Das tat er auch, während er nun beobachtete, wie Mamma Carlotta von Dr. Hillmot in Empfang genommen wurde. »Signora! Wie schön, dass Sie mich besuchen!«
»Er tut so«, raunte Sören seinem Chef zu, »als betriebe er hier ein gemütliches Café. Ob Ihre Schwiegermutter weiß, worauf sie sich einlässt?«
»Die ist hart im Nehmen. Sie hat dem Zimmermann in ihrem Dorf schon oft geholfen, wenn er einen Sarg fertig hatte und jemanden brauchte, der ihm die Leiche schminkte.«
Sören schüttelte sich. »Manchmal kommt es mir so vor, als hatte die Signora in ihrem einsamen Dorf schon mehr erlebt als wir hier auf unserer Schickimicki-Insel.«
Eriks Miene verschloss sich. »Warten Sie ab! Wenn auf Sylt die Mafia das Sagen hat, werden wir mehr erleben, als uns lieb ist. Wo ein Mafioso erschossen wird, gibt es Krieg!« Er zeigte auf das Foto, das wieder in Sörens Brusttasche steckte. »Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, sich um den Telebildabgleich zu kümmern.«
Sören nickte zufrieden. »Schauen wir mal, ob noch jemandem außer Ihrer Schwiegermutter diese Visage bekannt vorkommt.« Beschwingten Schrittes entfernte er sich.
Mamma Carlotta spürte, dass sie zitterte. Beruhigend drückte Dr. Hillmot ihren Arm, während er neben ihr auf die große Tür zuschnaufte, und öffnete sie dann so schwungvoll, als wartete dahinter ein Kurorchester und nicht ein nackter Mann mit einem Schildchen am großen Zeh.
Mamma Carlotta blieb vor der geöffneten Tür stehen. »In einer Stunde muss ich aber wieder zu Hause sein«, erklärte sie. »Dann kommen die Kinder von der Schule. Und solange ich auf Sylt bin, werden die beiden sich an einen gedeckten Tisch setzen und ein gesundes, nahrhaftes Essen bekommen!«
Dr. Hillmot nickte. »Es wird nicht lange dauern. Entweder Sie kennen ihn, oder Sie kennen ihn nicht.«
»Va bene!« Mamma Carlotta richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und betrat den Raum. Erst jetzt gestand sie sich ein, dass sie Angst hatte. Angst vor diesem Tod, der so ganz anders war als der Tod, den sie kannte. Leichen hatte sie in ihrem Leben schon oft gesehen, denn in ihrem Dorf wurde noch zu Hause gestorben. Aber ein Mordopfer? Das war Carlotta Capella noch nie unter die Augen gekommen. Würde der Tote entstellt aussehen? Misshandelt, verstümmelt, verunstaltet?
Aber Dr. Hillmot beruhigte sie: »Sein Gesicht ist unversehrt. Dass sein Hinterkopf zertrümmert wurde, werden Sie gar nicht bemerken.« Um Mamma Carlotta vollends zu besänftigen, führt er ein paar Details auf, die einen Gerichtsmediziner beruhigen mochten, nicht aber eine italienische Mamma, die damit rechnen musste, in das bleiche Antlitz eines ermordeten Verwandten zu blicken. »Die Verletzungen sind flächiger Natur, aber ich verspreche Ihnen, Sie werden nichts davon sehen. Aus Mund, Nase und Ohren ist natürlich viel Blut ausgetreten, das ist nun mal so bei schweren Schädel-Hirn-Verletzungen. Aber ich habe alle Öffnungen gründlich gereinigt.«
Dr. Hillmot schien der Ansicht zu sein, dass alles getan war, um Mamma Carlotta den Besuch in der Pathologie so leicht wie möglich zu machen. Und er fühlte sich bestätigt, als sie keinen Versuch unternahm, die Flucht zu ergreifen.
Sie flüsterte ein letztes Mal »Madonna!«, dann fühlte sie sich stark genug, um auf den Tisch zuzugehen, auf dem unter einer weißen Decke ein menschlicher Körper lag.
Am liebsten hätte sie nach Eriks Hand gegriffen, um sich seiner Nähe ganz sicher zu sein. Aber sie wusste ja, wie wenig er es schätzte, wenn in seiner Gegenwart Gefühle gezeigt wurden. Umso bemerkenswerter, geradezu überwältigend war es, als sie spürte, dass sich seine Hand unauffällig auf ihren Rücken legte. Für diese wunderbare Geste hätte sie sich bereit erklärt, zehn weitere Leichen in Augenschein zu nehmen.
So war sie ganz gefasst, als Dr. Hillmot das weiße Tuch vom Gesicht des Toten nahm. Schweigend betrachtete sie seine bleichen Lippen, die eingefallenen Wangen, die spitze Nase, die violetten Augenlider. Durch ihre Erinnerung lief ein vorlauter, aufsässiger kleiner Junge, dessen Augen flink umherhuschten und nirgendwo haften blieben, ein Junge, der seine Sehnsucht zeigte, aber niemandem sagte, wonach er sich sehnte. Dann der Jugendliche, der rebellierte, ohne zu wissen, wogegen, ein Kind, das niemand lieb haben konnte, ein Jugendlicher, den niemand mochte.
Erik ertrug das Warten nicht länger. »Ist er es?«, flüsterte er in Mamma Carlottas Rücken.
Sie betrachtete noch einmal das leblose Gesicht, dann drehte sie sich zu Erik herum. »Ich … ich weiß es nicht.«
Erik sah sie enttäuscht an. »Du weißt es nicht?«
»Nicht sicher. Ich habe ihn so lange nicht gesehen. Und ich kannte ihn nicht besonders gut.«
Erik gab Dr. Hillmot einen Wink, der das Tuch wieder über das Gesicht des Toten zog. »Aber du kannst nicht ausschließen, dass er es ist?«
Mamma Carlotta nickte. »Er könnte es sein. Nur … sicher bin ich nicht.«
Erik griff nach ihrem Arm und schob sie dem Ausgang entgegen. »Ich werde heute noch den Mafia-Spezialisten nach Francesco Corrado fragen.« Er blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wie heißt er noch gleich?«
»Adriano Girotti«, antwortete Mamma Carlotta, ohne zu zögern. »Ich kann ihn noch einmal anrufen, wenn du willst. Vielleicht weiß er schon etwas von Federica und kann mir Grüße von ihr ausrichten.«
Erik wandte sich an Dr. Hillmot. »Aber wir machen natürlich auch eine DNA-Probe.«
Der Gerichtsmediziner nickte, wenn er auch keinen besonderen Gefallen an dieser Aussicht fand. Bevor er sich über die Mehrarbeit beklagen konnte, schlug er sich vor den Kopf. »Fast hätte ich es vergessen: Ich habe noch was für Sie!«
Er ging zu einem Tisch, auf dem die Gegenstände lagen, die bei dem Toten gefunden worden waren. Ein paar Münzen, zwei Zehn- und drei Zwanzig-Euro-Scheine, ein Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug und der auffällige Ring mit den drei Doppelkreisen. Dr. Hillmot griff zu einem Schlüssel und hielt ihn Erik hin. »Den haben wir erst entdeckt, als wir ihn auszogen. Sieht aus wie ein Wohnungsschlüssel. Er steckte in seiner Gesäßtasche.«
Erik betrachtete den Schlüssel von allen Seiten. »Jetzt brauchen wir nur noch die passende Tür.« Er steckte den Schlüssel ein. »Was Auffälliges an seiner Kleidung?«
Dr. Hillmot schüttelte den Kopf. »Alles durchschnittliche italienische Konfektionsware. Mittlere Qualität.«
Keiner der beiden Männer bemerkte die Veränderung, die mit Mamma Carlotta vor sich ging. Auch dass sie wie magisch angezogen auf den Tisch zuging, fiel ihnen nicht auf. Erik wurde erst aufmerksam, als Carlotta plötzlich hervorstieß: »Dieser Ring! Den habe ich schon mal gesehen!« Sie richtete sich auf und machte einen so entschlossenen und überzeugten Eindruck, dass Erik schon jetzt sicher war, dass er ihr jedes Wort glauben würde. »An der Hand von Francescos Vater!«
»Ich denke, Francesco ist ohne Vater aufgewachsen?«
»Bevor Maria schwanger wurde, habe ich ihn ein paar Mal gesehen. Sie haben uns zusammen besucht, als Dino Geburtstag hatte, als mein Bruder heiratete, als die Zwillinge der Smariggis zur Erstkommunion gingen …«
»Und jedes Mal trug er diesen Ring?«
»Sì! Ich fand ihn sehr auffällig und irgendwie … protzig. Einmal habe ich ihn darauf angesprochen. Und er hat gesagt, der Ring hätte eine besondere Bedeutung für ihn. Vor allem aber gefiel er ihm, das hat er ausdrücklich betont.« Mamma Carlotta setzte die hochmütige Miene auf, die sie gern trug, wenn sich etwas herausstellte, was sie als Einzige vorhergesehen hatte. »Damit war er für mich erledigt. Ein Mann mit so einem schlechten Geschmack! Ich habe Maria gesagt, sie soll die Finger von ihm lassen. Aber sie …«
»… sie hat nicht auf dich gehört.« Erik legte Wert darauf, die Erzählung zu verkürzen. »Wie hieß der Mann?«
»Ja, wie hieß er nur?« Mamma Carlotta starrte den Ring noch eine Weile an, blickte dann in Dr. Hillmots erwartungsvolles Gesicht und schaute schließlich an Eriks rechtem Ohr vorbei, als stünde der Name von Francescos Vater an der gegenüberliegenden Wand. »Ich glaube, der Vorname fing mit A an.«
»Augusto, Andrea, Angelo?«, half Erik aus.
Auch Dr. Hillmot konnte mit Vorschlägen aufwarten: »Adamo, Alberto, Agostino?«
»No, no!« Mamma Carlotta versuchte es nun selber und lauschte dem Klang von Alessio nach, dann versuchte sie es mit Alessandro. Aber beide Namen lösten nichts in ihr aus.
»Vielleicht kannst du dich an den Nachnamen erinnern?«, fragte Erik hoffnungsvoll.
Diesmal brauchte sie nicht lange zu überlegen. »No! Ich weiß nicht einmal genau, ob ich den jemals gehört habe.« Nun fing sie an, sich hin und her zu bewegen, weil Fragen, die geschaukelt und geschüttelt wurden, eher zu Antworten führten. Jedenfalls war das bei Carlotta Capella so. Dass sie dabei in die unmittelbare Nähe des Toten geriet, fiel ihr nicht auf, derart konzentriert war sie.
In diesem Moment trat Sören ein und meldete, dass der Telebildabgleich in die Wege geleitet worden sei. Gleich erhielt er von seinem Chef einen neuen Auftrag: »Besorgen Sie sich von Vetterich die Fotos, die er von den Gegenständen gemacht hat, die bei dem Toten gefunden wurden. Und dann schicken Sie ein Fax nach Italien. Girotti soll sich das Foto ansehen, das Vetterich von dem Ring gemacht hat.«
Auf dem Weg zum Polizeirevier fuhr Erik Wolf langsam – wie immer, wenn er in Gedanken war – ohne sich von der Ungeduld anderer Verkehrsteilnehmer drängen zu lassen. Sören, der seinen Chef gut kannte, schwieg und versuchte nur, durch erhöhte Aufmerksamkeit Schlimmstes zu verhüten. Selbstverständlich ging er davon aus, dass Erik in Gedanken bei dem toten Mafioso war und sich überlegte, welche Schritte zu unternehmen seien, wenn dessen Identität einwandfrei feststünde. Hätte er gewusst, dass Erik über ein privates Problem nachdachte, hätte er seinen Chef sicherlich zur Eile angetrieben.
Carolin hatte ihrem Vater den Rücken zugedreht und nicht einmal einen knappen Gruß für ihn übrig gehabt! Eine bedrückende Erfahrung, die Erik zurzeit mehr belastete als seine Angst vor der Mafia. Als sie in den Süder Wung eingebogen waren, um Mamma Carlotta zu Hause abzusetzen, hatte er gesehen, dass Carolin ihr Fahrrad an den Gartenzaun lehnte. Ebenso der Junge, dieser … wie hieß er nun eigentlich? Florian? Michael? Besser, er sprach ihn nie wieder mit Namen an, wenn er die Vergebung seiner Tochter erlangen wollte.
Wie empfindlich sechzehnjährige Mädchen reagierten! Erik fand es maßlos übertrieben, dass Carolin sich abwandte, als sie seinen Wagen erkannte, und ihren Freund anstieß, damit er ihr hinters Haus folgte, wo sie beide vor Erik sicher waren. Und das alles nur, weil er den Vornamen verwechselt hatte! Er würde es nie begreifen.
»Was machen wir eigentlich, wenn sich der Verdacht Ihrer Schwiegermutter bestätigt?«, fragte Sören und riss damit Erik aus seinen Gedanken. »Wenn dieser tote Mafioso wirklich ihr angeheirateter Verwandter sein könnte?«
»Dann brauchen wir Gewissheit. Wir müssen einen Verwandten nach Sylt holen, der ihn eindeutig identifizieren kann. Seine Mutter oder seine Tante. Außerdem müssten wir einen DNA-Vergleich mit den italienischen Behörden machen.«
Sören nickte. »Bin gespannt, was es mit dem Ring auf sich hat.«
Erik bog auf den Hof des Polizeireviers ein. »Als Erstes müssen wir in Flensburg anrufen und die Dolmetscherin anfordern. Ich rechne noch heute mit Girottis Anruf.«
Sören grinste. »Notfalls haben wir ja noch Ihre Schwiegermutter. Die übernimmt die Aufgabe sicherlich gern. Schließlich will sie wissen, wie es ihrer Cousine geht.«
Erik verzichtete auf eine Antwort. Als er den Motor abgestellt hatte, blieb er im Wagen sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe.
»Ist noch was?«, fragte Sören besorgt.
