Zwei

 

 

Einige Minuten später sind wir bereits auf dem Weg in die Stadt und ich bin überrascht darüber, dass Felix noch nicht einmal gefragt hat, ob ich ihn auf den Arm nehmen kann. Normalerweise ist er, was laufen betrifft, relativ faul, aber die Vorfreude auf das Osterfest scheint ihn heute zu motivieren.

„Und? Kannst du dich mit deiner neuen Arbeitsstelle anfreunden oder gibt es Probleme? Sind die Kollegen in Ordnung?“

Katharina hat vor gut einer Woche in einem neuen Friseursalon angefangen, da der, in dem sie vorher gearbeitet hat, wegen Insolvenz schließen musste. Sie hatte lange Angst, nichts Neues zu finden, dabei ging es am Ende sogar sehr schnell.

„Also, ob du es glaubst oder nicht, aber es ist wirklich toll. Die Mädels sind wirklich nett und das Arbeitsklima hervorragend, soweit ich das nach der kurzen Zeit sagen kann. Ich bin sehr gespannt, wie das alles weitergeht.“

„Na, das klingt doch gut.“ Ich schenke ihr ein Lächeln. „Da hast du dir offenbar ganz umsonst Sorgen gemacht.“

„Ich möchte es hoffen. Arbeit suchen, macht mir nämlich definitiv keinen Spaß.“

„Nenn mir einen, bei dem das so ist“, erwidere ich lachend und wende mich anschließend an Felix. „Und, Felix, hast du dir schon überlegt, wo wir als erstes hingehen?“

Der kleine Mann schaut zu mir auf. „Wie denn, wenn ich gar nicht weiß, was da alles ist?“

Ich muss erneut lachen. „Das habe ich dir doch jetzt schon unzählige Male erzählt.“

„Ja, und weiß ich, ob das wirklich stimmt?“

Ich schüttle den Kopf, während jetzt Kathi neben mir zu lachen beginnt. „Genau, Nick. Weiß er, ob das stimmt?“ Dann grinst sie. „Wir sind übrigens da. Schau mal, Felix, wie schön sie alles geschmückt haben.“

Felix richtet den Kopf nach vorn und ich tue es ebenfalls, während ich den Anfang des immer wieder wunderschönen Festes betrachte. Große Ostereier, kleine Körbe mit Ostergras und Hasen, Holzdeko und vieles, vieles mehr. Eins muss man dieser Stadt lassen, sie lassen sich zu jedem Anlass etwas anderes, Großartiges einfallen.

„Wow, das ist aber cool!“

„Ja, das ist es“, erwidere ich und lege kurz meine Hand auf seinen Kopf. „Kannst du dich an letztes Jahr gar nicht mehr erinnern?“

„Nein. Da war ich doch auch noch klein, Mann!“

Schmunzelnd schüttle ich den Kopf. „Ja, da hast du definitiv recht.“

Doch bevor Felix sich überhaupt dazu entscheiden kann, was er als erstes machen möchte, müssen wir uns erst einmal alles ganz genau ansehen. An jedem Stand gehen wir langsam vorbei, damit er alles inspizieren kann. Die Ostereiermalerei, das Kinderschminken und die Hüpfburg, nicht zu vergessen, dass er selbstverständlich auch noch Hunger hat, obwohl wir gerade erst zu Mittag gegessen haben. Aber was soll ich sagen? Natürlich kann er sich auch in dieser Hinsicht nicht entscheiden. Es gibt nämlich einfach viel zu viel, das unbeschreiblich lecker riecht.

„O Mann ey, ich werde noch verrückt!“

Ich muss lachen. „Du wirst verrückt? Aber warum?“

Mein Sohn zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was ich essen soll. Außerdem würde ich mir gern das Gesicht anmalen lassen. Und ich habe Durst!“

„Hm, das ist natürlich ein Problem.“ Ich sehe meine Schwester an, während ich amüsiert schmunzle. „Also, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen alle zusammen dort hinten zu den Tischen und setzen uns hin. Da gibt es auch Bedienungen und ich muss mich nicht stundenlang irgendwo anstellen. Oder aber ich stelle mich stundenlang irgendwo an und du gehst schon mal zum Kinderschminken. Das Essen wird dann natürlich eine Überraschung.“

