Sechs

 

Ich mag es nicht, wenn jemand unpünktlich ist, weshalb ich es mir selbst zur Aufgabe gemacht habe, jedes Mal, wenn ich verabredet bin, selbst schon eine halbe Stunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt zu sein.

So auch heute.

Ausgerechnet heute.

Ich stehe hier am großen Parkplatz, direkt vor dem Eingang zum Strand und warte nervös darauf, dass Noah endlich auftaucht. Die Hände in die Hosentaschen geschoben, trete ich von einem Fuß auf den anderen, während ich die Menschen beobachte, die neben mir ein und aus gehen. Viele laufen mit ihrem Hund den Weg zum Strand hinunter, andere haben ihre Kinder und ganz viel Sandspielzeug dabei. Wehmütig sehe ich ihnen hinterher. Wüsste Noah von Felix, hätte ich ihn vielleicht mitbringen können und dann … Ich schüttle den Kopf. Wer weiß schon, ob ich die heutige Chance überhaupt bekommen hätte, wenn ich ihm von Felix erzählt hätte. Vielleicht wäre ich dann gar nicht hier.

Aber wäre Noah dieses Treffen dann überhaupt wert gewesen?

Seufzend senke ich den Blick zu Boden. Es sind zu viele Fragen, die ich mir stelle, nur weil ich dieses eine Mal alles richtig machen möchte. Ehrlich sein. Keinen Sex beim ersten Treffen. Nicht so viel Angst haben. Wie sagt Kathi immer so schön? Du bist noch jung, irgendwann wirst du einen Mann treffen, der genau dasselbe will wie du. Mir ist aber vollkommen egal, wie alt ich bin. Ich möchte eine kleine Familie. Jemanden, der bedingungslos an meiner Seite steht. Viele würden mir wahrscheinlich den Vogel zeigen, aber das ist nun mal genau das, was ich mir wünsche.

„Nick?“ Ich hebe den Kopf, als ich mit klopfendem Herzen Noahs Stimme vernehme und sehe ihm direkt in die Augen. Leuchtendes Grün und ein Lächeln, das mich sofort umhaut, strahlen mir entgegen, sodass ich nicht anders kann, als ihn ebenfalls, wenn auch nervös, anzulächeln. „Ich sehe, ich bin wieder einmal zu spät.“

Er kommt näher, während ich einen Blick auf meine Uhr werfe. „Nur eine Minute, das ist zu verzeihen“, erwidere ich dann grinsend, als er vor mir stehen bleibt und plötzlich ein flauschiges, braunes Etwas an meinen Beinen hochspringt. Da ich das Fellknäuel zuvor nicht gesehen habe, sehe ich etwas irritiert nach unten, gehe aber kurz darauf direkt in die Hocke. Gott … ist der süß. „Na, du? Du bist aber ein Hübscher.“

Ich kraule seine Ohren, was ihm sehr zu gefallen scheint, da er seinen Kopf direkt an meine Beine schmiegt. Freudig wedelt er mit dem Schwanz und scheint nicht vorzuhaben, jemals wieder von mir wegzugehen.

„Ja, und eine kleine Wilde. Wenn dich das also stört, dann …

Ah, sie ist also ein Mädchen. „Nein, Quatsch. Warum sollte es?“

Ich sehe zu ihm hoch. Er lächelt. „Aber vielleicht stört es mich ja, weil der Hund intensiver begrüßt wird als ich.“

Als er zu lachen beginnt, schüttle ich schmunzelnd den Kopf. „Möchtest du, dass ich dir auch die Ohren kraule?“, frage ich, dann stehe ich auf. Den dummen Witz, der mir gerade durch den Kopf geht, spare ich mir. „Es ist schön, dass ihr hier seid. Du hast gar nicht gesagt, dass du die Kleine mitbringst.“

„Schlimm?“ Plötzlich wirkt er so unsicher, wie ich mich fühle.