Erik nickte. »Wir haben zwar im Moment viel zu tun«, begann er zögernd, »aber … wenn Sie mal Zeit haben, Sören, können Sie dann nach einer Familie Silbereisen auf Sylt fahnden?«
Sören starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
Erik zog den Schlüssel ab und stieg aus. »Okay, wir haben Besseres zu tun, Sie haben ja recht. Aber vielleicht später … wenn unser Fall gelöst ist.«
Er ging auf den Hintereingang des Gebäudes zu, ohne weiter auf Sören zu achten. Erst im Revierraum, wo Enno Mierendorf ein Telefongespräch führte und Rudi Engdahl eine Diebstahlanzeige aufnahm, drehte er sich zu Sören um. Unter dem erwartungsvollen Blick seines Assistenten suchte er in seinen Taschen herum, bis er fand, was er suchte. »Den hat Dr. Hillmot in der Gesäßtasche des Toten gefunden.« Er streckte Sören den Schlüssel hin. »Versuchen Sie mal, die passende Tür dazu zu finden. Dahinter wird der Mafioso gewohnt haben. Und wenn wir dort eine Hausdurchsuchung machen, werden wir hoffentlich auf interessante Dinge stoßen.«
Sören betrachtete mürrisch den Schlüssel. »Auf Sylt gibt es Tausende von Wohnungen, die mit einem solchen Schlüssel geöffnet werden«, maulte er, da er solche Aufgaben nicht liebte.
»Was ist mit Ihrer Tante?«, fragte Erik. »Die arbeitet doch in der Kurverwaltung. Vielleicht hat die eine Idee. Die Staatsanwältin will Ermittlungsergebnisse von uns!«
In diesem Moment legte Enno Mierendorf den Telefonhörer auf. »Die wartet übrigens auf Sie«, sagte er. »In Ihrem Zimmer. Schon seit einer halben Stunde.«
Sören änderte schlagartig seine Dienstauffassung und lief zur Tür. »Bin schon unterwegs!«, rief er über die Schulter zurück. »Vielleicht kann man mir beim Zimmernachweis helfen.«
»Nehmen Sie meinen Wagen!« Erik zog den Schlüssel aus der Hosentasche und hielt ihn Sören hin. »Dann geht’s schneller!«
Erik hatte es nicht eilig. Als Mierendorf ihm stolz mitteilte, dass er der Staatsanwältin bereits einen Kaffee serviert hatte, ließ er sich Zeit. Wenn er unvorbereitet auf Frau Dr. Speck traf, war er immer im Nachteil, das hatte sich schon oft bewiesen. Er brauchte Zeit, um sich auf ihre schnellen Fragen, ihre scharfen Augen, ihre Streitlust und ihre Eloquenz, die seiner eigenen weit überlegen war, einzustellen.
Er lehnte sich an die Theke, die die Arbeitsplätze der Polizeibeamten vom Eingangsbereich trennte, und wartete, bis Engdahl mit seiner Anzeige fertig war. »Sind Sie mit den Schuhgeschäften fertig?«, fragte er freundlich.
Engdahl nickte. »Aber ohne Ergebnis. Die meisten Läden haben eine kleine Auswahl an Modellen in Größe siebenundvierzig, aber ich habe nirgendwo einen Schuh gefunden, dessen Sohle mit unserem Abdruck übereinstimmt. Und niemand erinnert sich an einen Mann, der sich Schuhe in dieser Größe ausgesucht hat.«
Erik nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Einen Versuch war es wert.« Dann atmete er tief durch und ging auf seine Bürotür zu.
Frau Dr. Speck stand am Fenster und sah hinaus. Als Erik ins Zimmer trat, wandte sie sich um und lächelte leicht. »Moin, Wolf! Ich wollte mich mal persönlich überzeugen, wie weit Sie mit Ihren Ermittlungen sind.« Sie verhinderte eine Begrüßung per Handschlag, indem sie sich auf einen Stuhl setzte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich hoffe, Sie haben sich an meine Anweisungen gehalten. Die Angelegenheit wird weiterhin mit äußerster Diskretion behandelt. Nichts darf an die Öffentlichkeit dringen.«
»Natürlich.« Erik ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und achtete gewissenhaft darauf, keinen Blick auf die Beine der Staatsanwältin zu werfen, die einen knappen Kostümrock trug und die Beine in geradezu fahrlässiger Weise übereinandergeschlagen hatte. »Sollte die Presse von dem letzten Todesfall Wind bekommen, werden wir von Raubmord sprechen.«
»Schlimm genug.« Frau Dr. Speck stand wieder auf und ging erneut zum Fenster. Diesmal sah sie nicht hinaus, sondern lehnte sich an die Fensterbank und kreuzte die Beine. »Das wäre der dritte Raubmord innerhalb weniger Tage. Die Bevölkerung wird beunruhigt sein.«
»Besser, als wenn sie erfährt, dass die Mafia hinter den Morden steckt.«
»Stimmt.« Sie stieß sich von der Fensterbank ab und ging vor Erik hin und her. Ihr Selbstbewusstsein war ihm unangenehm. Es zeigte ihm, wie wenig sie ihm zutraute, wie wenig sie von ihm hielt. Vielleicht wollte sie ihm auch zeigen, wie unattraktiv er war in seiner breiten Behäbigkeit, der braunen Cordhose und dem grob gestrickten Pullunder über dem hellblauen Hemd. Sie selbst war eine Frau, die etwas auf sich hielt. Zwar neigte sie unverkennbar zur Korpulenz, aber in ihren dunklen Kostümen und Hosenanzügen würde niemand sie für eine pummelige Blondine halten. Sobald sie sich in ihr Schicksal fügen und auf Diät, streckende Hosenschnitte und hohe Absätze verzichten würde, wäre sie eine. Und das wusste sie nicht nur genau, das wollte sie auch auf jeden Fall vermeiden. »Haben Sie schon Vermutungen, was den letzten Mord angeht?« Man sah ihr an, dass sie nicht mit einer befriedigenden Antwort rechnete.
»Das nicht«, sagte Erik, »aber immerhin scheint die Identität des toten Mafioso geklärt zu sein.« Damit übertrieb er zwar ein wenig, aber die Überraschung der Staatsanwältin war es wert. Er lehnte sich zurück und schaffte es, Überlegenheit auszustrahlen. »Anscheinend handelt es sich um einen gewissen Francesco Corrado. Ich lasse das gerade von einem neapolitanischen Mafia-Spezialisten bestätigen. Corrado trug einen Ring, der seinem leiblichen Vater gehörte. Auch den lasse ich zurzeit überprüfen. Möglicherweise führt uns der Ring zu einer Mafia-Familie. Dann wissen wir, mit wem wir es zu tun haben.«
Die Staatsanwältin war tatsächlich beeindruckt. »Dann sind Sie ja ein gutes Stück vorangekommen!« Sie ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder und schlug erneut die Beine übereinander.
Erik konnte nicht verhehlen, dass ihm ihre Anerkennung guttat. Er hoffte nur, die Staatsanwältin möge nicht fragen, wie er zu diesen Ermittlungsergebnissen gekommen war. Er hätte ungern zugegeben, dass dieser Erfolg eigentlich seiner Schwiegermutter zu verdanken war. Damit hätte er einen Teil der Anerkennung gleich wieder verloren. Außerdem durfte er nicht zulassen, dass die Staatsanwältin nach einem Gespräch mit Mamma Carlotta verlangte, um mehr zu erfahren. Die Vorstellung, dass diese beiden Frauen aufeinandertrafen, verursachte ihm schlagartig Magenschmerzen.
Zum Glück fiel ihm etwas ein, womit er von den eigentlichen Ermittlungsergebnissen ablenken konnte. »Ich brauche die Dolmetscherin aus Flensburg. Girotti spricht nur Italienisch, kein Deutsch.«
»Auch kein Englisch?«
Erik schüttelte den Kopf und hoffte, dass er nicht rot wurde. Auf keinen Fall wollte er der Staatsanwältin gestehen, dass es um seine Englischkenntnisse derart schlecht bestellt war, dass er den italienischen Commissario gar nicht darum gebeten hatte, es mit dieser Sprache zu versuchen. Von Sören wusste er, wie ungern er sich auf Englisch unterhielt, Enno Mierendorf und Rudi Engdahl brauchte man gar nicht erst zu fragen. »Außerdem ist ja bekannt, wie die Italiener Englisch sprechen«, ergänzte er frech und schaffte es noch immer, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
»Sie müssen es wissen.« Nun lächelte Frau Dr. Speck sogar. »Sie waren ja mal mit einer Italienerin verheiratet.«
Erik hoffte, dass sie ihm die Erleichterung genauso wenig ansah wie kurz zuvor sein Schuldbewusstsein. »Sprachliche Barrieren können wir nicht gebrauchen. Was Girotti uns zu sagen hat, ist wichtig. Es darf keine Missverständnisse geben.«
Die Staatsanwältin pflichtete ihm bei. »Haben Sie schon eine Idee, was hinter diesem Mord steckt?« Sie sah nun so aus, als sei sie tatsächlich an Eriks Meinung interessiert.
»Wir müssen unbedingt die Geldeintreiber finden«, sagte Erik. »Ich gehe davon aus, dass diese beiden Henner Jesse und Utta Ingwersen auf dem Gewissen haben. Womöglich sind sie auch für den Tod des Mafioso verantwortlich. Allerdings liegt das Motiv noch im Dunkeln.«
»Vielleicht ein Erpressungsopfer, das sich gerächt hat?«
Aber Erik wies ihre Vermutung mit so großer Sicherheit zurück, dass sie sie nicht wiederholte. »Würde der Mafioso sich nachts mit einem seiner Opfer am Strand treffen? Noch dazu ohne Begleitung? Und umgekehrt – würde eines der Opfer sich mit dem Mafioso nachts an der Buhne 16 verabreden?«
»Vielleicht hat es keine Verabredung gegeben«, überlegte die Staatsanwältin, »sondern jemand hat den Mafioso zufällig beobachtet und ist ihm heimlich gefolgt. Und dann hat er seine Chance genutzt.«
»Jemandem heimlich durch die Dünen zu folgen, ist schwer. Und was ist mit der Tatwaffe? Wer hat schon zufällig etwas bei sich, mit dem man einen Menschen erschlagen kann?«
Die Staatsanwältin nickte. »Sie haben recht. Die These können wir vergessen.«
»Außerdem fehlt sein Handy. Ich gehe fest davon aus, dass er eins bei sich trug. Also wird der Mörder es ihm abgenommen haben. Das spricht dafür, dass es vorher eine telefonische Verabredung geben hat.«
»Und der Name des Mörders befand sich in der Anrufliste«, ergänzte Frau Dr. Speck.
»Ich glaube eher an ein Motiv innerhalb der Mafia«, fuhr Erik fort. »Vielleicht ist jemand geschickt worden, der Francesco Corrado umlegen sollte. Es gibt Spuren, die wir weder neben Henner Jesse noch neben Utta Ingwersen gefunden haben. Abdrücke sehr großer Schuhe. Größe siebenundvierzig!«
»Warum sollte der Mafioso umgelegt werden?«
»Vielleicht, weil er seine Kompetenzen überschritten hat? Die Mafiabosse sind nicht zimperlich.«
»Dann dürften die Geldeintreiber mittlerweile verschwunden sein«, sagte die Staatsanwältin nachdenklich. »Und der Mann mit den großen Füßen natürlich auch.«
»Das ist anzunehmen. Wenn wir die Wohnung des Mafioso gefunden haben, sehen wir vielleicht klarer. Dann werden wir hoffentlich wissen, wie seine Verbindungen zur Mafia aussehen, welche Pläne er hat, in welchem Auftrag er agiert. Und vorher das Gespräch mit Neapel! Das wird uns sicherlich auch weiterbringen.«
»Und wie lange wollen Sie auf den Anruf warten?«
Erik sah sie irritiert an. »Die Fotos sind erst vor ein paar Stunden rausgegangen. Und außerdem brauche ich die Dolmetscherin.«
Die Staatsanwältin erhob sich entschlossen. »Ich habe nach dem Abi ein Jahr als Au-pair-Mädchen in Rom gearbeitet, Sie kommen also ohne die Dolmetscherin aus. Jedenfalls, solange ich hier bin. Und dieser Girotti hat Zeit genug gehabt, um herauszufinden, was es mit diesem Francesco Dingsbums auf sich hat. Ich werde jetzt dort anrufen.« Sie streckte ihre Hand über Eriks Schreibtisch. »Geben Sie mir die Nummer!«
Erik blieb nichts anderes übrig, als ihr Girottis Nummer auszuhändigen. Gern tat er es nicht. Es war ihm, als legte er mit der Nummer den ganzen Fall in die Hände der Staatsanwältin.
In diesem Moment klingelte Eriks Telefon. Die Staatsanwältin ging mit dem Zettel in der Hand zur Tür. »Gehen Sie nur ran. Ich führe das Gespräch nebenan.«
Erik sah ihr seufzend nach, dann hob er den Hörer ab und meldete sich. Einen Augenblick später sah sein Gesicht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Zwei Augenblicke später öffnete sich sein Mund ganz langsam, weil er nicht mehr Herr über seine Kaumuskeln war. »Was sagst du da?«
Mamma Carlotta zögerte, als Käptens Kajüte in Sicht kam, dann trat sie entschlossen in die Pedalen und fuhr daran vorbei. Es waren zu viele Fragen in ihr, zu viel Erleichterung und gleichzeitig zu viel Bedrückung, um sich jetzt einfach auf einen Barhocker zu setzen, einen Cappuccino zu trinken und so zu tun, als wäre das Leben leicht oder als wäre es schwer. Beides beschrieb den derzeitigen Zustand des Lebens nicht richtig. Die Frage war, was überwog, Erleichterung oder Bedrückung. Tatsächlich war das Leben leichter geworden in der letzten Stunde, wenn da nicht der Zweifel wäre, dieser innere Widerstreit, der das leichte Glück zu Boden drückte.
Um den Zweifel von der Erleichterung zu trennen, brauchte sie das Meer. In Umbrien stieg sie in die Weinberge, wenn Sorgen sie drückten, auf Sylt ging sie an den Strand. Der Blick brauchte die Weite, um sich von den rumorenden Fragen zu lösen und dann mit einer Antwort zurückzukehren. So funktionierte es – hier wie dort.
