Kapitel 24
Bradley
„Also vertraust du mir?“, frage ich sie.
Lea wirft mir einen prüfenden Seitenblick zu, nickt aber schließlich.
„Überraschenderweise“, sagt sie, „tue ich das. Glaube ich.“
Sie schaut auf die Augenbinde hinunter, die ich aus meiner Tasche ziehe, und ich sehe, wie sich ihre Augen weiten, was mir ein kurzes Lachen entlockt.
„Ist das eine Art abgefahrenes Sexding?“, sagt sie und zeigt auf die Augenbinde.
Sie beißt sich auf die Lippe, während ihr Blick zwischen der Augenbinde und mir hin- und herwandert und sich ein zunehmend zwiegespaltener Gesichtsausdruck auf ihren Zügen manifestiert, als ob sie plötzlich ihr Vertrauen in mich überdenken würde.
„Also erstmal ist eine Augenbinde so ziemlich das am wenigsten abgefahrene ‚Sexding‘, das ich mir vorstellen kann“, sage ich. „Wenn ich Handschellen oder vielleicht eine Peitsche gezückt hätte, dann hättest du Anlass zur Sorge.“
„Ja, du hast leicht reden.“
Ich lache wieder. „Es steckt nichts Sexuelles hinter der Augenbinde“, sage ich. „Ich verspreche es. Ich habe nur eine Überraschung für dich.“
Vor etwa einem Jahr habe ich Pläne für diesen Valentinstag gemacht. Ein Valentinstag, von dem ich dachte, dass ich ihn mit Jessica verbringen würde. Dazu gehörte eine Reservierung in einem der exklusivsten Restaurants in San Rafael - so exklusiv, dass man es eine lange, lange Zeit im Voraus reservieren muss.
Ohne Frage hat sich eine Menge in meinem Leben geändert, seit ich die Reservierung vor einem Jahr gemacht habe, und ich hatte sie ehrlich gesagt ganz vergessen, bis ich angerufen wurde, um den Termin zu bestätigen. Zuerst dachte ich daran, abzusagen und diesen Valentinstag zu Hause zu verbringen. Aber nach einigem Grübeln über Henrys Worte während unserer kleinen Unterhaltung vor ein paar Tagen, entschied ich, dass es vielleicht eine bessere Idee wäre, den Tag mit jemand anderem zu genießen. Jemand, mit dem ich gerne zusammen bin.
Ich war zwar weiterhin ein wenig nervös angesichts der Botschaft, die ich damit aussende, habe mir aber dann ein Herz gefasst und sie angerufen, um sie zu bitten, sich für den Abend freizunehmen. Genau wie ich zögerte sie zunächst, entschied sich dann aber schließlich - wahrscheinlich auf Drängen ihrer Freundin Megan hin - meine Einladung anzunehmen.
Es ist der sprichwörtliche Elefant im Raum, aber keiner von uns beiden erwähnt die kuriose Tatsache, dass wir ein Date am 14. Februar haben. Der Valentinstag hat normalerweise eine tiefere Bedeutung, und ich bin mir nicht sicher, ob wir schon
so weit sind. Oder um ehrlich zu sein weiß ich, dass wir es nicht sind.
Aber ich wollte mir andererseits auch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, eines der besten Restaurants in Kalifornien - und womöglich in der Welt-, zu genießen. Ich weiß noch, wie sehr ich mich darauf gefreut habe, als ich damals die Reservierung gemacht habe. Nachdem ich von einem Kollegen davon gehört hatte, musste ich es unbedingt testen.
Oder vielleicht ist das nur ein willkommener Vorwand, meine rationale Rechtfertigung?
„Darf ich?“, frage ich und halte die Augenbinde hoch.
Ein leicht beklommener Blick geht über ihre Züge, aber sie nickt schließlich zaghaft. Ich trete vor und lege ihr vorsichtig die Augenbinde um, wobei ich darauf achte, dass sie nicht zu fest sitzt.
„Kannst du etwas sehen?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. „Kein bisschen.“
„Gut“, sage ich.
Wir gehen gemeinsam zum Auto und Edward fährt uns zum Hubschrauberlandeplatz an der kleinen, privaten Landebahn am anderen Ende der Stadt. Ich helfe ihr aus dem Auto und hinüber zum Aufzug, der uns auf das Dach bringt, auf dem mein Hubschrauber wartet.