„Nein, gar nicht“, antworte ich und kraule ihr erneut den Kopf. „Wollen wir los?“

„Klar, auf jeden Fall.“ Noah setzt sich in Bewegung und ich folge ihm, als mir auffällt, dass er nicht nur die Hündin, sondern ebenfalls eine ziemlich große Tasche bei sich trägt. Was er wohl bei sich hat? „Ich bin wirklich froh, dass das Wetter mitspielt. Heute Morgen hatte ich schon Angst, es macht meinem Plan einen Strich durch die Rechnung.“

„Das ist allerdings wahr, aber zum Glück geht das hier ja mit Sonne und Wolken immer relativ schnell.“

„Na, ich hoffe in den nächsten Stunden doch nicht.“ Er sieht mich an und lächelt wieder. „Wenn du Lust hast, können wir nachher gern noch eine Kleinigkeit essen. Hier gibt es nämlich die beste Currywurst der Welt.“

Ich muss lachen. „Komisch, das sage ich meiner Schwester auch immer, aber die ist da anderer Meinung.“

„Vegetarierin?“

„Nein, sie mag einfach nur keine Currywurst.“

Jetzt lacht er ebenfalls. „Gut für uns. Bleibt mehr übrig.“ Er grinst, bevor er sich zur Seite dreht, den Arm hebt und den Mann im Kassenhäuschen vor dem Strand begrüßt. „Moin, Louis“, ruft er.

Der andere hebt ebenfalls den Arm. „Moin, Noah. Heute Mal in Begleitung?“

„Heute Mal in Begleitung“, wiederholt er seine Worte und sieht mich einen Moment lang an. Ich weiß nicht warum, aber es beruhigt mich, dass er so etwas nicht sonderlich oft zu machen scheint. „Du weißt doch, sich ständig mit den Hunden unterhalten ist auf Dauer auch nichts.“

„Na, dann wünsche ich euch viel Spaß.“

„Danke“, erwidern wir wie aus einem Mund, was uns beide grinsen lässt. „Hast du mehrere Hunde?“, möchte ich wissen, während wir weiterlaufen.

Er schüttelt den Kopf. „Nein, aber bis vor ein paar Wochen hatte ich noch einen Golden Retriever, der ist aber leider verstorben. Ich habe lange gebraucht, um mich für sie hier zu entscheiden, aber letztendlich war es das Beste, was ich hätte machen können. Wenn du jahrelang ein Tier hast und plötzlich keines mehr, dann fehlt dir etwas. Und so ist die kleine Fellnase dann doch bei mir gelandet.“

„Ja, das verstehe ich. Und wie heißt sie?“

„Naomi.“

„Schöner Name.“

„Ein schöner Name für ein schönes Tier.“ Noah bleibt stehen, blickt auf und sieht nach vorn. „Wir müssen leider linksherum zum Hundestrand. Das ist ein Stück zu laufen, dafür sind wir später näher dran am besten Essen der Welt.“

Und wieder muss ich lachen. „Kann es sein, dass du Hunger hast?“

„Ich habe immer Hunger“, erwidert er grinsend.

Wir laufen weiter.

„Komisch, und ich dachte immer, Hasen stehen auf Salat.“

„Und Eichhörnchen auf Nüsse?“

„Und auf wedelnde Schwänze, die Bedingung zum Ohrenkraulen übrigens.“ Ich kann es nicht lassen. Dabei hätte es vorhin so viel besser gepasst.

Doch Noah lacht ebenso wie ich. „Ich werde es mir merken, aber ich glaube, heute belassen wir es beim Stöckchenwerfen und Drachensteigen.“

„Jetzt sag nicht, du hast einen Drachen mitgebracht.“

„Doch.“ Er klopft auf seine Tasche. „Alles hier drin. Und noch Einiges mehr. Ich hoffe, du hast Lust darauf. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher, aber da ich sehr viel Zeit draußen, vor allem hier verbringe, dachte ich, ich sollte dir das auch nicht vorenthalten. Wir hätten jetzt auch zu mir gehen und kochen können, aber das ist nicht so meins. Natürlich mache ich das ab und zu auch gern, aber das hier …“ Er lässt den Blick schweifen. „Das hier ist meine Welt. Bei jedem Wetter. So gut wie jeden Tag.“

Ich bin froh darum, dass er so ehrlich zu mir ist und sich nicht für mich versucht zu verstellen. Ein Date im Restaurant wäre wohl das Klassischste gewesen, aber am Ende absolut nicht authentisch. Das hier draußen, das ist er. Und er wollte sofort herausfinden, ob ich genauso bin oder eben nicht.

