weiter verwunderlich. Mein Vater war nun mal ein brillanter Mann.
Ryan ist mir altersmäßig am nächsten und deshalb stehe ich ihm wahrscheinlich näher als meinen anderen Brüdern. Nicht, dass ich ihnen nicht nahe stünde, aber ich habe das Gefühl, dass Ryan und ich eine Bindung haben, die ich leider nicht mit den anderen beiden teile.
Mein Zuständigkeitsbereich ist die Westküste, die von Alaska bis hinunter zu Baja California reicht, während seiner der Süden und Südwesten ist, so dass wir uns nicht so oft sehen, wie ich es gerne hätte, aber wir skypen normalerweise mindestens einmal pro Woche, einfach um uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten.
„Ich war nicht gerade zimperlich“, sage ich. „Ich habe sie immerhin dazu gebracht, auf ihren Anspruch auf jegliches Vermögen und Eigentum zu verzichten. Ich habe ihr nichts gegeben.“
„Du hast ihr die Wohnung geschenkt“, antwortet er. „So wie ich das sehe, läuft das unter ‚etwas‘ und ist definitiv nicht nichts.“
Ein schiefes Grinsen umspielt meine Lippen. „Ja, sie wäre wohl auf der Straße gelandet, wenn ich ihr nicht wenigstens die Wohnung überlassen hätte“, gestehe ich. „Ich bin kein komplettes Arschloch.“
„Wie ich schon sagte, ein Weichei“, lacht Ryan. „Wenn ich an deiner Stelle wäre, hätte ich ihren bösartigen, hinterhältigen Arsch direkt ins Gefängnis geschickt. Dort hätte sie zumindest ein Dach über dem Kopf und drei Mahlzeiten am Tag, Bruder.“
Ryan spuckt gerne große Töne, aber wenn es wirklich hart auf hart gekommen wäre, hätte er wahrscheinlich dasselbe getan wie ich. Wahrscheinlich hätte er sogar ein bisschen Geld dazugegeben, um ihr den Übergang zu erleichtern. Er besteht gerne darauf, dass ich der Weichling in der Familie bin, aber von den vier Brüdern muss ich sagen, dass er mit Abstand das weichste Herz hat.
Mit anderen Worten, er bellt oft und beißt nur selten.
„Nun, die Sache ist durch“, sage ich. „Wenn sie allerdings versucht zurückzuschlagen, werde ich ihr die Hölle heiß machen.“
„Oh, ich habe das Gefühl, dass sie versuchen wird, sich zu rächen, Bruderherz“, sagt Ryan. „Du solltest vorsichtig sein. Meine größte Sorge ist, dass du es nicht kommen siehst, also sei auf der Hut.“
„Das werde ich, Ryan, danke“, sage ich.
„Gut. Also, wie ist deine neue Heimatstadt?“, wechselt er das Thema
Ich schaue aus dem Fenster und ein mildes Lächeln umspielt meine Lippen. Die Stadt Hilton Bay ist charmant. Hier herrscht ein echtes Kleinstadtgefühl und ein langsameres Lebenstempo, das ich unglaublich reizvoll finde. Ehrlich gesagt, bin ich ein wenig entsetzt über die Gentrifizierung in der Stadt, die den Charme ein wenig zu beeinträchtigen scheint. Das ist bedauerlich, denn ich mag die kleinen, einheimischen Geschäfte viel lieber als die hochpreisigen, generischen Einzelhandelsketten.
„Es ist schön hier“, sage ich. „Ruhig. Friedlich. Ich glaube, das ist genau das, was ich im Moment brauche.“
„Das ist schön zu hören, Bruder“, sagt Ryan. „Du brauchst definitiv etwas Zeit, um den Kopf frei zu bekommen und dich von dem ganzen Scheiß ein wenig zu erholen.“
„Genau das tue ich.“
In der Ferne sind der Hafen und die gigantischen Kreuzfahrtschiffe zu sehen, die in der Nähe des schicken und modernen Terminals angedockt sind. Überall in der Gegend sind Hotels aus dem Boden geschossen, und ich kann sehen, dass überall eifrig gebaut wird. Es ist schwer zu sagen, worum es sich bei den Projekten genau handelt, aber ich habe das Gefühl, dass in Ufernähe einige hochpreisige Luxus-Condos gebaut werden. Sogar in der Nähe eines großen Kreuzfahrt-Hubs werden Eigentumswohnungen am Wasser ziemlich viel Geld einbringen. Das Prinzip ist überall das Gleiche.
„Gibt es dort irgendwelche Geschäftsmöglichkeiten?“, fragt Ryan. „Wo ist es noch mal?“
„Hilton Bay“, sage ich. „Eine kleine, aufstrebende Stadt in der Bay Area. Und ja, es sieht so aus, als ob sich hier eine Menge bewegt. Sieht aus, als ob hier ein neues Kreuzfahrt-Drehkreuz und ein paar Condos aus dem Boden gestampft werden. Die Hauptverkehrsader durch die Stadt sieht aus, als würde sie einige bedeutende Veränderungen erfahren.“
„Hast du vor, dort Geschäfte zu machen?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sage ich. „Irgendwas an der ganzen Gentrifizierung, die ich hier sehe, fühlt sich einfach falsch an. Dieser Ort ist eigentlich sehr charmant. Es ist eine schöne Stadt. Aber es sieht so aus, als ob jemand versucht, sie in einen billigen Abklatsch von San Francisco oder so zu verwandeln. Der Charakter des Ortes wird zerstört. Das ist bedauerlich.“
„Wie ich schon sagte, du bist ein Weichei“, lacht Ryan.
Ich lache und schüttle den Kopf. „Ja, das bin ich“, sage ich. „Wie auch immer, ich sollte jetzt gehen. Ich muss mit Mozart raus.“
„Klingt gut. Ruf mich in ein paar Tagen an“, sagt er. „Ich möchte mehr über deine neue Stadt hören.“
„Das werde ich tun“, sage ich. „Mach’s gut, Bruder.“ „Du auch.“
Ich trenne die Verbindung, lehne mich für einen Moment in meinem Sitz zurück und starre auf die Stadt Hilton Bay hinaus. Hier oben auf meinem Hügel habe ich einen hervorragenden Ausblick und kann alles sehen, was sich unter mir abspielt. Nein, ich kann nicht gerade sagen, dass ich ein Fan davon bin, was mit dem Charakter dieses Ortes gemacht wird.
Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merke, dass mein Golden Retriever Mozart im Zimmer ist, bis er seinen mächtigen Kopf auf mein Bein legt und mich mit seinen großen, seelenvollen Augen anglubscht. Ich strecke meinen Arm aus, kraule ihn hinter den Ohren und lächle.
„Bereit für einen Spaziergang?“, frage ich.
Als ob er jedes meiner Worte verstünde, macht er ein paar Schritte rückwärts, ein breites, hündisches Lächeln im Gesicht, sein Schwanz wedelt hinter ihm aufgeregt in der Luft. Er dreht sich im Kreis und kläfft mich kurz an, um mich zum Aufstehen zu ermuntern.
Es ist schwer, Trübsal zu blasen, wenn dieser Kerl in der Nähe ist.