Adriano Girotti war so sicher gewesen! Aber was, wenn er sich irrte? Erik schien diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen. Er hatte jedes Wort des Gesprächs, das sie telefonisch an ihn weitergegeben hatte, für bare Münze genommen, und sie hatte sich wirklich darum bemüht, nichts hinzuzufügen, nichts zu beschönigen oder zu dramatisieren. Natürlich hätte auch Mamma Carlotta gern auf Girottis Aussagen vertraut, aber ihr war die Sorge um Sylt durch das Gespräch mit ihm leider nicht genommen worden. Da war es ihr viel leichter gefallen, daran zu glauben, dass Federica von der einfachen Küchenhilfe zur Beiköchin aufgestiegen war und ihr Mann neuerdings nicht mehr täglich, sondern nur an den Wochenenden betrunken war, wenn die Bar gut besucht wurde und das Geld in der Kasse klingelte. Aber alles andere …?
Ihr Gesicht war sorgenvoll, als sie am Ende der Seestraße vom Fahrrad stieg, aber es glättete sich, nachdem sie die ersten Stufen der Holztreppe hinabgestiegen war. Das Donnern der Brandung übertönte den Zweifel, die Sonne, die gerade durch eine Wolkenlücke brach, wärmte sie, und eine frische Bö pustete den Zwiespalt aus ihren Gedanken. Ja, ein paar Minuten am Strand wirkten Wunder. Das Meer gab jedem das, was er brauchte.
Fietje kontrollierte gerade mit wichtiger Miene die Kurkarten einiger Jugendlicher, die über den Strand tobten. Sie winkte ihm zu, dann ging sie bis zur Wasserkante, um den Strand hinter sich zu lassen. Die Brandung war stolz, kräftig und laut. Mamma Carlotta blieb stehen und beschloss, nicht zurückzuweichen. In einem geheimen Pakt mit dem Meer machte sie ab, dass sie Girotti glauben wollte, sobald eine Welle über ihre Füße geschwappt war. Fünf Minuten wollte sie warten, dann musste die Entscheidung gefallen sein. Erleichtert atmete sie auf. Es tat gut, die Last der Entscheidung abzuwälzen.
Mit Carolin würde das nicht so einfach sein. Die Verachtung, mit der sie ihren Vater wegen eines kleinen Fehlers strafte, tat Mamma Carlotta genauso weh wie Erik selbst. Der Arme hatte doch genug am Hals mit diesen Mordfällen! Hatte er es nicht verdient, respekt- und liebevoll empfangen zu werden, wenn er von seinem schweren Dienst heimkehrte? Dabei ahnte er vermutlich nicht einmal, dass Carolins Ablehnung nicht die einzige Sorge war, die er sich machen sollte. Wie gern hätte Mamma Carlotta mit Erik die Gefahren erörtert, die einem jungen Mädchen drohten, das zum ersten Mal verliebt war. Vor allem, wenn der Freund ein eigenes Zimmer hatte, in das niemals ein Elternteil eindrang, um für Ordnung zu sorgen. Mamma Carlotta wusste seit dem Gespräch, das sie mit dem jungen Mann während des Mittagessens geführt hatte, dass Vera Ingwersen ihm über dem Restaurant ein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, wo er während seines Praktikums wohnte. Wenn er dort den Schlüssel umdrehte, würde niemand an der Tür pochen und sich erkundigen, was dort vor sich ging.
Doch bei all den Problemen, die Erik zurzeit hatte, durfte ihm kein weiteres aufgeschultert werden, das sich ohne seine Hilfe lösen ließ. Und zum Glück hatte die Stille in Carolins Zimmer nie länger angehalten, als zum Wenden eines Notenblattes nötig war. Mamma Carlotta hatte sich in der Küche nicht einmal leise verhalten müssen, um sicher sein zu können, dass dort oben nichts geschah, was einer Großmutter den Schweiß auf die Stirn trieb. Was sich zwischen Carolin und ihrem Freund abspielte, war gottlob nicht zu überhören gewesen. Die Erwägung, ob einer von ihnen ein Vöglein sei und auch zwei Flügel hätt’, hatte durchs ganze Haus getönt. Felix war schon entnervt in die Küche gekommen, noch ehe das Duo sich damit abfand, dass es allhier zu bleiben hatte.
»Ich kann’s nicht mehr hören!«, hatte er geflucht. »Was findet sie nur an diesem Volkslieder-Fuzzi? An diesem … Florian!«
Verdutzt hatte Mamma Carlotta die Tür angestarrt, die donnernd ins Schloss gefallen war. »Ich dachte, sein Name ist Michael! Madonna, wie heißt er denn nun eigentlich?« Sie musste aufpassen, dass Carolin sie demnächst nicht genauso schlecht behandelte wie ihren Vater, nur weil sie ihren Freund beim falschen Vornamen nannte.
In diesem Moment schwappte eine Welle über ihre Füße. Erschrocken wich sie zurück, dann fiel ihr ein, dass sie einen Wink des Meeres erhalten hatte. Adriano Girotti hatte also recht! Lächelnd schüttelte sie erst den linken, dann den rechten Fuß und überlegte, ob sie mit nassen Füßen in Käptens Kajüte einkehren durfte. Aber da Tove nicht kleinlich war, wenn es um die Reinlichkeit in seiner Imbiss-Stube ging, würde er die feuchte Spur, die sie auf dem Weg zur Theke hinterließ, vermutlich nicht mal bemerken.
Sie winkte Fietje noch einmal zu, dann stapfte sie durch den Sand zur Holztreppe zurück. Zehn Minuten später klebte der feuchte Sand, der von ihren Schuhen gefallen war, vor der Theke in Käptens Kajüte, aber Tove achtete nicht weiter darauf. Allerdings ignorierte er auch seinen Lieblingsgast weitgehend. Mamma Carlotta war gekränkt, weil ihr der Cappuccino hingeknallt wurde, als sei sie ein gewöhnlicher Strandbesucher. Tove war verändert. Immer wieder blickte er nervös zur Tür und kontrollierte den Inhalt seiner Geldtasche, die neben dem Zapfhahn lag.
Als sich ein Kunde mit einem Schietwettertee ans andere Ende der Theke verzog und ein anderer mit einem Hotdog die Imbiss-Stube verlassen hatte, fragte Mamma Carlotta leise: »Ist was, Tove? Sie wirken … molto nervoso.«
Doch er brummte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf. Dabei sah er genauso aus wie in den seltenen Augenblicken, in denen er vom Untergang seines Schiffes vor Gibraltar erzählte und wie er sich als Einziger schwimmend an Land gerettet habe. Er log also. Warum? Er wusste doch, dass er ihr vertrauen konnte.
»Sagen Sie schon, was ist los! Immer noch Angst vor der Mafia?«
Tove warf einen erschrockenen Blick zu dem einsamen Gast, der schwermütig in seinen Schietwettertee starrte. Dann beugte er sich über die Theke und flüsterte: »Das Schutzgeld war heute Mittag fällig. Sie kommen immer um eins, wenn das Mittagsgeschäft im Gange ist. Die beiden essen dann eine Bratwurst, und mit dem Wechselgeld muss ich ihnen das Schutzgeld unterschieben.«
»Und heute sind sie nicht gekommen?«
Tove schüttelte den Kopf.
»Warum freuen Sie sich nicht darüber?«
»Freuen?« Er sah Mamma Carlotta entrüstet an. »Die Mafia ist nicht gnädig, und sie vergisst auch keinen ihrer Kunden. Wenn heute was anders läuft als in den vergangenen Wochen, dann muss man sich Sorgen machen.«
»Was befürchten Sie?«
Tove sah Mamma Carlotta scharf an. »Sie haben doch Ihrem Schwiegersohn nicht etwa verraten, dass ich an die Mafia zahle? Wenn die wüssten, dass ich der Schwiegermutter des Hauptkommissars von den Schutzgelderpressungen erzählt habe …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern führte seine Handkante mit einer scharfen Bewegung an den Kehlkopf.
Mamma Carlotta versicherte mit sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden deutschen Vokabeln, dass ein guter Freund sich immer und überall auf sie verlassen könne. Aber Toves Angst war anscheinend größer als sein Vertrauen. Er sah sie so lange zweifelnd an, bis Mamma Carlotta sich genötigt sah, ihm zuliebe den Begriff von der absoluten Verschwiegenheit ein wenig großzügiger auszulegen. Natürlich nur so weit, dass sie später immer noch ruhigen Gewissens behaupten konnte, kein Dienstgeheimnis ausgeplaudert zu haben. Klitzekleine Andeutungen, wenn sie dazu angetan waren, einem armen Menschen seine Sorgen zu nehmen, konnten nicht falsch sein.
»Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr mit den Geldeintreibern zu rechnen«, sagte sie so leise, dass Tove annahm, sich verhört zu haben. Als er sie weiterhin ungläubig anstarrte, ergänzte sie noch leiser: »Der Spuk ist vorbei! Finito!«
Tove zuckte zusammen, als die Tür sich öffnete, atmete aber erleichtert aus, als er Fietje erkannte. »Kein Wort mehr von der Mafia«, raunte er Mamma Carlotta zu. »Fietje hat zu oft mit der Polizei zu tun. Wenn der sich verplappert, werden die mich in meinem eigenen Fett frittieren.«
»Haben Sie nicht verstanden?« Mamma Carlotta beugte sich eindringlich vor. »Non capisce?«
Aber Tove antwortete nicht. Er stellte sich schweigend an den Zapfhahn und kümmerte sich um Fietjes Jever, ohne Mamma Carlotta noch einmal anzusehen.
Sie riss die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, ließ beides ausdrucksvoll wieder fallen und machte sich daran, ihr Kleingeld aus der Jackentasche zu suchen. Wenn Tove nicht wollte, dann eben nicht! Wenn er ihr nicht glaubte, dann sollte er nur weiter in seiner Angst vor der Mafia vergehen! Und wenn er kein Zutrauen in ihre intellektuellen Fähigkeiten hatte …
Weiter kam sie nicht. Denn Tove zischte ihr plötzlich zu: »Schnell! In meine Küche! Und passen Sie auf, dass man Sie dort nicht sieht und nicht hört!« Schon stand er in der Küchentür und winkte sie aufgeregt heran. »Falls Sie aus dem Fenster klettern wollen – einfach aufschieben und hinterher wieder zudrücken. Es lässt sich nicht mehr richtig schließen.«
Erik brauchte dringend Wind und klare Luft, ja, sogar den leichten Regen, der gerade einsetzte. Aber einfach spazieren gehen? Während ein komplizierter Mordfall auf dem Schreibtisch lag? Völlig unmöglich! Andererseits … Sören hatte das Auto, und ihm fiel ein, dass es ein Ziel gab, das er ansteuern konnte. Frische Luft, kombiniert mit einer wichtigen Vernehmung. Dagegen war nichts zu sagen.
Er ging ins Revierzimmer, wo Enno Mierendorf mit zwei Fingern ein Protokoll in den Computer hackte. »Was hat eigentlich die Befragung von Fietje Tiensch ergeben?«
Mierendorf antwortete, ohne den Blick von der Tastatur zu nehmen: »Wie zu erwarten war: nichts! Er hat den Toten von oben gesehen, sagt er.«
»Wieso von oben?«
»Vom Holzsteg oberhalb des Dünenwalls. Da will er gestanden haben. Angeblich hat er von dort klar erkannt, dass dem Mann nicht mehr zu helfen war.«
»Und er hat niemanden gesehen?«
»Er sagt, nein.«
Diese Information reichte Erik. »Am besten, ich nehme ihn mir noch mal vor«, sagte er und holte seine Jacke. »Sören soll mich auf dem Handy anrufen, wenn er zurückkommt.«
Er ging ein paar Schritte den Kirchenweg entlang, überquerte dann die Trift und ging geradeaus, in die Friedrichstraße hinein in Richtung Strand. Wenn er erst die Schaufester und die gelangweilten Touristen hinter sich hatte, würde er mit seiner Insel allein sein. Auch dann, wenn er nicht der Einzige war, der am Strand entlanglief. Das Große, Einzigartige der Sylter Strände reichte für alle aus, die sich auch bei Sturm und Regen dort wohlfühlten. Als er die gepflasterte Kurpromenade hinter sich hatte, atmete er auf. Alles konnte er nun abschütteln, was Sylt gefährlich werden konnte. Alles! Er konnte froh sein, und eigentlich … eigentlich war er es auch.
Das Gespräch der Staatsanwältin mit Adriano Girotti hatte lange gedauert. Länger als sein eigenes Telefonat mit Mamma Carlotta. Sie war sehr aufgeregt gewesen, kein Wunder. Adriano Girotti hatte bei ihr angerufen und sie, die er für die Dolmetscherin der Sylter Kriminalpolizei hielt, über das Ergebnis seiner Untersuchungen unterrichtet. Ganz still hatte Erik dagesessen, als er das Ergebnis von Girottis Untersuchungen kannte. Mamma Carlotta hatte ausdrücklich versichert, ihm das Gespräch Wort für Wort ins Deutsche übersetzt zu haben. Wirklich Wort für Wort? Aber es war auch nicht wichtig, ob sie übertrieben oder sich wirklich bemüht hatte, alle Einzelheiten so genau wie möglich wiederzugeben. Er würde ja alles noch einmal von der Staatsanwältin erzählt bekommen. Von nebenan konnte er ihre Stimme hören, ohne zu verstehen, was sie sagte.
Als die Staatsanwältin in sein Zimmer zurückkehrte, hatte sie ausgesehen, als hätte sie einen persönlichen Sieg errungen. »Habe ich’s nicht von Anfang an gesagt?«
Adriano Girotti hatte schnell herausgefunden, dass der auffällige Ring einem Mafia-Boss gehört hatte: Antonio Capra! Mamma Carlotta hatte diesen Namen ins Telefon gejubelt. »Nun weiß ich es wieder! So hieß der Kerl, der Maria ein Kind gemacht und sie dann sitzen gelassen hat!«Dass Antonio Capra ein Mitglied der Mafia gewesen war, hatte in Mamma Carlottas Familie niemand gewusst. Genauso wenig, auf welche Weise es Francesco geglückt war, seinen Vater zu finden. Anscheinend aber war es ihm gelungen. Nachdem er mit dem Ersparten seiner Großeltern durchgebrannt war, hatte er sich eine Weile herumgetrieben und sich mit Diebstählen über Wasser gehalten, dann hatte er sich irgendwann erwischen lassen und war im Gefängnis gelandet. Nach seiner Entlassung hatte er sich zu seinem Vater durchgeschlagen, war von ihm aufgenommen und in die Mafia-Familie Capra eingeführt worden.