„Ich habe sogar sehr viel Lust darauf“, erwidere ich nach einer ganzen Weile, auch wenn es für ihn vermutlich zunächst zögerlich klingt.

Aber das ist es nicht. Im Gegenteil.

„Das heißt, du bist auch viel draußen?“

So langsam verlassen wir den kleinen Holzsteg und betreten den wunderschönen, hellbraunen Sandstrand. Sofort weht uns der Wind heftiger um die Nase, aber es ist nicht kalt. Vielmehr angenehm.

„Wir sind auch viel draußen, ja.“ Ich presse die Lippen aufeinander und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Ehrlichkeit. Genau darauf baut er auch. Und ich sollte die Gelegenheit nutzen, ihm direkt am Anfang die Wahrheit zu erzählen. Alles andere wäre nicht fair. „Vorzugsweise drüben am anderen Teil des Strandes und auf dem Spielplatz.“

„Ich verstehe. Hast du jüngere Geschwister oder Neffen und Nichten?“ Noah bleibt stehen und stellt seine Tasche auf dem Sand ab, bevor er sich umsieht und kurz darauf die Leine von Naomis Hals löst. Doch statt wegzulaufen, legt sie sich gemütlich in die Sonne. „Nick?“

„Hm?“

Ich sehe ihn an, seine Augen ruhen fragend auf mir. „Ob du jüngere Geschwister oder Neffen oder Nichten hast?“, wiederholt er seine Frage, dabei habe ich sie ganz genau verstanden.

„Nein, ich … ich habe einen Sohn“, erkläre ich ihm ruhig, während mir das Herz mittlerweile bis zum Hals klopft.

Auf seine Reaktion wartend, sehe ich ihn an, doch bei ihm regt sich zunächst nichts. Erst als er sich neben die Hündin setzt und ihren Kopf streichelt, spricht er wieder.

„Du hast einen Sohn?“

Ich nicke und setze mich ebenfalls. „Ja, er … er heißt Felix und ist fünf Jahre alt.“ Dass ich die Worte hinunter rattere, als würde ich die Aufbauanleitung für einen Schrank vorlesen, ist mir unangenehm, aber ich kann nichts dagegen machen. Mir ist so schlecht, weil die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, dass es in meinem Alter eben nicht leicht ist, jemanden zu finden, der damit kein Problem hat. Es ist nahezu unmöglich. „Hör zu, wenn das ein Problem ist, dann …“

Ich möchte schon aufstehen, da ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll, dass er rein gar nichts mehr sagt. Doch zu meiner Überraschung hält er mich am Unterarm fest.

„Nicht. Es ist natürlich kein Problem. Entschuldige bitte.“

Ich setzt mich wieder richtig hin. „Und warum sagst du dann nichts?“

„Weil ich …“ Er lacht ein wenig. „Weil das ehrlich gesagt sehr überraschend kam und ich dann so irritiert war, dass ich rechnen musste.“ Als er mich ansieht, versuche ich, in seinen Augen lesen zu können, ob er die Wahrheit sagt, doch ich weiß es nicht. Sein Lächeln scheint ehrlich, meine Angst kann er jedoch nicht verwerfen. „Du bist mit sechzehn Vater geworden?“

Während ich zustimmend nicke, überlege ich, wie ich ihm davon erzählen kann, ohne dass es merkwürdig für ihn klingt. Aber das werde ich wohl nicht schaffen.