Ich fürchte, sobald Edward den Hubschrauber startet, werden das Motorengeräusch und der Wind der Rotoren alles verraten. Zumindest die Tatsache, dass sie dabei ist, in einen Hubschrauber einzusteigen. Als der Motor aufheult und sich
die Rotoren zu drehen beginnen, hält Lea erschrocken inne und klammert sich an meiner Hand fest.
„Was hat der Hubschrauber zu bedeuten, Bradley?“, schreit sie, um die Rotoren zu übertönen. „Was ist hier los?“
„Das wirst du schon sehen“, sage ich. „Vertrau mir.“
„Sagte die Spinne zur Fliege.“
Ich lache, während wir gemeinsam zum Hubschrauber gehen. Edward öffnet die Tür und hilft uns, hineinzuklettern. Als sie sicher in der Kabine sitzt, steige ich ebenfalls ein. Nachdem wir Platz genommen haben, schließt Edward die Tür, was die Intensität der Geräuschkulisse drastisch reduziert. Ich nehme die Headsets aus den Wandhalterungen und lege eines auf meinen Schoß. Lea zuckt zusammen, als ich ihr das Headset über die Ohren stülpe, aber ich lege ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und drücke sie. Ich setze mein eigenes Headset auf und rücke das Mikrofon zurecht.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, sage ich ins Mikrofon.
Ich beobachte, wie Lea hastig an ihrem Headset herumfummelt, schließlich ihr eigenes Mikrofon findet und es an ihren Mund hält. „Das sagen Menschen immer, kurz bevor es tatsächlich etwas gibt, worüber man sich Sorgen machen sollte, weißt du.“
Ich lache wieder, schüttle den Kopf und lehne mich in meinem Sitz zurück. Wir sitzen in dem Executive-Hubschrauber, den ich extra gekauft habe, um mich zwischen Hilton Bay und San Francisco hin- und her zu chauffieren. Es ist immer noch ein Hubschrauber, was bedeutet, dass er natürlich
nicht der Gipfel des Komforts ist. Aber mein Bell 407 Textron ist schon okay.
Die Executive-Kabine ist von der Pilotenkabine abgetrennt, um eine gewisse Privatsphäre zu garantieren. Sie ist groß genug für sechs Personen, hat tiefe, gepolsterte Stühle und all den elektronischen Schnickschnack, den ich mir nur wünschen kann. Und das Wichtigste, zumindest für meine Zwecke in diesem Moment, ist, dass es eine Menge Fenster gibt, die uns einen Panoramablick auf die Welt unter uns erlauben.
Edwards Stimme ertönt über die Kopfhörer. „Wir werden jetzt abheben, Mr. Carter“, sagt er. „Bitte stellen Sie sicher, dass Sie und Ms. Sullivan gut angeschnallt sind.“
„Danke, Edward“, sage ich.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass unsere Gürtel festgeschnallt sind, nehme ich Lea endlich die Augenbinde ab. Ihre Augen sind bereits weit aufgerissen und sie schaut sich nervös um. Ich sehe einen kurzen Schatten der Unsicherheit über ihr Gesicht fliegen. In diesem Moment wird mir klar, dass ich sie nie vorher gefragt habe, ob sie Flugangst hat.
Dafür ist es jetzt sowieso zu spät, denke ich mir insgeheim.
Der Hubschrauber hebt sanft und anmutig ab, während sie ungläubig aus dem Fenster starrt. Ihre Augen werden größer, ihr Mund formt ein perfektes ‚O‘. Sie verharrt für eine ziemlich lange Zeit wortlos aus dem Fenster schauend und ich beginne zu befürchten, dass sie eine Art Panikattacke hat. Vor allem, weil sie meine Hand immer noch so fest umklammert hält, dass meine Finger beinahe taub werden.
„Geht es dir gut?“, frage ich, nachdem ein paar Momente vergangen sind.
„Mir geht es gut“, bringt sie schließlich mit etwas rauer Stimme hervor. „Ich habe nur ein bisschen Höhenangst, das ist alles.“
„Bist du schon mal in einem Hubschrauber geflogen?“
Sie schüttelt den Kopf und dreht sich mit bleichem Gesicht zu mir um. Lea hält immer noch meine Hand fest und starrt mich an, ihre Augen sind ganz auf meine gerichtet. Es ist, als würde sie aktiv versuchen, nicht aus dem Fenster zu schauen, indem sie Löcher in mich starrt. Ich strecke die Hand aus und streichle ihre Wange, spüre, wie sie zittert, aber auch, wie sie sich in meine Berührung lehnt.