»Capra wollte seinen einzigen Sohn zu seinem Nachfolger machen«, hatte die Staatsanwältin erzählt, »denn er war schwer krank und wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.«
Aber Francesco erfüllte seine Erwartungen nicht. Er erwies sich als feige, hinterhältig, hatte keine Führungsqualitäten, wurde von den anderen Mitgliedern der Capra-Familie abgelehnt. Antonio musste bald klar geworden sein, dass von seinem Sohn nichts zu erwarten war, trotzdem hatte er den Plan, mit Francesco zusammen die deutschen Touristikzentren zu erobern.
Doch bevor es so weit war, wurde die komplette Capra-Familie zerschlagen, sämtliche Mitglieder festgenommen, sie alle wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt und saßen nun allesamt in kalabrischen Gefängnissen. Nur Antonio Capra und sein Sohn waren davongekommen. Der Alte, weil er, als seine Familie verhaftet wurde, im Krankenhaus lag, der Junior, weil ihm nichts vorzuwerfen und schon gar nichts nachzuweisen war. Natürlich war er von seinem Vater in sämtliche Machenschaften eingewiesen worden, wusste von den Schutzgelderpressungen, von Korruption, Geldwäsche und den Morden, die begangen worden waren, um den rabiaten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Aber Francesco war selbst nicht daran beteiligt gewesen. Also durfte er unbehelligt am Bett seines Vaters sitzen bleiben, der am Tag nach der großen Verhaftungswelle starb und sich damit einem langen Gefängnisaufenthalt entzog.
Da sein Vater ihm den Ring mit den drei Doppelkrei-sen auf dem Sterbebett geschenkt hatte, fühlte Francesco sich wie sein Nachfolger, obwohl das Lebenswerk seines Vaters nicht mehr existierte. Anscheinend hatte er die Idee, nun ganz allein in die Tat umzusetzen, was seinem Vater nicht mehr gelungen war: deutsche Touristikzentren zu vereinnahmen. Er nahm den Kontakt zu zwei Mithäftlingen auf, die er im Gefängnis kennengelernt hatte, und bildete sich ein, mit ihnen zusammen eine Mafia-Familie gegründet zu haben. Tatsächlich schien er sogar Erfolg damit zu haben. Eine Reihe von Sylter Gastwirten hatten beim Wort Mafia anscheinend Angst bekommen und Schutzgeld gezahlt.
Offenbar war Henner Jesse der Erste gewesen, der sich gewehrt hatte, und war deshalb mundtot gemacht worden. Girotti ging davon aus, dass sein Tod nicht geplant, aber durchaus billigend in Kauf genommen worden war. Harm Ingwersen jedoch war ein anderes Kaliber, das hatte Francesco schon bald gemerkt. Ihm musste nachdrücklicher gezeigt werden, was passierte, wenn man sich der Mafia in den Weg stellte.
»Girotti sagt, dass die Doppelkreise neben Utta Ingwersens Leiche ein Beweis dafür sind, wie dumm dieser Francesco war. Größenwahnsinnig und eitel! Sein Vater hätte so etwas nie getan.« Die Staatsanwältin hatte einen Notizzettel auf Eriks Schreibtisch gelegt. »Das sind die Namen der beiden Kerle, die Francesco Corrado als Geldeintreiber angeheuert hat. Girotti ist sicher, dass er mit denen nach Sylt gezogen ist, um hier so was wie eine Mafia aufzuziehen.« Frau Dr. Speck lachte spöttisch. »Eine Mafia für Arme!«
Erik hatte nach dem Zettel gegriffen, aber Mühe gehabt, die Handschrift der Staatsanwältin zu entziffern. »Giulio Alviso und Lorenzo Follini«, hatte sie ihm ungeduldig vorgelesen. »Wir müssen sie zur Fahndung ausschreiben, vorsichtshalber. Obwohl ich nicht glaube, dass sie sich noch auf der Insel aufhalten. Nach Francescos Tod haben sie sich bestimmt schleunigst verdrückt. Gleichgültig, ob sie etwas mit dem Mord zu tun haben oder nicht.«
»Hält Girotti es für möglich, dass die beiden auch Francesco umgebracht haben?«, hatte Erik gefragt. »Oder einer von ihnen?«
»Wir haben darüber gesprochen«, hatte die Staatsanwältin nachdenklich erwidert. »Klar, möglich ist es. Vielleicht hat Francesco versucht, die beiden zu übervorteilen, hat ihnen ihre Anteile an den Erpressungen vorenthalten oder sie anderweitig betrogen. Aber dafür gibt es weder Indizien noch Beweise. Wir können davon ausgehen, dass Alviso und Follini für den Tod von Jesse und Frau Ingwersen verantwortlich sind. Girotti wird die beiden daher auch in Italien zur Fahndung ausschreiben. Wegen Mordverdacht. Kümmern Sie sich also vorrangig um den Mordfall Francesco Corrado!«
Während Erik wortlos dagesessen und seine liebe Mühe gehabt hatte, der neuen Entwicklung zu folgen, hatte Frau Dr. Speck zu ihrer Kostümjacke und ihrer Handtasche gegriffen. »Das Thema Mafia ist durch«, hatte sie abschließend gesagt. »Das können Sie vergessen, Wolf. Da hat sich ein kleiner Ganove einen Schuh angezogen, der zu groß für ihn war. Der wollte sich Mafia-Boss nennen, hatte aber mit der Mafia nichts zu tun. Habe ich ja gleich gesagt! Was er getan hat, ist zwar genauso schlimm, als wäre die Mafia dafür verantwortlich, aber die langfristigen Folgen sind anders.«
Erik hatte genickt. »Wenn wir den Fall aufgeklärt haben, können wir das Thema Schutzgelderpressung zu den Akten legen.«
»Genau! Ab jetzt geht es nur noch um gewöhnliche Erpressung, um Raub und Betrug. Und natürlich um Mord! Sorgen Sie dafür, dass der Tote noch von einem nahen Angehörigen identifiziert wird. Wir müssen ganz sicher sein. Und noch was, Wolf … Wieso hat Girotti behauptet, dass er das alles schon einer Dolmetscherin erzählt habe?«
Erik hatte sich geräuspert, um Zeit zu gewinnen. »Wissen Sie, ich kenne jemanden hier auf Sylt, der Italienisch spricht …«
Die Staatsanwältin hatte ihn mit einer schnellen Geste unterbrochen. »Sie haben recht, manchmal muss man unkonventionelle Wege gehen. Ab jetzt also: ganz normale Polizeiarbeit in drei Mordfällen! Aber konzentrieren Sie sich vor allem auf den dritten. Die anderen beiden dürften sich beweisen lassen, wenn wir die Ganoven gefunden haben, mit denen Corrado gemeinsame Sache gemacht hat. Und wenn Sie es für sinnvoll halten, die Öffentlichkeit einzuschalten – nur zu! Wäre ja ganz interessant zu erfahren, wie viele Sylter Geschäftsleute auf den angeblichen Mafioso reingefallen sind! Vielleicht finden Sie unter denen sogar den Mörder!«
Erik blieb stehen und sah aufs Meer hinaus. Manchmal war das Glück ein flügellahmer Vogel, der aufgeregt herumflatterte und verzweifelt versuchte, sich in die Lüfte zu schwingen. Es war also wirklich vorbei? Keine Angst mehr vor der großen Gefahr? Keine Sorge mehr, dass die Mafia die Insel einnehmen würde? Girotti war Mafia-Spezialist, er musste es wissen.
Während er weiterging, dachte er darüber nach, was es für Harm Ingwersen bedeuten mochte, dass der Mafioso, gegen den er sich so mutig gestellt hatte, gar kein Mafioso gewesen war, sondern nur ein größenwahnsinniger kleiner Ganove. Würde das den Tod seiner Frau noch sinnloser machen? Und Frau Jesse! Würde sie daran verzweifeln, dass ihr Mann es nicht gewagt hatte, zur Polizei zu gehen?
Erik ging mit gesenktem Kopf an der Wasserkante weiter, den Blick auf seine Füße gerichtet. Dabei schritt er so zügig aus, wie es im weichen Sand möglich war, und kam nach einer guten halben Stunde am Strandaufgang Seestraße an. Das Strandwärterhäuschen war leer, Fietje Tiensch sah entweder am Strand nach dem Rechten, oder er saß, was wesentlich wahrscheinlicher war, in Käptens Kajüte und ließ es sich gutgehen.
Erik bog in die Seedüne ein und von dort in den Hochkamp. Während er auf die Imbiss-Stube zuging, sah er durchs Fenster, dass Fietje an der Theke saß und gerade sein Bierglas hob.
Mamma Carlotta hatte sich hinter den kleinen weißen Holztisch geschoben und dort auf einem Ölkanister niedergelassen, sodass ihr die Tischkante bis zur Kehle ging. Sollte jemand die Küche betreten, würde sie den Kopf einziehen und verschwunden sein. So hoffte sie jedenfalls. Aber warum sollte sie hier aufgespürt werden? Niemand betrat je Toves Küche, außer ihm selbst. Sie war also sicher hier. Fietje war der Einzige, der gesehen hatte, wie sie hier verschwand, aber der … Mamma Carlotta griff sich an die Brust und atmete tief ein. Fietje würde sie doch nicht verraten?
In diesem Moment hörte sie draußen eine wohlbekannte Stimme sagen: »Einen Kaffee, bitte.«
Was tat Erik hier? Mehr als einmal hatte er Käptens Kajüte eine Spelunke genannt und den Wirt einen Halsabschneider. Warum also trank er hier seinen Kaffee und nicht zu Hause am Süder Wung? Suchte er sie etwa? Hatte er herausgefunden, dass sie trotz seiner Warnungen Stammgast in Toves Imbiss geworden war? Wollte er sie aus dessen schlechter Gesellschaft befreien?
»Tja, Herr Tiensch«, sagte Eriks Stimme nun, »dann lassen Sie uns mal ein bisschen schnacken.«
Fietje brummte etwas Unverständliches, zustimmend hörte es sich nicht an.
Mamma Carlotta rutschte auf dem Ölkanister hin und her. Warum war Erik gekommen? Um mit Fietje zu reden? Warum? Wurde das gar ein Verhör? Wenn nur Fietje sich nichts anmerken ließ!
»Nun mal ganz ehrlich, Herr Tiensch! Wie war das denn so, als Sie heute Nacht den Toten im Dünengras entdeckt haben?«
»Hab ich doch Ihrem Kollegen schon erzählt.«
»Stimmt. Nur … ich glaube Ihnen nicht so ganz, was Sie ausgesagt haben.«
Auf den Schreck brauchte Fietje erst mal einen guten Schluck Jever. Dann schien er sich darauf zu besinnen, dass es besser war, es sich nicht ganz mit der Polizei zu verscherzen. »Wieso nicht?«, fragte er vorsichtig.
»Weil ich nicht glauben kann, dass Sie von oben den Toten gesehen und erkannt haben, dass er nicht mehr lebt. Es war ja noch dunkel.«
Fietje sah ein, dass Leugnen zwecklos war. »Als Ihr Kollege mich fragte, da stand ich wohl noch unter Schock.«
»Ist doch verständlich«, gab Erik zurück. »Man findet nicht alle Tage einen Toten am Strand. So was nimmt einen mit.«
»Jawoll!«, sagte Fietje und fühlte sich verstanden.
»Sie sind also doch ein bisschen näher rangegangen?«
»Nur so weit, wie es nötig war.«
»Und dann? Haben Sie was beobachtet, was uns helfen kann?«
Mamma Carlotta wurde nervös. Wie lange mochte das noch dauern? Es hielt sie nicht mehr auf ihrem Ölkanister. Sie erhob sich geräuschlos, tastete über ihre Kehrseite, spürte das klebrige Fett an ihren Händen und hielt nach etwas Ausschau, mit dem sie es abwischen konnte. Schließlich entdeckte sie eine Küchenrolle, riss zwei Blätter ab und rieb ihre Hände sauber, während Fietje draußen versicherte, dass er nichts gesehen habe, nur den Toten im Dünengras. Keinen Menschen, keinen, der flüchtete, keinen, der sich verdächtig verhielt, keinen, der Spuren beseitigte – niemanden. Er war auf den Toten gestoßen, hatte sein Handy gezückt und die Polizei angerufen, das war’s! »Jawoll!«
Mamma Carlotta wollte die Küchenrolle zurücklegen, da fiel ihr Blick auf einen Karton mit Dosensuppen, aus dem ein Paar Schuhe herausragte. Turnschuhe, die sauber und neu aussahen. Ungetragen waren sie jedoch nicht, denn die Sohle war voller Sand.
Während Fietje beteuerte, wie gut ein nächtlicher Strandspaziergang für seine Gesundheit sei, holte Mamma Carlotta die Schuhe aus dem Karton und betrachtete sie genauer. Groß waren sie, sehr groß. Sie sah unter die Sohle: Größe siebenundvierzig! Draußen redete Fietje von seinen Schlafstörungen, die er bekämpfte, indem er sich an die frische Luft begab. Dass er dabei gelegentlich auf heimliche Liebespaare oder sogar auf Mordopfer stieß, war natürlich reiner Zufall. Was konnte er dafür?
Erik schien einzusehen, dass aus Fietje nichts herauszuholen war. Mamma Carlotta hörte das Klappern von Geldmünzen und Eriks Worte: »Stimmt so!«, dann seine schleppenden Schritte, die sie so gut kannte. »Sollte sich rausstellen, Herr Tiensch, dass Sie nicht die Wahrheit gesagt haben, kriegen Sie richtig Ärger, kapiert?«
Fietje antwortete nicht, aber Mamma Carlotta war sicher, dass er nickte.
»Wenn Sie sich Ihre Aussage noch mal überlegen wollen – Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«
Kurz darauf fiel die Tür von Käptens Kajüte ins Schloss, Mamma Carlotta konnte sich vorstellen, dass vor und hinter der Theke befreit aufgeatmet wurde.