„Damals, das … das war keine leichte Zeit für mich. Ich wusste zwar schon relativ früh, dass ich schwul bin, aber ich hatte nie die Möglichkeit, mich irgendjemandem zu öffnen. Vor meinen Freunden war ich der Coole, der jedes Mädchen hätte haben können und der es sich einfach nicht leisten konnte, einen anderen Eindruck zu gewinnen. Und zu Hause …“ Ich zucke mit den Schultern. „Mein Vater war Alkoholiker und allzeit zu Streit und Gewalt bereit. Meine Mutter war nicht in der Lage, sich hinter mich zu stellen, weil sie unter Depressionen litt und meine Schwester war längst ausgezogen. Ich hätte mich nie getraut, irgendjemandem davon zu erzählen. Und irgendwann habe ich dann gemeint, dass ich meinen Freunden beweisen muss, welch geiler Hecht ich doch bin.“

„Und dabei hast du das Wichtigste vergessen.“

Ich nicke, doch auch wenn er leicht lächelt, fühle ich mich gerade nicht wirklich gut. Wie lächerlich muss das nur für ihn klingen?

„Es tut mir leid. Jetzt hast du binnen fünf Minuten erfahren, wie grausig mein Leben doch war. Das sollte aber keine Jammerei werden, wenn du also keine Lust mehr hast, dann …“

„Nick …“ Er sieht mich an, mit einem Blick, der mir sofort das Gefühl gibt, dass alles in Ordnung ist. Und der die Schmetterlinge in meinem Bauch einmal mehr in Aufruhr versetzt. „Warum sind wir hier?“

„Damit wir uns kennenlernen.“

„Richtig.“ Er schmunzelt. „Warum sollte ich also keine Lust mehr haben? Es gehört zu dir. Der Kleine gehört zu dir. Und dass ich zunächst so komisch reagiert habe, tut mir leid. Das hätte wirklich nicht sein müssen.“

„Nein, schon gut.“

Er lächelt wieder. „Zu deiner Schwester hast du aber Kontakt, oder? Ich gehe jetzt mal davon aus, dass es die beiden waren, mit denen du auf dem Osterfest unterwegs warst.“

„Ja, genau. Kathi hat mich damals aufgenommen, als klar war, dass Svenja, so hieß das Mädchen, Felix nicht haben wollte. Für mich stand aber sofort fest, dass ich ihn nicht mehr hergeben möchte. Ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt.“

Wenn ich an damals denke, wie ich ihn das erste Mal gesehen und in den Armen gehalten habe, könnte ich noch immer weinen vor Glück. Es war so ein wundervolles Gefühl, sein eigenes Kind bei sich zu haben und kennenzulernen. Ich konnte nie begreifen, wie Svenja sich gegen ihn entscheiden konnte.

„Es ist immer wieder faszinierend, dass es so etwas gibt.“ Die Art und Weise, wie er mich ansieht, zeigt mir, dass er auf die Liebe auf den ersten Blick anspielt, und ich merke sofort, dass ich unsicher werde. Doch auch Noah räuspert sich. „Und dann hast du den kleinen Mann wirklich allein großgezogen? Das war doch sicher nicht leicht.“

„Na ja, groß will er noch werden, aber …“ Ich lache auf, als Naomi plötzlich aufsteht und sich direkt an meine Beine kuschelt. Zufrieden darüber, kraule ich ihren Kopf. „Ich hatte viel Hilfe von meiner Schwester und das Jugendamt saß natürlich auch mittendrin, aber ja … Es funktioniert alles sehr gut und mittlerweile haben wir auch unsere eigene Wohnung. Ich mache eine Ausbildung zum Bürokaufmann und bin immer relativ früh zu Hause. Das macht es um einiges leichter. Außerdem wohnen wir direkt neben dem Kindergarten, was die ganze Sache noch einmal angenehmer macht.“