„Du wirst das schon überstehen“, sage ich. „Edward ist der beste Pilot, den man sich wünschen kann. Er fliegt schon seit zwanzig Jahren und hat sogar in der Army im Nahen Osten gedient. Soweit ich weiß, ist er in ein paar ziemlich brenzlige Situationen geraten und immer unbeschadet herausgekommen. Das hier ist ein Kinderspiel dagegen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er uns sicher ans Ziel bringen wird.“
„Wo sind wir -“
„Schhh“, sage ich und drücke meinen Finger auf ihre Lippen. „Wie ich schon sagte, es ist eine Überraschung. Du musst dich wohl ein wenig gedulden.“
Ohne wirklich darüber nachzudenken, ziehe ich sie dicht an mich heran und lege meinen Arm um ihre Schulter. Lea lässt sich von mir trösten und lehnt ihren Kopf sanft an meine Schulter. Es dauert ein paar Minuten, aber ich spüre,
wie sich ihr Körper endlich ein wenig entspannt. Ich fahre fort, beruhigend auf sie einzuwirken, bis sie sich schließlich aufsetzt, die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrt und sie erneut den Mut findet, aus dem Fenster zu schauen.
In der Ferne, auf der anderen Seite der in der Sonne glitzernden Bucht, sind die dicht bewaldeten Ausläufer der Santa Cruz Mountains zu sehen, die sich kilometerweit entlang des Silicon Valley erstrecken. Die Bucht leuchtet und funkelt in einem tiefen Saphirblau. Es ist ein atemberaubender Anblick, und ich bin froh, dass Lea es endlich gewagt hat, aus dem Fenster zu schauen, um ihn gemeinsam mit mir zu genießen.
„Es ist wunderschön von hier oben“, sagt sie. „Ich habe die Bucht immer nur vom Boden aus gesehen.“
Ich möchte beinahe sagen „Nicht so schön wie du‘, weiß aber, wie furchtbar kitschig und klischeehaft das klingen würde. Ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie sie auf so etwas reagieren würde, und bin zugegebenermaßen auch ein wenig überrascht, dass ich den Drang verspüre, so etwas Schnulziges zu sagen. Abgesehen davon, dass ich keine falsche Botschaft aussenden will, habe ich normalerweise auch deutlich originellere Antworten auf Lager.
Also halte ich mich zurück und sage stattdessen einfach: „Unfassbar schön.“
Wir sitzen in andächtiger Stille nebeneinander und starren auf die Schönheit der Szenerie, die sich jenseits des Fensters unter uns ausbreitet. Um einen besseren Blick auf die Berge zu erhaschen, lasse ich Edward um sie herumfliegen und uns so nah wie möglich heranbringen. Schon bald beginnt die Sonne, sich dem Horizont zu nähern, und lässt den Himmel in Orange- und Rottönen erstrahlen, was die Gipfel der Berge in
ein wahres Farbenmeer taucht. Das Bild ist nichts weniger als atemberaubend.
Lea scheint sich endlich entspannt zu haben und den Flug zu genießen. Edward entfernt sich wieder von den Bergen und steuert über die Bucht hinweg an der majestätischen Skyline von San Francisco vorbei auf das Städtchen San Rafael zu.
Als wir das Golden Gate überquert und die Richardson Bay hinter uns gelassen haben, sehen wir San Rafael in voller Pracht vor uns ausgebreitet, rundherum funkelnd in den leuchtenden Farben der untergehenden Sonne.
Edward fliegt uns zu einem kleinen Privatflughafen und setzt den Helikopter sanft auf dem Rollfeld ab. Wir spüren die Landung kaum. Ich schaue zu Lea hinüber und lächle breit.
„Ich sagte doch, er ist der Beste“, sage ich.
„Das war unglaublich“, sagt sie mit einem Anflug von Ehrfurcht in der Stimme.
Auf dem Rollfeld wartet ein Auto auf uns. Ich helfe Lea aus dem Hubschrauber und fange sie in meinen Armen auf, als sie stolpert. Sie ist leicht wie eine Feder und sieht mich mit großen, dankbaren Augen an. Ich erwidere ihren Blick und spüre, wie mich etwas durchströmt, das ich nicht definieren kann. Wie aus einem Impuls heraus beuge ich mich vor und küsse sie. Ihre weichen Lippen fühlen sich so warm an, insbesondere in Anbetracht der um uns herum herrschenden Kälte.