Tove erschien in der Küche. »Sie sind noch da?«
»Aus dem Fenster steigen, das ist nichts für mein Alter.«
»Die Luft ist rein.« Plötzlich verdüsterte sich Toves Gesicht. »Was haben Sie da?«
Mamma Carlotta hielt ihm die Turnschuhe entgegen. »Die lagen in dem Karton mit den Dosensuppen.«
Tove riss sie ihr aus der Hand und warf sie ärgerlich in eine Zimmerecke. »Hat Fietje auf dem Parkplatz von Buhne 16 gefunden. In einem Papierkorb!«
»Aber die sind doch noch total in Ordnung!«
»Tja, was die Leute so alles wegwerfen!«
»Warum hat Fietje sie nicht selbst behalten?«
»Gucken Sie sich mal seine Füßchen an. Schuhgröße siebenundvierzig hat der nicht.«
»Aber Sie?« Mamma Carlotta blickte auf Toves Füße und nickte. »Nett von Fietje, dass er Ihnen die Schuhe überlassen hat. Wahrscheinlich als Dank, weil Sie sich so für ihn eingesetzt haben.« Sie lächelte in Toves mürrisches Gesicht. »Sie wissen schon. Fietje hatte doch beobachtet, wie Henner Jesse zusammengeschlagen wurde. Und Sie haben so großen Wert darauf gelegt, dass er keine Aussage zu machen braucht.«
Toves Gesicht glättete sich. »Aber man kann sich ja auf nichts mehr verlassen. Wenn Fietje nicht zur Polizei geht, dann kommt die glatt zu ihm.« Er griff nach Mamma Carlottas Schulter und schob sie durch die Tür. »Auf diesen Schreck kriegen Sie erst mal ein Glas Rotwein aus Montepulciano.«
Sören bremste scharf neben ihm und öffnete die Beifahrertür. »Rein mit Ihnen! Der Vermieter der Wohnung wartet schon.«
Erik war beeindruckt von Sörens Schwung. Seinem Assistenten schien das Erfolgserlebnis gutzutun. Er schäumte geradezu über vor Arbeitsfreude. »Ich musste nicht einmal lange suchen«, erzählte er auf dem Weg nach Westerland. »Meine Tante wusste sofort, dass dieser Schlüssel zu den Apartments gehört, die von Jens Möllers vermietet werden.«
»Immobilien-Möllers?« Erik kannte die Firma. Sie verwaltete und vermietete unzählige Ferienwohnungen.
Sören lächelte. »Die Wohnung gehört einem gewissen Ilario Capra.«
»Capra?« Erik war überrascht. »Ein Verwandter von Antonio Capra?«
Sören nickte. »Vermutlich sein Bruder.«
»Also Francescos Onkel«, ergänzte Erik nachdenklich.
»Er besitzt mehrere Apartments auf Sylt. Als Kapitalanlage! Eins davon hat er früher selbst genutzt, die anderen wurden über Jens Möllers vermietet. Seit ein paar Jahren sitzt Capra jedoch im Rollstuhl, seitdem war er nie wieder auf Sylt. Auch die Wohnung, die er früher selbst nutzte, befindet sich nun in Jens Möllers’ Obhut, der sie für ihn vermietet.« Sören bog in den Bahnweg ein, von dort in die Friesische Straße. »Anfang des Jahres hat Capra zwei Apartments wieder aus der Vermietung genommen. Sie würden bis auf Weiteres von einem Verwandten genutzt, hat er Möllers erzählt.«
Sören hielt vor einem der gigantischen Apartmenthäuser, die den Strand von Westerland verschandelten. Grauer Beton, riesige Front, ein Balkonkäfig neben dem anderen. Ein Luxusgefängnis, das auf dem besten Wege war, den Luxus einzubüßen. Aber so sehr die weiße Farbe auch bröckelte, eins blieb dem Haus und würde es wohl immer attraktiv machen: der herrliche Blick aufs Meer.
Jens Möllers erwartete sie am Eingang des Parkplatzes, sehr ernst, sehr würdevoll. Er hob eigenhändig die Schranke an, damit Sören hindurchfahren konnte. Möllers sah aus, als würde der Mieter des Apartments, der aus dem Leben geschieden war, in der nächsten Stunde zu Grabe getragen.
Er ging Erik und Sören voraus, gemeinsam fuhren sie im Fahrstuhl in die oberste Etage. Möllers schloss die Tür eines Apartments auf und trat dann zur Seite, um den Polizeibeamten den Vortritt zu lassen.
Das Erste, was Erik sah, war das Meer. Es füllte die untere Hälfte des großen Fensters aus, die obere gehörte dem Himmel. Nur wenn man sehr nah ans Fenster trat oder gar auf den Balkon ging, konnte man den Strand sehen und das bunte Treiben auf der Kurpromenade erkennen. Wer in der Nähe der Tür stehen blieb, mochte den Eindruck gewinnen, mit der Aussicht auf Himmel und Meer allein zu sein.
Erik sah sich um. Der Wohnraum des Apartments war gemütlich ausgestattet. Eine Schrankwand, eine geschmackvolle Sitzgarnitur, ein kleiner runder Glastisch davor. Der helle, flauschige Teppich, die farbigen Lampenschirme und die Bilder mit den italienischen Landschaften sorgten für Behaglichkeit. Soweit ein unbewohntes Apartment behaglich sein konnte …
Jens Möllers stieß ein nervöses Lachen aus. »Wo sind denn seine Sachen? Der hat das Apartment doch bis zum Jahresende reserviert.«
»Alles leer!«, rief Sören aus dem angrenzenden Schlafzimmer. Und dann: »Das Badezimmer ist auch ausgeräumt.«
Erik wandte sich zu Jens Möllers um. »Wer hat noch einen Schlüssel?«
»Es gibt je drei Schlüssel für jedes Apartment. Einer hängt in unserem Büro, die andere beiden geben wir an den Mieter aus.«
»Zwei Schlüssel?«
Möllers nickte. »Den anderen haben vielleicht die Freunde?«
»Was für Freunde?«
Jens Möllers sah Erik ängstlich an. Es schien ihm nicht zu behagen, dass er mehr wusste als die Polizei. »Signor Capra …«
»Hat er sich so genannt?«
Möllers’ Blick wurde noch ängstlicher. »Heißt er etwa nicht so?«
Erik winkte ab. »Was wollten Sie sagen?«
»Signor Capra hat auch das Apartment nebenan reserviert. Für seine Freunde, hat er gesagt.«
»Zwei Männer? Zwei Frauen? Ein Paar?«
Aber Möllers zuckte nur die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich habe diese Freunde nie gesehen.«
»Haben Sie den Schlüssel für das andere Apartment dabei?«
Das war zwar nicht der Fall, aber Jens Möllers besaß einen Generalschlüssel. »Für Notfälle!«
Erik versicherte ihm, dass dieser Notfall nun eingetreten sei. Zwei Minuten später standen sie in einem Apartment, das dem ersten sehr ähnlich war. Genau wie das andere sah es so aus, als wären die Bewohner soeben abgereist. Aus beiden Wohnungen war alles entfernt worden, was Rückschlüsse auf die Bewohner und ihre Identität zugelassen hätte.
»Sieht aus, als hätten diese sogenannten Freunde die Flucht ergriffen«, meinte Sören. »Die haben alles mitgenommen.«
»Auch das, was Francesco gehörte. Warum wohl?«
»Damit er nicht so schnell identifiziert werden kann«, kam es prompt von Sören zurück. »Die konnten ja nicht ahnen, dass ihnen das nichts nützen wird, weil sich eine angeheiratete Verwandte auf Sylt aufhält.«
Erik griff nach dem Handy. »Die beiden hatten es vermutlich sehr eilig wegzukommen, als ihnen klar wurde, dass Francesco tot ist.«
»Woher wussten sie das überhaupt?«, fragte Sören.
Erik zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls haben die in der Eile sicherlich Spuren hinterlassen. Vetterich muss mit seinen Leuten kommen. Sofort!«
Mamma Carlotta entschloss sich, wahrend der Fahrt nach Keitum das ganze Chor-Programm noch einmal gründlich zu üben. Zum Glück war sie mit dem Fahrrad eine Weile unterwegs, sodass sie, als die St.-Severin-Kirche in Sicht kam, das gute Gefühl hatte, ihr Defizit aufgeholt zu haben. Während der Aufregungen des Tages war ihr jede Melodie im Halse stecken geblieben, und während sie nun der Chorprobe entgegenradelte, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Eigentlich hätte sie alle Lieder sorgfältig üben und die Texte sämtlicher Strophen gewissenhaft auswendig lernen müssen. Schließlich wollte sie Vera Ingwersen nicht enttäuschen, die ihr die Chance gegeben hatte, beim Chorwettbewerb mitzumachen.
Zu dumm aber auch, dass Carolin sich zurzeit so selten zu Hause aufhielt und nicht mit ihr üben konnte. Ständig war sie mit ihrem Freund zusammen, am Süder Wung war sie lediglich auf Stippvisite, und auch nur dann, wenn ihr Vater nicht anwesend war. Dieser törichte Streit zwischen den beiden machte alles kaputt. Ob Erik sich darüber klar war, dass er seine sechzehnjährige Tochter geradezu in die Arme und womöglich sogar ins Bett ihres Freundes trieb?
Da Felix sich, sobald im Hause Wolf gesungen wurde, davonmachte oder sich hinter seiner schrecklichen Musik versteckte, war das Familienleben praktisch zum Erliegen gekommen. Ein trauriger Zustand! Nur gut, dass Giovanna am nächsten Tag auf Sylt eintreffen würde. Mamma Carlotta freute sich auf ihre Gesellschaft.
Sie war froh gewesen, dass Erik ihr die Aufgabe übertrug, die Familie von Francescos Tod zu informieren. Nicht auszudenken, wie in Chiusi das tragische Ereignis aufgenommen worden wäre, wenn Erik in seiner emotionslosen Art die entsetzliche Todesnachricht überbracht hätte! Sören, Dr. Hillmot, Enno Mierendorf und Rudi Engdahl hätten es sicherlich auch nicht besser erledigt. Eine solche Botschaft musste schon am Tonfall der Begrüßung zu erahnen sein, das Mitleiden hatte durch die Telefonleitung zu dringen, damit der arme Mensch, dem die entsetzliche Botschaft überbracht werden musste, vor der Verzweiflung bewahrt wurde. Eine solche Aufgabe konnte man keinem gewöhnlichen Sylter anvertrauen.
Wie erwartet, war am anderen Ende der Telefonleitung nicht mehr die Rede von Francescos Schandtaten gewesen, sondern nur noch von seiner Reue, seiner Rückkehr auf den rechten Weg und dem deutschen Mädchen, das er heiraten wollte. Bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus, dass niemand den Namen des Mädchens kannte, um den Francesco ein Geheimnis gemacht hatte.
»Sie wird sich sicherlich bei uns melden«, hatte Maria, Francescos Mutter, geseufzt. »Und dann soll sie zur Familie gehören, als wäre es meinem Jungen noch vergönnt gewesen, sie zum Traualtar zu führen.«
Laut klagend erging sie sich in der Ungerechtigkeit der Welt, der ihr hoffnungsvoller Sohn zum Opfer gefallen war, nachdem er gerade alles wiedergutmachen wollte, was er seiner Familie im jugendlichen Leichtsinn angetan hatte. Als Maria hörte, dass Francescos Leiche von einem Angehörigen identifiziert werden musste, wurde das Wehklagen am anderen Ende der Leitung so laut, dass Erik die Küche verließ, um sich im Wohnzimmer eine Pfeife zu stopfen. Wie er richtig vermutete, hatte das Weinen, Schluchzen und Jammern noch kein Ende gefunden, als er, in Tabakrauch gehüllt, in die Küche zurückkehrte. Es verstummte erst, als Mamma Carlotta den Vorschlag machte, Marias Schwester Giovanna mit dieser schweren Aufgabe zu betrauen, die jeder Mutter das Herz zerreißen musste.
Giovanna war emotional weniger angegriffen vom schrecklichen Ende ihres Neffen, dessen frühe Lieblingsbeschäftigung es gewesen war, ihre Handtaschen mit Filzstiften zu bemalen, und seine spätere, sie vom Geld für die Rückfahrkarte zu befreien. Sie konnte nur mit Mühe ihre Freude darüber verhehlen, dass dieser Anlass sie wieder nach Deutschland führen würde. Und ihre Freude wurde geradezu überschwänglich, als sie hörte, dass Mamma Carlotta sich auf der Insel einem Chor angeschlossen hatte. Als das Gespräch bei den Erinnerungen Giovannas an die wunderschöne Zeit in München an der Seite des Schlagersängers und den Hoffnungen auf eine eigene Gesangskarriere angekommen war, hatte Erik dafür gesorgt, dass das Telefonat beendet wurde.
Als die Muschel II in Sicht kam, fühlte Mamma Carlotta sich einigermaßen vorbereitet auf die Chorprobe. Wenn da nur nicht die Sorge um Carolin gewesen wäre! Nach der Rückkehr von Käptens Kajüte hatte sie nur einen Zettel auf dem Küchentisch vorgefunden: »Bin schon in Keitum. Du findest doch den Weg allein? Bis später! Carolin.«
Als Carlotta die Tanzschule Jäger betrat, kam es ihr so vor, als habe Willem Jäger auf sie gewartet. Er hielt sich im Eingangsbereich auf, brach sofort das Gespräch ab, das er mit einer Tanzschülerin führte, und kam auf Mamma Carlotta zu. Er bedachte sie mit Bussi links und Bussi rechts und flüsterte ihr zu, dass er es ganz süß von ihr fände, wenn sie niemandem etwas von ihrem letzten Zusammentreffen erzählen würde. »Vor allem Vera nicht. Sie ist eine so starke Frau. Sie würde mich auslachen, wenn sie wüsste, dass mich der Tod ihrer Schwiegermutter derart mitnimmt!«
Carlotta versicherte ihm, dass sein Geheimnis bei ihr gut aufgehoben sei, und erkundigte sich mitfühlend, ob sein Magen-Darm-Trakt den schrecklichen Todesfall nun verarbeitet habe. »Ansonsten würde ich Ihnen ein Glas Essigwasser empfehlen. Kümmelkörner, langsam zerkaut, helfen auch. Wenn Sie empfindlich sind, sollten Sie immer Kümmelkörner dabeihaben.«
Willem Jäger bedankte sich derart überschwänglich, dass er das Werbematerial, das auf einem kleinen Tisch auslag, mit seinem linken Ellbogen in Aufruhr versetzte. Während er noch beteuerte, wie süß er es fand, dass Mamma Carlotta sich so rührend um seinen Magen-Darm-Trakt kümmere, flatterten bereits die ersten Flyer zu Boden. Erschrocken warf sich Willem auf den Stapel und hielt, was zu halten war, unterdessen bückte Mamma Carlotta sich flink, um die heruntergefallenen Flyer aufzuheben. Dabei fiel ihr Blick auf die Schuhe des Tanzlehrers. Aus feinstem schwarzen Leder waren sie, perfekt geputzt– und sehr lang. Ob Willem Jäger zu denen gehörte, die ein Paar neue Turnschuhe achtlos in einen Papierkorb warfen?