Noahs Augen ruhen auf Naomi und mir, während er antwortet. „Ich finde, es verdient großen Respekt, wenn man ein Kind allein großzieht, und wenn man dann auch noch so jung ist wie du …“ Jetzt sieht er mich direkt an. „Es spricht sehr für dich, dass du den Jungen nicht ebenfalls abgelehnt hast. Ich denke, dass es nicht viele Männer gibt, die genauso gehandelt hätten. So viel Verantwortung und doch eigentlich noch gar kein Ziel im Leben.“

„Doch, von diesem Moment an hatte ich ein Ziel.“ Ich lächle ihn an. „Ich wusste, ich möchte dieses Kind glücklich machen und ich wusste ebenso, dass ich endlich so sein wollte, wie ich bin. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich nicht mehr versteckt, auch wenn es mich sehr viele Freunde gekostet hat. Aber das war mir egal und heute weiß ich, dass es die absolut beste Entscheidung meines Lebens war.“

Und als Noah mein Lächeln erwidert, fühle ich mich zum ersten Mal heute etwas besser. Nichts an seinem Blick deutet darauf hin, dass er es nicht ehrlich meint.

„Das hast du wirklich schön gesagt.“

„Und auch so gemeint.“ Unsere Blicke treffen sich erneut und ich kann nicht anders, als unentwegt in dieses umwerfende Grün zu starren. Alles in mir kribbelt und bringt mich abermals dazu, nervös auf meiner Unterlippe herumzukauen. Noah ist wahnsinnig hübsch und ebenso sexy, seine Augen absolute Faszination. Und ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass mir so etwas wie mit ihm noch nie passiert ist. Klar, mich hat schon der eine oder andere Typ sofort umgehauen, wenn ich ihn gesehen habe, aber das hier ist … Es ist anders. Intensiver. Und ich kann noch nicht einmal sagen, warum das so ist. „Und was ist mit dir?“

„Mit mir?“

Als ich ihm nach einer ganzen Weile diese Frage stelle, sieht er mich so verdutzt an, dass ich lachen muss.

Naomi hat ihren Kopf mittlerweile auf meinen Schoß gebettet.

„Ja, mit dir. Was machst du so? Wo kommst du her? Eltern, Geschwister, Kinder.“

„Ach so.“ Jetzt lacht er ebenfalls. „Entschuldige bitte, aber euch beide anzusehen, ist unglaublich schön. Ich hätte nie gedacht, dass sie dich sofort so akzeptiert. Fremden gegenüber ist sie nämlich eigentlich sehr skeptisch.“

„Das ist sicherlich der Kinderbonus“, scherze ich, was er mit einem Schmunzeln kommentiert. „Also?“

„Also …“ Er legt den Kopf etwas schief. „Über mich gibt es so viel im Grunde gar nicht zu sagen. Ich wohne schon seit meiner frühen Kindheit mit meinen Eltern hier in Schillig. Erst in meinem Elternhaus, jetzt in einer eigenen kleinen Wohnung. Ich arbeite als Altenpfleger und ab und zu helfe ich meinen Eltern im familieneigenen Café. Das war es eigentlich schon.“

„Ach, du kommst echt von hier?“, frage ich überrascht, da ich weiß, dass der Ort kaum mehr als einhundert Einwohner hat. „Das ist ja cool.“

„Das ist es, ja. Auch wenn ich als Jugendlicher nicht ganz dieser Meinung war.“ Er lacht ein wenig. „Partys fanden hier eher selten statt und mit meinen Freunden in die Stadt losziehen durfte ich eher selten. Ich glaube also, dass ich so einiges verpasst habe, was das betrifft.“

„Schlimm?“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, gar nicht, zumindest sehe ich das mittlerweile so. Was ich früher am liebsten jedes Wochenende getan hätte, mache ich heute kaum noch. Ich liege lieber mit Naomi auf der Couch und kuschle mich in eine Decke ein. Oder bin eben hier draußen. Mehr brauche ich im Grunde nicht.“