Aufgrund dieser eisigen Kälte ist es eher ein schneller, keuscher Kuss. Ein Auto wartet auf uns. Ich nehme ihre Hand
und wir gehen zu dem schwarzen Geländewagen. Der Fahrer nickt mir zu, als er die Tür für uns öffnet.
Ob ich es nun beabsichtigt habe oder nicht, die ganze Einlage beginnt eine sehr romantische, fast schon andächtig ernste Wendung zu nehmen. Ein Teil von mir fürchtet, Lea könnte überwältigt und eingeschüchtert sein. Nicht, dass ich es ihr verübeln würde, denn tief in ihrem Inneren macht es mir auch eine Heidenangst. Aber sie starrt mit großen, funkelnden Augen aus dem Fenster, während wir uns in Bewegung setzen, und nimmt jedes Detail der Stadt um uns herum auf. Ich habe das Gefühl, sie versucht zu erraten, wo wir hinfahren. Ein paar Mal versucht sie es schließlich auch, aber sie liegt jedes Mal falsch.
Wir halten vor dem Restaurant namens
The Aurora
und Lea kann es für einen langen Moment einfach nicht fassen.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein, Bradley?“, sagt sie mit Staunen in der Stimme. „Dieses Restaurant ist durchgehend ausgebucht. Es ist das Feinste vom Feinen. Und ich habe irgendwo gelesen, dass man für den Valentinstag schon Monate im Voraus reservieren muss.“
„Mindestens ein Jahr“, bestätige ich nickend.
Ihre Kinnlade fällt noch weiter herunter und ihre Augen werden noch größer. „Ein Jahr?“
Ich nicke wieder. „Normalerweise“, sage ich. „Aber man kommt nicht dahin, wo ich bin, ohne zu wissen, wie man hier und da ein paar Fäden zieht.“
Ich will ihr nicht sagen, dass ich die Reservierung ursprünglich für den Valentinstag mit Jessica gemacht habe.
Das würde dem Erlebnis einen bitteren Beigeschmack geben und die Sache für sie wahrscheinlich ruinieren. Aber Tatsache ist, wenn Lea nicht gewesen wäre, hätte ich die Gelegenheit ziehen lassen. Und seien wir mal ehrlich, Jessica hätte sich nicht annähernd so darüber gefreut wie Lea. Immer noch macht sie große Augen und lächelt bei jeder Gelegenheit ungläubig. Und das lässt auch mich die Sache wesentlicher stärker zu schätzen wissen.
Wenn ich mit Lea zusammen bin, merke ich, wie alles leichter und ein bisschen freier erscheint. Die Atmosphäre zwischen uns ist angenehmer, als sie mit Jessica jemals hätte sein können. Und dafür bin ich dankbar. Bei Jessica hatte ich das Gefühl, dass ich mich ständig verausgaben musste, um sie bei Laune zu halten. Aber bei Lea hat es den Anschein, als wäre sie auch mit einem Dinner in einer Restaurantkette zufrieden gewesen.
Sie ist bodenständiger, als Jessica es je war, und braucht keinen Luxus-Schnickschnack, um glücklich zu sein. Für sie geht es um die Erfahrung, nicht um Luxus oder Geld. Und was diese Erfahrung hier angeht, so scheint sie sie bis jetzt in vollen Zügen zu genießen.
Edward hält die Tür auf, als wir aus dem Auto aussteigen. Ich nehme ihre Hand und drücke ihr einen sanften Kuss auf den Handrücken. Ob bereit oder nicht, es scheint so, als würden wir uns auf Beziehungsterrain vorbewegen. Allein die Vorstellung, mich so kurz nach meiner Scheidung auf jemand Neuen einzulassen, lässt mein Herz höherschlagen. Vielleicht ist es aber auch nur Leas Gesichtsausdruck, der meinen Herzschlag beschleunigt - er lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie sehr glücklich ist, mit mir hier zu sein.
Nicht nur aufgrund des Hubschrauberflugs oder des Nobelrestaurants - sie ist einfach nur glücklich, einen schönen Moment mit mir zu teilen.
Und wenn ich ehrlich zu mir bin, geht mir das nicht viel anders.