Sie reichte ihm die Flyer und sollte zweifellos zu hören bekommen, wie süß es sei, dass sie sich seinetwegen bemüht hatte … da veränderte sich sein Gesicht. Es nahm einen verlegenen Ausdruck an, sein Blick wurde unstet, seine aufrechte Haltung verbog sich.
Vera war eingetreten, in ein graues, schlichtes Dirndl und dunkle Würde gekleidet. Sie war blass, aber ihr Lächeln sollte allen zeigen, dass sie sich nicht unterkriegen lassen wollte. Willems Beileidsgestammel nahm sie freundlich entgegen und bedankte sich herzlich für Carlottas Anteilnahme. Dann erklärte sie resolut, man wolle nun für ein, zwei Stunden alles Schreckliche vergessen und das tun, was ihrer dahingeschiedenen Schwiegermutter so viel bedeutet habe: singen!
»Utta hätte nicht gewollt, dass wir auf den Chorwettbewerb verzichten«, erklärte sie dem versammelten Chor. »Und ich möchte nicht, dass ihr nach so vielen Proben um die Freude gebracht werdet, euch mit anderen zu messen.« Sie machte auch vor dem Satz: »Das Leben geht weiter!« nicht halt und versicherte, dass jedem Trauernden am besten damit geholfen würde, dass er weiterhin seiner Arbeit nachging. »Mein Schwiegervater hat die Muschel I nicht geschlossen, mein Mann und ich wollen uns daran ein Beispiel nehmen. Die Muschel II bleibt ebenfalls geöffnet, und die Chorproben gehen weiter.«
Für den Applaus, den sie von den Chorsängern erntete, bedankte sie sich mit einem kleinen tapferen Lächeln. Mamma Carlotta vergaß das Applaudieren, weil sie in diesem Augenblick beobachtete, wie Carolin sich an ihren Freund lehnte und ihn so verliebt ansah, als würde sie mit ihm durch eine schöne Erfahrung verbunden.
Prompt brach Mamma Carlotta der Schweiß aus. Was würde Lucia von ihr erwarten? Dass sie Carolin nicht mehr aus den Augen ließ? Dass sie ein aufklärendes Gespräch mit ihr führte? Mit keinem ihrer sieben Kinder war ihr das gelungen! Zwar hatte sie sich gelegentlich gefragt, ob sie sich ein Versäumnis vorzuwerfen hatte, aber dann war sie unfreiwillig Zeugin geworden, wie ihre Tochter ihre Älteste in die Geheimnisse der Liebe einweihte. Dabei musste Mamma Carlotta die bestürzende Feststellung machen, dass ihre Enkelin in der Theorie bereits besser bewandert war als sie selbst in der Praxis, und sie war froh gewesen, dass sie eine diesbezügliche Unterweisung getrost von der langen Liste ihrer Pflichten streichen konnte. Nein, Lucia würde nicht von ihr erwarten, dass sie sich eine Aufgabe auflud, der sie nicht gewachsen war. Blieb also nur, ein wachsames Auge auf Carolin zu haben, bis ihr Vater Zeit hatte, sich selbst um seine Tochter zu kümmern.
Mamma Carlotta wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Vera sagte: »Alles, was meine Schwiegermutter geliebt hat, soll weiterleben. Nicht nur der Gesang und dieser Chor, sondern auch ihr Geschäft. Die Perlenmuschel wird morgen wieder geöffnet, ich werde dafür sorgen, dass der Verkauf weitergeht.«
Carlotta war gerührt von diesen warmherzigen Worten. Und ebenso erfreut! Sie würde also noch Gelegenheit haben, das Kettchen für Sandra zu kaufen, das sogar der anspruchsvollen Utta Ingwersen gefallen hatte.
»Wir müssen allerdings unser Programm für den Wettbewerb umstellen«, fuhr Vera fort. »Carolin und Michael werden ein Duett singen, das sie bereits einüben.«
Carolin lief rot an vor Freude, Michael zwinkerte ihr verstohlen zu. Mamma Carlotta stutzte. Michael? Hatte Felix ihn nicht Florian genannt? Und Erik …? Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Allmählich blickte sie nicht mehr durch. Ob Michael oder Florian – sie würde den Burschen in Zukunft einfach Ragazzo nennen, damit war sie aus dem Schneider.
»Ich überlege«, fuhr Vera fort, »›Amazing Grace‹ aus dem Programm zu nehmen.«
Allgemeines Murren war die Antwort, und schließlich sagte die junge, schöne Kellnerin der Muschel II: »Aber das Lied ist so herrlich emotional. Das bringt uns garantiert viele Punkte.«
Vera warf ihr nur einen kurzen Blick zu. Es schien sie zu ärgern, dass ausgerechnet Susanna Larsen etwas sagte, von dem sie wusste, dass es stimmte. »Das ist zwar richtig«, entgegnete sie, »aber es muss perfekt gesungen werden, sonst bringt es uns mehr Minuspunkte, als uns lieb ist.«
In allen Gesichtern stand zu lesen, dass Uttas Gesang niemanden ans Herz gerührt hatte. Aber da man von Toten nur Gutes sagen durfte, sprach niemand diesen Gedanken aus.
»Ich hatte erwogen, selbst Uttas Solo zu übernehmen, aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft dazu aufbringe.«
Carlotta sah in einigen Gesichtern Hoffnung aufflackern. In Carolins Miene stand sie ganz unverhohlen, und es tat ihrer Nonna weh, zu beobachten, wie Veras Blick über diese Hoffnung hinwegging. Noch schmerzhafter war für Mamma Carlotta allerdings die Dankbarkeit, die sie empfand, weil Carolin dieses Solo erspart blieb. Natürlich hätte sie es niemals laut ausgesprochen, aber in diesem Fall wäre ihre Angst vor einer Bloßstellung größer gewesen als ihr Stolz auf eine Enkelin, die als Solosängerin auftrat.
Auch in Susanna Larsens Gesicht stand die Hoffnung, aber dass sie an Veras Blick abprallte, verstand sich von selbst. Dass eine Ehefrau die mutmaßliche Geliebte ihres Mannes bevorzugt behandelte, konnte niemand erwarten. Mamma Carlotta war voller Verständnis für die Chorleiterin.
Und dann kam ihr einer ihrer spontanen Einfälle, über deren Sinn sie meist erst nachdachte, wenn sie sie bereits ausgesprochen hatte. »Morgen kommt eine Verwandte von mir zu Besuch. Sie ist als Sängerin sogar schon im Fernsehen aufgetreten.«
Ein Ruck ging durch den Chor, und auch Vera Ingwersen blickte interessiert. Wer Auftritte im Fernsehen vorzuweisen hatte, war anscheinend über jeden Zweifel erhaben.
»Sie hat mit Enzo Meurer gesungen«, ergänzte Mamma Carlotta und war froh, dass ihr das Wort »Backgroundsängerin« nicht einfiel, das Giovannas Leistung eventuell geschmälert hätte. Zum Glück weckte der Name Enzo Meurer bei einigen älteren Chormitgliedern ein paar verschwommene Erinnerungen, und da eine Keitumer Friseurin sogar behauptete, sie habe mal sehr für Enzo Meurer geschwärmt, war die Zustimmung einhellig. Mamma Carlotta wurde dringend gebeten, die singende Verwandte am nächsten Abend mitzubringen.
»So ein Profi hat ›Amazing Grace‹ auf jeden Fall drauf«, meinte einer der Tenöre mit Kennermiene.
»Mit der könnte man sogar Reklame machen«, sagte ein Bass. »Bekannt aus Funk und Fernsehen oder so.«
Das fanden die anderen zwar ein wenig übertrieben, aber es blieb dabei: Eine Sängerin, die schon mal im Fernsehen aufgetreten war, würde mit »Amazing Grace« nicht nur die Herzen der Zuhörer erwärmen, sondern vor allem die der Jurymitglieder. Carolins enttäuschtes Gesicht tat Mamma Carlotta zwar weh und ihr vorwurfsvoller Blick erst recht, aber sie war dennoch davon überzeugt, dass sie ihrer Enkelin einen großen Gefallen getan hatte. Und deswegen ertrug sie beides.
Giulio Alviso und Lorenzo Follini waren soeben zur Fahndung ausgeschrieben worden. Auf Sylt würde man die Augen offen halten, obwohl Erik nicht die Hoffnung hatte, dass die beiden sich noch auf der Insel aufhielten. Aber sie wurden auch überregional gesucht, und sogar Interpol war eingeschaltet worden. Alviso und Follini standen im dringenden Verdacht, für Henner Jesses und Utta Ingwersens Tod verantwortlich zu sein.
Erik seufzte auf und lehnte sich zurück. Alle Maßnahmen gründeten sich auf die Informationen, die Girotti ihnen gegeben hatte. Doch stand wirklich fest, dass Francesco die beiden angeheuert hatte? Noch waren die Schuhabdrücke, die sie neben Henner Jesse gefunden hatten, in Italien nicht überprüft worden. Erst wenn Girotti die Abdrücke verglichen hatte, konnten sie ganz sicher sein. Aber vor allem – konnte man wirklich darauf vertrauen, dass die Mafia-Familie Capra zerschlagen war und Francesco nur wie ein kleiner Junge das Spiel weitergespielt hatte, das ihm so gut gefiel? Die Erleichterung, die die Staatsanwältin verströmt hatte, war bei Erik noch immer nicht angekommen.
Ob auch Francescos Tod auf das Konto seiner beiden Freunde ging, war nach wie vor unklar. Ein Motiv für ihre Täterschaft lag nicht auf der Hand, und Indizien gab es auch keine. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber Erik hoffte darauf, dass Vetterich bald etwas finden würde, was sie weiterbrachte.
»Ob uns die junge Frau helfen könnte, die Francesco heiraten wollte?«, überlegte Erik.
»Aber wie sollen wir die finden?«, fragte Sören zurück. »Wir wissen nichts von ihr. Außer dass sie eine Deutsche ist.«
»Womöglich lebt sie auf Sylt.«
»Kann sein, muss aber nicht.« Sören dachte angestrengt nach, kippelte ein klein wenig mit seinem Stuhl, stellte ihn dann aber wieder auf seine vier Beine, weil er anscheinend endlich durch Schaden klug geworden war. »Warum dieses Geheimnis um ihren Namen? Das hört sich so an, als wäre er seiner Familie bekannt.«
Erik runzelte die Stirn. »Sie meinen … eine Prominente?«
»Zum Beispiel.« Sören wusste von einer Fernsehschauspielerin, die sich zurzeit auf Sylt erholte, und von einer Kabarettistin, die ihm auf der Friedrichstraße begegnet war. »Aber die kennt in Italien keiner.«
In diesem Augenblick klingelte Eriks Telefon, Vetterich war dran. »Haben Sie was für mich?«, fragte Erik aufgeregt.
Vetterich brummte etwas Zustimmendes in den Hörer. »Die haben zwar gründlich sauber gemacht, aber natürlich nicht gründlich genug. Zwei Schuhabdrücke haben wir gefunden. Und die sind identisch mit denen, die wir auch neben Henner Jesse gesichert haben.«
Erik lächelte zufrieden. »Der Tatverdacht gegen die beiden hat sich also erhärtet. Sie haben Jesse zusammengeschlagen, vermutlich weil er sich geweigert hat, das Schutzgeld zu zahlen. Oder weil er nicht so viel aufbringen konnte, wie die beiden Kerle haben wollten. Und einer von ihnen hat kaltblütig Utta Ingwersen ermordet, weil ihr Mann noch weiter gegangen ist als Henner Jesse. Harm Ingwersen hat klipp und klar gesagt, dass er sich nicht erpressen lässt, und hat sogar Anzeige erstattet. Dafür musste seine Frau sterben. Bleibt nur noch die Frage, wer Francesco auf dem Gewissen hat.«
»Vielleicht hilft Ihnen eine Telefonnummer weiter«, gab Vetterich zurück. »Ich habe sie gefunden, als wir eine Kommode von der Wand gerückt haben. Der Zettel mit der Handynummer war dahintergerutscht.«
»Stand sonst noch was auf dem Zettel?«
»Ein Wort, vielleicht ein Name.« Vetterich zögerte, dann las es langsam vor, indem er jede Silbe betonte: »Susala.«
»Klingt wie ein Mädchenname«, sagte Erik.
»Das ist Ihr Job, Wolf«, meinte Vetterich. »Ich suche weiter. Sollte ich noch was finden, gebe ich Bescheid.« Dann diktierte er Erik die Handynummer und legte auf.
»Susala!« Auch Sören ließ den Klang der Silben auf den Lippen zergehen. »Meinen Sie wirklich, dass das ein Name ist?«
Erik griff zum Telefonhörer. »Das werden wir hoffentlich gleich erfahren.«
Er wählte die Nummer und lauschte auf das Freizeichen. Als sich am anderen Ende eine helle Stimme meldete, war er so verblüfft, dass er schwieg, bis die Stimme ungeduldig rief: »Hallo! Wer ist denn da?«
Der Chor drängte aus dem Übungsraum, die Mitglieder schienen sich zu fragen, ob es unter den neuen Umständen zu verantworten sei, auch diesen Abend mit munterem Geplauder und alkoholischen Getränken zu beschließen. Schließlich war jemand aus ihrer Mitte geschieden, da schickte es sich eigentlich nicht, fröhlich zu sein. Zögernd gingen sie die Treppe hinab, traten vor dem Eingang zur Bar von einem Fuß auf den anderen, dann drehte sich der Erste beherzt um und ging auf den Ausgang zu. Damit war die Entscheidung getroffen, alle anderen folgten ihm mit ernsten Mienen und waren mit sich zufrieden, weil sie die Pietät über das Vergnügen gestellt hatten.