„Das klingt wirklich schön.“

Er nickt zustimmend. „Und du? Gehst du oft weg?“

„Nein, oft nicht. Nur ab und zu, ich …“ Ich glaube nicht, dass es angebracht ist, ihm zu erzählen, wie verzweifelt ich nach einer Beziehung suche. Und vor allem nicht, wie dumm ich mich dabei immer anstelle. „Eine ganze Weile lang bin ich ab und zu raus, ja. Dank meiner Schwester ging das ganz gut, aber so oft kommt es auch nicht mehr vor.“

„Ist sie verheiratet?“

„Nein.“

„Okay.“ Als er plötzlich aufsteht, rührt Naomi sich neben mir kaum. Einzig und allein den Kopf hebt sie an. „Also Geschwister habe ich keine, was aber im Grunde nicht schlimm war, da ich mit ziemlich vielen Kindern in der Nachbarschaft aufgewachsen bin. Viele von ihnen sind zwar nach und nach weggezogen, da die Idylle hier nicht jedem gefällt, aber das war in Ordnung. Meine beste Freundin wohnt sogar auch immer noch hier, sie ist mir zum Glück erhalten geblieben.“ Noah packt einen bunten Drachen und eine Decke aus, die er anschließend vor uns ausbreitet. Nachdem er sich auf diese gesetzt hat, fängt er an, den Drachen zusammenzubauen. „Hast du das schon mal gemacht?“

Ich sehe ihn skeptisch an. „Na klar, was denkst du denn?“

„Keine Ahnung?“, fragt er lachend. „Du kommst aus Wittmund, da weiß man nie.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“, erwidere ich ebenfalls lachend und schüttle den Kopf. „Glaubst du, bei uns gibt es keine Drachen? Außerdem hätte ich ja auch woanders herkommen können.“

„Hättest du, ja, aber irgendwie musste ich das ja jetzt herausfinden.“ Das schiefe Grinsen auf seinen Lippen gefällt mir. Es ist unglaublich sexy. „Was meinst du? Wollen wir?“

„Von mir aus gern, aber ich bin mir nicht sicher, wie deine Hündin das findet.“

Er wirft einen Blick auf das schlafende Tier, das noch immer auf meinem Schoß liegt. Dann greift er in die Tasche und holt einen relativ großen Stock heraus. „Naomi?“ Die Kleine hebt sofort den Kopf. „Stöckchen?“ Es dauert kaum den Bruchteil einer Sekunde, da ist sie bereits aufgestanden und wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Und als Noah das Stöckchen dann noch wirft, ist sie sofort Feuer und Flamme. Wie eine Verrückte rast sie ihrem Spielzeug hinterher und bringt es ihm sofort wieder zurück. „Noch Fragen?“

Ich fange an zu lachen. „Nein.“

Und so verbringen wir die nächsten zwei Stunden damit, den Drachen steigen zu lassen, mit Naomi Stöckchen zu werfen und uns richtig gut zu amüsieren. Noah ist genauso, wie ich ihn eingeschätzt habe: gesprächig, lustig, charmant und verdammt süß im Umgang mit seiner Hündin. Man spürt förmlich, welch großes Herz er hat und ich kann nicht leugnen, dass er mir immer besser gefällt. Es ist nicht nur sein Aussehen, nein. Es ist einfach alles. Seine ganze Art. Wie er spricht. Wie er sich bewegt. Wie er lacht. Das Strahlen seiner Augen. Das Lächeln auf seinen Lippen. Das alles an ihm fasziniert mich so sehr wie noch bei keinem anderen. Ja, ich weiß, es ist verrückt. Aber irgendwie …

„O Mann, ich glaube, ich brauche eine Pause. Wer hätte gedacht, dass …“ Ich gehe in die Hocke, um den Stock aufzuheben, als Naomi mir plötzlich entgegenrennt und sich auf mich stürzt. Lachend gehe ich zu Boden und finde mich kurze Zeit später in einem nassen Hundekuss wieder, gegen den ich mich kaum wehren kann. Egal, wie sehr ich versuche, meine Hände zwischen ihre Schnauze und mich zu bekommen. „Naomi, du altes Ferkel“, sage ich noch immer unter Lachen, als ich Noahs Stimme vernehme.