„Hm …“ Felix sieht sich interessiert um, als seine Augen am Sitzbereich der Gastronomie hängenbleiben. Stirnrunzelnd blickt er sich um und betrachtet die Kellnerinnen und Kellner, die allesamt in unterschiedlichen Hasenkostümen unterwegs sind. „Die machen mir Angst.“

Jetzt muss ich lachen. „Wer? Die verkleideten Leute?“ Er nickt zustimmend. „Na schön, dann wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als dir etwas zu besorgen, nicht wahr?“

Felix nickt und sieht mich anschließend wieder an. „Aber was Leckeres!“, sagt er dann bestimmend und dreht sich zu meiner Schwester. „Gehen wir? Das wird bestimmt voll cool!“

„Aber sicher gehen wir!“ Kathi hält Felix die Hand hin, die er sofort ergreift. Anschließend wirft sie mir einen schadenfrohen Blick zu. „Ich wünsche dir viel Spaß beim Anstellen. Wir lassen uns jetzt anmalen.“

„Das möchte ich sehen“, antworte ich schnell und verziehe die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Bis gleich, ihr zwei. Ich beeile mich.“

Ich beobachte die beiden noch einen Moment lang, wie sie Hand in Hand in die andere Richtung laufen, und bin mal wieder froh darüber, dass ich meine Schwester habe. Sie ist und bleibt eine wichtige Bezugsperson für Felix, vor allem, weil wir sonst niemand anderen haben. Ohne sie wäre ich in den letzten Jahren wohl oft verzweifelt und hätte wahrscheinlich das eine oder andere Mal aufgegeben. Doch mit ihr zusammen habe ich die Zeit mit Felix hervorragend gemeistert. Und ich bereue keine einzige Sekunde davon.

„Hey, Vorsicht!“

Versunken in meinen Gedanken, habe ich mich noch nicht ganz umgedreht, da schreit plötzlich jemand panisch, bevor es im nächsten Moment einen großen Knall gibt. Die Augen kurz geschlossen, weiß ich genau, was ich gerade angerichtet habe, und wage es kaum, mir das Malheur anzusehen. Die Lippen aufeinandergepresst nehme ich einen tiefen Atemzug und öffne anschließend die Augen, als ich bemerke, dass mein Gegenüber längst auf dem Boden hockt und das zu Bruch gegangene Geschirr aufhebt. Innerlich die Augen verdrehend, ärgere ich mich über mich selbst. So etwas kann echt nur mir passieren.

„Entschuldige, bitte, das … das tut mir leid“, sage ich deshalb und gehe ebenfalls in die Hocke, um dem Kerl, der einen Haarreif mit Hasenohren auf dem Kopf trägt, zu helfen. Leider geht er in dem Moment, in dem ich mich bücke, wieder nach oben und stößt mit dem Kopf gegen meinen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht halte ich mir die Stirn und weiche zurück, da fallen die Sachen erneut mit einem Klirren auf den Boden zurück. „O Mann, verdammt“, nuschle ich und schließe erneut die Augen.

Das darf echt nicht mehr wahr sein.

„Ist alles in Ordnung?“ Die sanfte Stimme meines Gegenübers und die Hand, die sich an meinen Oberarm legt, lassen mich aufsehen und im nächsten Augenblick verstummen, obwohl ich ihm antworten möchte. Doch diese Augen. Diese grünen Augen, die unsagbar strahlen, bringen mich vollkommen aus dem Konzept. Ich kann nichts mehr sagen, geschweige denn anderweitig reagieren. Stattdessen versuche ich zu verstehen, warum ein einziger Blick ausreicht, um die Schmetterlinge in meinem Bauch Achterbahn fahren zu lassen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das … „Hast du dir wehgetan?“

Ich schließe ein weiteres Mal die Augen, um irgendwie wieder zu mir zu finden. Mein Atem geht schwer und mein Herz rast, auch wenn ich mir das absolut nicht erklären kann.