Mamma Carlotta blieb zurück und wartete auf Carolin und ihren Freund, die auffällig langsam herantrödelten. Gerade wollte sie mit unmissverständlichen Worten dafür sorgen, dass Carolin sich ihr anschloss, da wurde sie von Vera angesprochen. »Sie sind sicher, dass Ihre Verwandte nichts dagegen hat, unseren Chor zu verstärken? So kurz vor dem Wettbewerb?«
»Sie wird sich freuen«, beteuerte Mamma Carlotta so eifrig, dass ihr entging, wie Carolin die Gunst des Augenblicks nutzte und sich hinter zwei Sylter Hausfrauen durch die Ausgangstür wand. In leuchtenden Farben schilderte sie Giovannas Talent und ihre Freude am Gesang, bis Vera sie unterbrach: »Wenn Ihre Verwandte vorher mit mir reden will – kein Problem. Ich werde den ganzen Tag in der Perlenmuschel sein. Sie können mich dort anrufen, wenn Sie wollen.«
»Ich könnte auch vorbeikommen!« Carlotta berichtete von ihrer Schwiegertochter, der sie zum Geburtstag die gleiche Kette schenken wollte, die Utta Ingwersen in der Stunde ihres Todes getragen hatte. »Ein silbernes Kettchen mit einem Kreuz.«
Vera runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Sie trug die Kette ständig, Ihr Schwiegervater hat es gesagt. Sie hatte die Ketten für den Laden eingekauft und sich selbst eine davon genommen.«
Zum Glück fragte Vera Ingwersen nicht nach, wie Mamma Carlotta zu diesen Kenntnissen gekommen war. »Ich werde gleich morgen früh nachsehen. Hoffen wir, dass noch nicht alle verkauft sind.«
Mamma Carlotta überlegte kurz, ob es die Pietät verbot, auf den Rabatt hinzuweisen, den Utta Ingwersen ihr versprochen hatte, aber noch ehe sie zu einem Ergebnis gekommen war, hatte Vera sich schon verabschiedet und eilig die Tanzschule verlassen.
Mamma Carlotta folgte ihr, draußen sah sie sich suchend um. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Chormitglieder und unterhielten sich leise, zwei andere bummelten die Straße hinunter, alle anderen hatten zügig den Heimweg angetreten. Veras dunkler Mantel verschwand in der aufsteigenden Dämmerung, von Carolin war nichts zu sehen. Wo mochte sie sein? In Mamma Carlotta kroch erneut die Sorge hoch. Lucia, was soll ich tun?
Zögernd ging sie zum Fahrradständer, wo das Rad auf sie wartete, das früher einmal ihrer Tochter gehört hatte. Carolins Fahrrad stand nicht mehr dort. Ein kräftiger Windstoß rüttelte am Lenker, als Mamma Carlotta das Rad aus dem Ständer hob. Besorgt stellte sie fest, dass er aus der Richtung kam, in die sie fahren musste, um nach Hause zu kommen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn. Der Wind war eiskalt und feucht, er schmeckte, roch und fühlte sich an, als käme er direkt vom Meer.
Mamma Carlotta fuhr langsam, um gründlich nachdenken zu können. Am besten würde es wohl sein, sich auf dem Parkplatz der Muschel II umzusehen und dort nach Carolins Fahrrad zu suchen. Sollte es tatsächlich dort stehen, musste sie sich überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte. Vielleicht würde ihr etwas einfallen, was es rechtfertigte, an die Zimmertür des jungen Mannes zu klopfen?
Schon nach wenigen Metern hatte sie eine Idee. Carolin wusste noch nicht, dass ein Familienmitglied ums Leben gekommen war. Zwar handelte es sich nur um einen entfernten Angehörigen und noch dazu um einen, den Carolin nie kennengelernt hatte, aber Francescos schreckliches Ende war Grund genug, Carolin unverzüglich über diese Tragödie zu informieren. Während des Chorabends hatte Mamma Carlotta davon abgesehen, weil niemand frohgemut die Lust des Müllers am Wandern besingen konnte, der gerade von der Ermordung eines Verwandten erfahren hatte. Jetzt aber war das etwas anderes. Und wenn der Ragazzo dafür kein Verständnis hatte, war er ein grober Klotz und nicht gut genug für ihre Enkeltochter. Von ihrem frischen Entschluss gestärkt stieg sie aufs Fahrrad und stemmte sich gegen den Wind.
Veras dunkler Mantel tauchte vor einer hellen Hauswand auf, die Bö, die Mamma Carlotta entgegenkam, trug ihre Schritte heran. Dann – von einem Augenblick auf den anderen – waren der Mantel verschwunden und das helle Tack-tack der Absätze verstummt. Wo war Vera geblieben? Carlotta sah sich um, aber die Chorleiterin war nirgendwo zu entdecken.
In diesem Moment fiel ihr eine andere Gestalt auf. Susanna Larsen ging die Straße entlang, mit dem Handy am Ohr. Ihre Stimme flog Mamma Carlotta entgegen, was sie sagte, war jedoch nicht zu verstehen. Langsam, sehr langsam trat Carlotta in die Pedalen, nicht kräftiger, als nötig war, um das Fahrrad auf dem Weg zu halten. Kurz bevor sie Susanna erreichte, sah sie im Augenwinkel eine Bewegung hinter einem Gebüsch. Vera Ingwersen! Sie folgte ihrer Kellnerin heimlich. Warum? Hoffte sie darauf, Susanna mit ihrem Mann in flagranti zu erwischen?
Auf keinen Fall wollte Mamma Carlotta ihre Chorleiterin der peinlichen Situation aussetzen, bei diesem unwürdigen Spiel ertappt zu werden. Also ließ sie sich nichts anmerken und fuhr gemächlich weiter. Susanna Larsen drehte ihr prompt den Rücken zu, während Mamma Carlotta vorbeikam, doch sie verstand trotzdem, was Susanna sagte: »Bist du schon da?« An ihrem Lachen war zu erkennen, dass sie eine positive Antwort erhalten hatte. »Und es hat dich keiner gesehen?«
Damit waren Vera Ingwersens schlimmste Befürchtungen bestätigt worden. Was konnte dieser Satz anderes bedeuten als Heimlichkeit und Betrug? Die arme Vera! Bitter genug, dass sie hintergangen wurde, aber dass ihr Mann sie ausgerechnet mit einer Angestellten betrog, machte die Sache noch schlimmer. Kein Wunder, dass sie unbedingt wissen wollte, woran sie war. Dann würde sie endlich einen guten Grund haben, die junge, schöne Kellnerin vor die Tür zu setzen!
Mamma Carlotta nutzte die Gelegenheit, die ihr ein dicht bewachsenes Grundstück bot: Sie sprang vom Rad, schob es hinter den Zaun, ließ es dort einfach auf den Rasen fallen und duckte sich hinter einen Busch. Susanna Larsen konnte nicht wissen, wo sie wohnte. In vielen Häusern Keitums wurden Zimmer vermietet. Warum nicht auch hier? Außerdem hatte Susanna sie vermutlich gar nicht bemerkt, weil sie völlig auf ihr Telefongespräch konzentriert gewesen war. In diesem Moment wühlte die junge Kellnerin in ihrer Tasche, um ihr Handy erneut herauszuholen, das soeben wieder zu zirpen begonnen hatte. Diesmal blieb sie stehen, Mamma Carlotta konnte durch die feinen Zweige der Büsche ihr erstauntes Gesicht erkennen. Susanna sah aus, als bekäme sie etwas zu hören, was ihr die Beine lähmte. Sie bewegte sich keinen Zentimeter mehr vorwärts.
»Wieso fragen Sie mich nach Francesco? Was ist mit ihm?«
Mamma Carlotta hielt den Atem an. Francesco? Mit wem redete Susanna Larsen?
»Nein, warum sollte ich ihn vermisst haben? Ich verstehe Ihre Fragen nicht, Herr Hauptkommissar.«
Carlotta zog den Reißverschluss ein Stück herunter, weil ihr plötzlich warm wurde. Warum sprach Erik mit Susanna Larsen über den toten Francesco? Sie selbst wurde ständig ermahnt, kein Wort über diesen Mord zu verlieren, und er …
»Was sagen Sie da? Aber … das kann doch nicht sein!«
Es raschelte in der Nähe, Mamma Carlotta duckte sich noch tiefer. Hoffentlich tauchte nicht der Hauseigentümer auf, der sich über das Fahrrad auf seinem Rasen wunderte.
»In einer Stunde fängt meine Schicht an.«
Wieder raschelte es, aber Mamma Carlotta stellte erleichtert fest, dass das Geräusch nicht aus diesem Garten kam, sondern von der anderen Seite des Zauns. Vera hatte sich herangepirscht. Sie nutzte den Schutz eines parkenden Autos, das sie Susannas Blicken entzog. Jedem anderen jedoch präsentierte sie sich vollkommen ungeschützt. Das zeigte immerhin, dass sie Mamma Carlotta nicht in der Nähe vermutete, aber besonders beruhigend war das nicht. Erwischt werden konnte sie immer noch. Und wie sie Vera Ingwersen erklären sollte, warum sie hinter diesem Gartenzaun hockte, wusste sie wirklich nicht. Also verhielt sie sich mucksmäuschenstill, um weder Susanna Larsen noch Vera Ingwersen auf sich aufmerksam zu machen.
»Einverstanden«, hörte sie Susanna Larsen sagen. »Ich werde auf Sie warten.«
Sie beendete das Gespräch. Dann ging sie langsam weiter, während sie auf eine Taste drückte und das Handy erneut ans Ohr nahm. »Ich bin’s noch mal. Ich kann leider doch nicht …«
Der Rest ging in einer Windbö unter, und schon bald hatte sich Susanna Larsen so weit entfernt, dass Mamma Carlotta nicht mehr verstehen konnte, was sie sagte.
Kurz darauf raschelte es erneut, und Vera machte einen Schritt auf die Straße. Atemlos beobachtete Mamma Carlotta, wie sie ihr Handy aus der Tasche nahm und eine Taste wählte, ehe sie das Handy ans Ohr setzte. »Ich bin’s! Geben Sie mir bitte meinen Mann!« Ihr Gesicht veränderte sich, bevor sie fragte: »Wann ist er aus dem Haus gegangen?« Sie lauschte, und ihre Miene versteinerte sich. »Also gut. Ich bin gleich zurück.« Sie steckte das Handy in die Tasche zurück, fasste Susannas Gestalt ins Auge und folgte ihr langsam.
Mamma Carlotta atmete erleichtert auf, als sie sich in Sicherheit wiegen durfte. Gerade wollte sie sich erheben, da erklangen erneut Schritte. Wieder duckte sie sich, bog die Zweige auseinander und spähte auf die Straße. Ein Mann kam Vera Ingwersen auf der anderen Straßenseite entgegen. Sie erkannte ihn an seinem schmalen Gang und den großen Füßen. Carlotta beobachtete, wie er stockte, stehen blieb, als sei er erschrocken, und dann sogar zwei, drei Schritte rückwärts machte. Er starrte in Veras Richtung, sein Zögern wirkte ängstlich, dann aber schien er zu bemerken, dass Vera ihn nicht sah. Sie starrte auf ihre Füße und hatte keinen Blick für ihre Umgebung. Mit einem großen Schritt verschwand er hinter dem dicken Pfeiler eines Gartentors und tauchte erst wieder auf, als Vera vorbeigegangen war.
Mamma Carlotta zog es vor, sich erst blicken zu lassen, als Willem Jäger bereits auf die Tür der Tanzschule zuging. Warum versteckte er sich vor Vera Ingwersen? Was hatte er zu verbergen?
Es war ein gemütliches kleines Zimmer, das Erik mit Sören betrat. Das Muster der Sesselbezüge kannten sie bereits vom Restaurant, aber Susanna Larsen war es gelungen, dem vorgefertigten Ambiente eine persönliche Note zu geben. Sie begrüßte die beiden Polizeibeamten ernst, aber verzweifelt wirkte sie nicht, und geweint hatte sie augenscheinlich auch nicht. Aus der winzigen Küche holte sie eine Teekanne und fragte: »Mögen Sie Ingwertee? Der ist gut für die Nerven. Ich gieße jeden Morgen kochendes Wasser über ein Stück Ingwerwurzel.«
Erik lehnte dankend ab, aber Sören nickte mit leuchtenden Augen. Er hätte sich von Susanna Larsen vermutlich fröhlichen Herzens Blausäuretee vorsetzen lassen. Wieder starrte er Susannas große Augen und ihren ausdrucksvollen Mund an, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen. Sie hatte sich bereits für die Arbeit umgezogen. Aber selbst das Einheitsdirndl, das auf Veras Geheiß alle Kellnerinnen der Muschel II zu tragen hatten, konnte ihrer Attraktivität nichts anhaben.