Er ruft ihren Namen und kommt näher. „Naomi, aus!“ Auch wenn er versucht, streng zu bleiben, merke ich, dass er sich das Lachen selbst nicht verkneifen kann. Dennoch zieht er sie wenige Augenblicke später von mir runter. „Schluss jetzt!“ Ich setze mich auf und wische mir das Gesicht sauber, was allerdings nicht so leicht ist, da es mittlerweile auch von Sand benetzt ist. „Ab auf die Decke. Ich glaube, du brauchst auch mal eine Pause.“ Faszinierenderweise hört sie sofort. „Alles in Ordnung?“

„Na klar.“ Ich schüttle den Kopf, um den Sand aus meinem Haar zu bekommen. „Ich stehe total auf nasse Hundezungenküsse.“

Lachend hält er mir seine Hand hin. „Das dachte ich mir schon, nach deinem Geständnis des Schwanzwedelns.“ Und ich ergreife sie, damit er mich nach oben ziehen kann. „Tut mir leid, sie ist leider noch ein bisschen wild.“

„Das muss dir nicht leidtun.“ Ich lächle, während ich noch immer versuche, den Sand aus meinem Haar zu bekommen. Doch auch das Rubbeln mit der Hand bringt nichts. „Heute Abend brauche ich definitiv eine Dusche.“

„Erst heute Abend?“ Er legt den Kopf schief. „So wie du aussiehst, brauchst du die sofort.“ Dann grinst er. „Wollen wir uns ein wenig setzen? Dann kommt Naomi zur Ruhe und wir können etwas trinken. Ich bin ganz schön aus der Puste.“

„Klar, warum nicht. Aber ich dachte eigentlich, du bist das gewöhnt.“

„Bin ich auch, aber nicht die Kombination Drache und Hund.“ Jetzt lächelt er. „Los, komm. Ich habe auch eine Kleinigkeit zu essen dabei.“

Während wir Richtung Decke laufen, stelle ich fest, dass sich kaum mehr jemand am Strand befindet. Nur noch ein paar vereinzelte Spaziergänger sind zu sehen, dabei waren wir vorhin nicht die Einzigen, die ihren Drachen haben in den Himmel aufsteigen lassen.

„Ich muss mal kurz auf mein Handy sehen. Vielleicht hat Kathi sich ja gemeldet.“

Ich setze mich auf die Decke und greife nach meiner Jacke, die ich vorhin ausgezogen habe, da es mir doch zu warm wurde. Keine Anrufe in Abwesenheit, aber eine Nachricht von meiner Schwester.

 

‚Felix möchte heute bei mir übernachten, damit wir einen Filmabend machen können. Du musst dich also nicht stressen, was das Zurückkommen anbelangt :) Ich hoffe, du hast viel Spaß. Dein Sohn lässt dir einen virtuellen Kuss geben.‘

 

Ich lächle, während ich meine Antwort eintippe. ‚Gib ihm einen von mir zurück und sag ihm, dass ich ihn liebhabe. Ich wünsche euch auch ganz viel Spaß und schreib mir später noch mal, bitte.‘ Anschließend stecke ich das Handy zurück in meine Jackentasche.

 

„Alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung. Sie hat mir nur gesagt, dass Felix gern noch bei ihr bleiben möchte. Ich habe also noch eine ganze Weile Zeit.“

Dass er bei ihr übernachtet, sage ich mit Absicht nicht, da ich nicht möchte, dass ich die ganze Nacht zur Verfügung stehe. Ich werde nicht denselben Fehler machen wie sonst. Nein, dieses Mal nicht.

„Das hört sich gut an.“ Er lächelt und hält mir eine Flasche Cola hin. „Hier, trink was. Möchtest du auch etwas essen? Ich habe ein paar Brote gemacht, bevor ich hierhergekommen bin.“

„Ja, sehr gern.“

Ich nehme ihm die Flasche und anschließend eines der Sandwiches ab, in welches ich sofort hineinbeiße.