„Ja, es … es ist alles in Ordnung“, sage ich schließlich und sehe ihn erneut an. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen. Genauso warm und herzlich wie das Grün seiner Augen. „Es tut mir leid, dass ich … also …“

„Ach was, das macht doch nichts. Und wenn ich ehrlich bin, dann war es ganz allein meine Schuld.“

Seine Schuld? Was erzählt er denn da? „Deine Schuld? Wieso deine Schuld?“

„Na ja.“ Er zuckt mit den Schultern, während er das verbliebene Glas auf dem Tablett hin und her schiebt. Er scheint nervös zu sein. „Ich stand direkt hinter dir, als du dich umgedreht hast, weil ich euch beobachtet habe. Selber schuld, würde ich also sagen.“

Ich schüttle leicht den Kopf, weil ich immer noch nicht begreife, was das alles soll. Außerdem legt sich meine Aufregung mit Sicherheit nicht, wenn er mich weiterhin so ansieht.

„Du … du hast uns beobachtet?“

Er fängt an zu lachen. „Machst du das immer so? Das, was andere sagen, wiederholen?“

„Nein, normalerweise nicht, aber normalerweise habe ich auch nicht …“ Ich spreche nicht weiter, das endet nämlich definitiv nicht gut.

„Normalerweise hast du was nicht?“

„Nichts, ich …“ Und wieder schüttle ich den Kopf. „Ich werde natürlich für den entstandenen Schaden aufkommen. An wen muss ich mich denn wenden, damit das schnell erledigt ist?“

„Wie gesagt, es war meine Schuld, also musst du auch für nichts aufkommen.“ Er legt den Kopf schief und betrachtet mich. Warum zur Hölle macht er das? „Du könntest es allerdings wieder gutmachen und etwas mit mir trinken gehen. Was hältst du davon?“

Ich runzle die Stirn. „Ich soll etwas wieder gutmachen, an dem ich gar nicht schuld bin?“

Jetzt beginnt er zu lachen. „Vielleicht einigen wir uns darauf, dass wir beide Schuld haben, dann ist es leichter. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich mich gern mit dir treffen würde. Du bist süß und …“ Er macht eine kurze Pause, in der er mich wieder mit diesem Blick ansieht, der mich nicht mehr klar denken lässt. Diese Augen. Sie sind einfach … „Doch, wenn man es genau nimmt, bist du schuld. Schuld daran, dass ich unaufmerksam war und die Gläser zerstört habe. Du könntest dich also ruhig mit einem Glas Cola oder einem Bier bei mir entschuldigen. Na, wie hört sich das an?“

Wie sich das anhört? Gibt es hier irgendwo eine versteckte Kamera?

„Also ich weiß nicht, ich …“

Es gibt Momente, in denen hasse ich mich dafür, dass ich so schüchtern bin, und dieser ist definitiv so einer. Da steht dieser unendlich süße Typ mit der aufgemalten Hasennase vor mir und ich bringe kaum ein Wort heraus. Das ist wieder so typisch für mich, aber vielleicht sogar auch ein bisschen verständlich.

„Noah? Kommst du bitte? Es ist viel los und du kannst dir gerade keine Pause gönnen.“

Noah, so heißt er also, dreht sich leicht von mir weg. „Ich bin gleich bei dir. Gib mir noch eine Minute“, ruft er seiner Kollegin zu und wendet sich anschließend wieder an mich. „Warte.“ Dann kramt er in seiner Tasche herum und zieht einen Kugelschreiber aus dieser heraus. Und ehe ich mich´s versehe, hat er den Ärmel meiner Jacke nach oben geschoben und meinen Unterarm an sich gezogen. „Hier …“ Er notiert eine Nummer. Seine Handynummer. „Ich würde mich freuen, wenn du dich bei mir meldest …“

An der Art, wie er mich ansieht, weiß ich, dass er wissen möchte, wie ich heiße. Dennoch brauche ich einen Moment lang, um mich zu fangen. Ich glaube das gerade alles nicht.

„Nick“, sage ich trotzdem und zaubere ihm damit ein Lächeln auf die Lippen.

„Dann hoffentlich bis bald, Nick.“

Er wendet sich von mir ab und ich kann nicht anders, als ihm hinterherzustarren, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Dann fällt mein Blick auf die Nummer, die er, samt einem kleinen Osterhasen, auf meinen Arm gekritzelt hat.

Das ist doch vollkommen verrückt …