Verdammt, ist das lecker.

„Wenn du Lust hast, können wir nachher bei meinen Eltern im Café noch ein Stück Kuchen essen. Allerdings solltest du vorher duschen. Du bist genauso dreckig wie Naomi.“ Ich werfe einen Blick auf die Kleine, deren Fell über und über mit Sand verdreckt ist, und fahre mir anschließend durch das Haar. Na super … „Das darfst du gern bei mir machen, ich wohne ja nicht weit von hier.“ Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe ihm direkt in die Augen, was mich, wie so oft an diesem Tag, kurz den Atem anhalten lässt. Die Art und Weise, wie er mich ansieht, haut mich immer wieder um und sorgt für ein Kribbeln in meinem Bauch, das kaum auszuhalten ist. Fasziniert sehe ich auf seine Lippen. Ich würde ihn so gern küssen, aber ich verbiete es mir. Nein, dieses Mal nicht! „Mir fällt gerade auf …“

Seine Finger gleiten durch mein Haar und befreien es von irgendetwas.

„Was denn?“

„Jetzt sitzen wir hier und essen Sandwiches, dabei wollten wir doch die beste Currywurst der Welt verschlingen.“

Noah grinst, doch das ändert nichts daran, dass die Stimmung zwischen uns plötzlich anders ist. Sie ist intensiver. Alles um uns herum scheint irgendwie … stillzustehen.

„Ich schätze, dafür werden wir sicherlich noch das eine oder andere Mal Zeit haben. Nicht wahr?“

„Das will ich doch hoffen.“

Erneut wandern Noahs Finger durch mein Haar, bis sie schließlich meine Wange erreichen und ich einen kurzen Moment die Augen schließe. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe. Mein Atem geht schwer. Und als ich die Augen wieder öffne, da …

„Du bist wunderschön, weißt du das?“

Er ist mir so nah. Sein Atem streift meine Haut. Sein Daumen meine Lippen. Immer und immer wieder gehen mir meine eigenen Worte durch den Kopf. Kein Sex beim ersten Date. Und dazu gehört auch ein Kuss, denn ein Kuss führt unmittelbar zu mehr, wenn ich vorhabe, die nächsten Stunden mit ihm zu verbringen. Ich sollte das nicht, aber er ist so süß und ich …

„Noah, ich …“

Ein Blick in seine Augen reicht aus, um mich vollkommen aus der Bahn zu werfen und das tun zu wollen, was ich mir ununterbrochen untersage. Ich möchte ihn küssen. Ihn spüren. Ich möchte herausfinden, ob ich das, was ich fühle, wenn ich ihn ansehe, ebenso fühle, wenn er mich berührt. Ganz egal, welche Konsequenzen das hat. Ganz egal, was ich mir für den heutigen Tag vorgenommen habe.

Doch dann …

„Ach Mann, Naomi …“ Wir schrecken beide zurück, als die kleine Hundedame plötzlich zwischen uns springt und Noah, so wie mir vorhin, das Gesicht ableckt. Es scheint, als wären die Fronten also geklärt. „Du bist echt unmöglich.“

„Sie zeigt eben ganz klar, zu wem du gehörst“, sage ich schmunzelnd, woraufhin er mich ansieht.

Zufrieden lächelnd, krault er ihr den Kopf. „Nur schade, dass ich so gar nicht auf Frauen stehe.“ Er hebt die Hand und streichelt mir über die Wange. Eine Geste, die mir in diesem Moment ebenso viel bedeutet wie ein Kuss. „Was ist? Wollen wir kurz zu mir, du gehst duschen und dann gibt es als Wiedergutmachung ein großes Stück Kuchen? Meine Eltern freuen sich bestimmt, wenn wir ihnen einen Besuch abstatten.“

„Von mir aus. Sehr gern sogar.“