»Susala«, sagte Erik nachdenklich und sah sie lächelnd an. »Ist das eine Zusammensetzung aus Ihrem Vor- und Nachnamen?«
Susanna nickte. »Gute Freunde nennen mich so.«
»Und Francesco Corrado gehörte zu Ihren guten Freunden?«
»Wir kennen uns seit unserer Kindheit.« Susanna stellte die Teekanne auf die Fensterbank, nachdem sie eingeschenkt hatte, dann reichte sie Sören den Zucker und holte eine Flasche Mineralwasser aus der Küche. Ohne Erik zu fragen, goss sie ihm ein Glas ein. »Schon als kleines Mädchen bin ich mit meinen Eltern jeden Sommer in die Toskana gefahren. Nach Chiusi, in die Pension von Francescos Großeltern. Er war zwei Jahre älter als ich, und natürlich habe ich ihn angehimmelt.« Sie lachte kurz, schien sich dann aber zu erinnern, dass Fröhlichkeit unangebracht war, und wurde schnell wieder ernst. »Wir haben alles gemacht, was unsere Eltern uns verboten hatten. Herrliche Ferien waren das.« Wieder lächelte sie, diesmal wehmütig und verträumt. »Mit fünfzehn habe ich mich dann richtig in Francesco verknallt, aber meine Eltern haben das spitzgekriegt. Von da an war Schluss mit Ferien in der Toskana.«
»Sie sind also nicht mehr in die Pension von Francescos Großeltern gefahren?«
»Nie wieder! Aber nicht nur wegen Francesco und mir. Auch, weil meinen Eltern die Pension nicht mehr komfortabel genug war. Wir sind dann immer nach Rimini gefahren. In ein großes Hotel.«
»Aber Sie sind mit Francesco in Kontakt geblieben?«
Susanna schüttelte erstaunt den Kopf. »Nein! Wir haben uns seit über zehn Jahren nicht gesehen. Was meinen Sie, wie ich gestaunt habe, als er plötzlich in der Muschel II stand. Wir beide hier auf Sylt!« Ein winziges Lächeln ging über ihr Gesicht. »Wir haben uns sofort wiedererkannt.«
Erik sah Sören scharf an, der noch immer in Susannas Anblick versunken war, aber sein Assistent schien keinen Beitrag zu der Befragung leisten zu wollen. »Wissen Sie, was Francesco in der Muschel II wollte?«
Susanna wurde nun sehr ernst. »Ich habe gleich gemerkt, dass da was nicht stimmte. Er ist mehrmals beim Chef gewesen, und jedes Mal, wenn Francesco ging, war der Chef total nervös. Seitdem sehe ich mich nach einer neuen Stelle um. Obwohl … eigentlich verstehe ich das nicht.«
Erik sah sie fragend an. »Was verstehen Sie nicht?«
»Dass die Muschel II nicht gut laufen soll. Okay, wir sind nicht jeden Abend ausgebucht, aber welches Restaurant ist das schon? Jedenfalls habe ich Angst, dass ich über kurz oder lang auf der Straße stehe.«
Erik hatte plötzlich das Gefühl, dass sie nicht über das Gleiche sprachen. »Jetzt verstehe ich aber nicht …«
»Wissen Sie denn nicht, für wen Francesco arbeitete? Für einen Investor, der Restaurants aufkauft, die nicht mehr gut laufen! Anschließend werden diese Restaurants dann mit viel Geld zu den reinsten Goldgruben gemacht. Ob ich dann meinen Job behalten könnte?« Sie dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Das will ich gar nicht. Für solche Leute möchte ich nicht arbeiten.«
Erik beugte sich vor, und auch Sören erwachte aus seiner Verzückung. »Francesco hat Ihnen also erzählt«, vergewisserte sich Erik, »dass er die Muschel II aufgesucht hat, weil ein Investor an dem Restaurant interessiert ist?«
»Sag ich doch.« Susanna wurde sehr nachdenklich. »Ich verstehe nur nicht, warum die Muschel II keinen Gewinn abwerfen soll. Der Laden läuft gut, soweit ich das beurteilen kann. Der Chef hat das Restaurant von seinen Eltern geschenkt bekommen, er hat also keine Bankkredite laufen oder so.«
Nun schien Sören endlich seine Stimme wiedergefunden zu haben. »Sie wollten Francesco Corrado heiraten?«
Susanna sah ihn überrascht an, dann lachte sie. »Nein, wie kommen Sie denn darauf?«
»Seine Familie behauptet, er hätte kurz vor seinem Tode angekündigt, demnächst ein deutsches Mädchen zu heiraten. War eine andere junge Frau damit gemeint?«
»Wohl nicht.« Susanna wurde verlegen. Sie stand auf, ging in die Küche und kam mit einem Schälchen zurück, in dem ein paar Kekse lagen. »Er wollte mich tatsächlich heiraten. Aber … ich wollte nicht.« Sie stellte das Schälchen auf den Tisch und setzte sich wieder. »Nachdem wir uns zufällig hier auf Sylt wiedergetroffen haben, hat er sich Hals über Kopf in mich verliebt.« Ihr Blick wurde weich, auf ihr Gesicht stahl sich ein winziges Lächeln. »Dieser Zufall! Francesco hat gesagt, das muss ein Wink des Schicksals sein. Das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt, wir sind füreinander bestimmt!« Das Lächeln verschwand, aus dem kleinen romantischen Mädchen wurde wieder eine vernünftige junge Frau. »Aber es sind viele Jahre vergangen, wir waren nicht mehr das Pärchen von einst. Francesco konnte das nicht einsehen. Er wollte an unsere erste Verliebtheit anknüpfen.«
»Was hat sich verändert?«, fragte Erik. »Sind Sie inzwischen mit einem anderen Mann zusammen?«
Diese Frage schien Susanna Larsen nicht beantworten zu wollen. »Früher war ich einmal in ihn verliebt, heute bin ich es nicht mehr«, entgegnete sie. »So einfach ist das. Aber Francesco dachte, wenn er mich Tag und Nacht belagert und mir einen Heiratsantrag nach dem anderen macht, werde ich irgendwann nachgeben. In Wirklichkeit …« Sie stockte.
»In Wirklichkeit?«, half Erik nach.
»Je öfter er von Heirat redete, desto weniger wollte ich ihn sehen. Aber er begriff das nicht. Er war wie verbohrt.«
Erik lächelte Susanna Larsen freundlich an. »Francescos Familie kannte Sie von früher?« Und als Susanna nickte, fuhr er fort: »Deswegen wollte er also Ihren Namen nicht nennen. Nicht, bevor er Ihr Jawort hatte.«
»Er hätte es niemals bekommen!« Susanna fuhr sich mit einer eindrucksvollen Geste durch die langen Haare. »Als er den ganzen Tag nicht angerufen hat, dachte ich, er hätte nun endlich kapiert, dass es zwecklos ist.«
»Aber er konnte nicht anrufen, weil er nicht mehr lebte.« Erik holte sein Notizbuch hervor, als wollte er endlich zu den Fakten kommen. »Sie kennen sicherlich seine Handynummer?«
»Natürlich!« Susanna griff nach seinem Notizbuch und schrieb sie kurzerhand hinein.
Erik bedankte sich mit einem Nicken. »Können Sie sich vorstellen, wer Francesco umgebracht haben könnte, Frau Larsen?«
Sie sah ihn überrascht an, dann schüttelte sie den Kopf.
»Hat er Ihnen nichts anvertraut? Von beruflichen Schwierigkeiten vielleicht oder von privaten Problemen? War er womöglich in kriminelle Machenschaften verstrickt?«
Susanna schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, die Zeit der krummen Touren wäre vorbei. Er verdiente jetzt gut, hatte einen tollen Job bei diesem Investor …«
Sie wurde vom Telefonklingeln unterbrochen. Mit leiser Stimme meldete sie sich, lauschte kurz, dann sagte sie: »Ich komme sofort.« Entschuldigend sah sie Erik an. »Der Oberkellner! Eine Gesellschaft ist eingetroffen, ich werde gebraucht.«
Erik winkte ab. »Wir sind gleich fertig.«
»Was wollen Sie noch von mir? Ich weiß wirklich nicht viel von Francesco.«
»Immerhin wollte er Sie heiraten. Sie müssen sich also sehr vertraut gewesen sein.«
»Ich glaube, Francesco ging es vor allem darum, sich wieder mit seiner Familie zu versöhnen. Er wollte als gemachter Mann nach Chiusi zurückkehren. Mit einem guten Job, mit viel Geld und mit einer Frau, die alle kannten und mochten. Er wollte genau das sein, was ihm früher niemand zugetraut hat.«
»Waren Sie jemals mit ihm in seiner Wohnung?«
Susanna tippte sich an die Stirn, dann setzte sie sich wieder. »Ich bin doch nicht blöde. Dann hätte er gedacht, er kann mich in die Kiste kriegen.«
»Und das wollten Sie nicht.«
»Natürlich nicht!«
Diese Antwort schien Sören zu gefallen. Endlich kam er auf die Idee, Susanna Larsen nicht nur anzustaunen, sondern ihr mit klugen Fragen zu imponieren. »Haben Sie jemals die beiden Freunde kennengelernt, mit denen Francesco auf Sylt war?«
Susanna runzelte die Stirn. »Er hat mal von zwei Kollegen gesprochen, die ihn bei seiner Arbeit unterstützten. Aber Freunde waren das nicht.«
Erik fand sich damit ab, dass Susanna Larsen entweder nichts wusste oder nichts sagen wollte. Freundlich lächelnd reichte er ihr seine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was uns helfen könnte, rufen Sie mich bitte an.«
Susanna nickte und öffnete den beiden Polizeibeamten die Tür. Sören trat als Erster auf den Flur und ging schon die Treppe hinab, als Erik plötzlich stehen blieb. »Was ist das?«
Aus dem Nachbarzimmer drang laut und vernehmlich das Lied vom Jäger aus Kurpfalz, der die Gewohnheit hatte, das Wild daherzuschießen.
Susanna grinste. »Einer unserer Praktikanten singt auch im Inselchor. Er übt mit seiner Freundin fürs Wettsingen.«
»Der junge Silbereisen?«, fragte Erik, der eine geradezu neurotische Angst vor Vornamen entwickelt hatte.
Susanna zuckte mit den Schultern. »Wie der mit Nachnamen heißt, weiß ich nicht. Wir reden uns hier alle mit Vornamen an. Ausgenommen natürlich die Ingwersens.«
»Dann ist Ihnen der Name Silbereisen kein Begriff?«
»Ich kenne nur Florian Silbereisen.«
»Den meine ich!«, sagte Erik erfreut. »Und … wie finden Sie den? Ist das ein netter Typ?«
Susanna zog die Mundwinkel herab. »Mein Fall ist er nicht. Aber so was ist ja Geschmackssache.«
Carlotta ließ sich vom letzten Licht des Tages nach Wenningstedt begleiten. Der Wind hatte zugenommen, aber trotzdem war sie überraschend schnell vorangekommen. Wahrscheinlich deshalb, weil sie keinen einzigen Gedanken an den Gegenwind verschwendet hatte und an die Kraft, die sie seinetwegen aufbringen musste. Sie war vollauf mit dem Schicksal der armen Vera beschäftigt, die von ihrem Mann betrogen wurde, und zwar mit der hübschen jungen Kellnerin, die ihrem Chef den Kopf verdreht hatte. Und zwischendurch dachte sie an ihren Schwiegersohn, der etwas ausplauderte, worüber sie selbst strengstes Stillschweigen bewahren sollte. »Incredibile!«
Derart brodelte es in ihr, dass sie wusste, sie würde keine Ruhe ertragen. Im Haus am Süder Wung war es auch still, wenn Felix seine Musik so laut drehte, dass die Wände vibrierten, wenn Carolin sang und Erik seine Pfeife ausklopfte. Stille hatte für Mamma Carlotta nichts mit Lautlosigkeit zu tun, sondern mit fehlender Kommunikation. Und diese Art von Stille hielt sie nicht lange aus. Was für ein Glück, dass es einen Ort gab, wo ein Mann am Zapfhahn stand, dem nichts anderes übrig blieb, als ihr zuzuhören, und ein anderer über seinem Jever hockte und dankbar war für jeden, der das Wort an ihn richtete, und für alles, was er zu hören bekam.
Dass sie Carolin ganz und gar vergessen hatte, fiel Mamma Carlotta erst ein, als sie vor Käptens Kajüte vom Fahrrad stieg. Sie wollte doch eigentlich in der Muschel II nach ihr sehen! Aber nach Keitum zurückradeln? Fünf Kilometer? Nein, daran war nicht zu denken. Auch nicht bei Rückenwind! Und was sollte sie Carolin erklären, die ihr vermutlich auf der Braderuper Straße entgegenkommen würde? Die Kontrolle pubertierender Kinder hielt Mamma Carlotta zwar für unerlässlich, aber natürlich musste sie unauffällig vor sich gehen. Sonst erreichte man das genaue Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.
Seufzend stieß sie die Tür zur Imbiss-Stube auf und stellte erfreut fest, dass Tove Griess gelangweilt neben seinen Bratwürsten stand und dafür sorgte, dass sie nicht verkohlten, und Fietje Tiensch so tief in sein Jever starrte, dass außer seiner Bommelmütze nicht viel von ihm zu sehen war. Natürlich änderte sich alles durch Carlottas Erscheinen. Tove waren die Bratwürste prompt egal, und Fietje hob den Kopf, schob die Mütze in den Nacken und grinste vergnügt.
»Buongiorno!«, rief Carlotta.
»Moin, Signora!« Tove Griess war nicht weniger erfreut, wenn sich das bei ihm auch anders äußerte. Er holte einfach ohne viele Worte die Rotweinflasche hervor und kredenzte seinem Stammgast den Wein aus Montepulciano mit den Worten: »Geht aufs Haus!« Dass er mit dieser schlichten Geste geradezu unbändige Freude an den Tag legte, wusste Mamma Carlotta inzwischen genau. Entsprechend zufrieden schob sie sich auf einen Barhocker, rutschte eine Weile hin und her, stellte die bequemen Sneaker fest auf die Fußleiste und legte die Unterarme auf die Theke.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Tove überflüssigerweise.
»Sì!« Mamma Carlotta nahm einen Schluck Rotwein, dann erfuhr Tove alles, was sie wusste und was bisher ein Geheimnis gewesen war. Vorsichtshalber schloss sie dennoch mit der Ermahnung: »Aber zu keinem ein Wort!«, doch im Grunde fühlte sie sich berechtigt, einem armen Mann, dem Geld abgepresst worden war, zu verraten, dass es damit ein Ende hatte. Was Susanna Larsen erfahren durfte, konnte auch Tove Griess ruhig wissen!
»Der Kerl ist wirklich tot?« Darauf brauchte Tove erst mal einen Genever. »Aber wieso stand nichts davon in der Zeitung?«
»Weil die Sylter Bevölkerung nicht beunruhigt werden soll«, gab Carlotta zurück. »Sie haben doch selbst erlebt, wie das ist, wenn man plötzlich der Mafia gegenübersteht. Ein Kerl wie Sie hätte doch unter anderen Umständen niemals gezahlt!«
Das konnte Tove nur bestätigen. »Aber allein gegen die Mafia? So dumm ist doch keiner!« Tove hatte sich also klug und umsichtig verhalten, als er auf die Erpressungen eingegangen war. Dieser Satz, den Mamma Carlotta ihm vorsprach, gefiel ihm außerordentlich. »Nun ist der ganze Spuk vorbei.«Carlotta wurde unterbrochen, als ein Gast eintrat, der nach einer Currywurst verlangte. Tove suchte unter seinen Bratwürsten ein Exemplar heraus, das sich unter viel roter Soße noch ganz manierlich ausnehmen würde, und im Nu war der Kunde abgefertigt. Danach hatte Toves Erleichterung derart überhandgenommen, dass er einen weiteren Genever brauchte, um sie hinunterzuspülen. Sogar Fietje bekam einen neben sein Jever gestellt, der Beweis, dass Tove geradezu strahlender Laune war. »Und es ist ganz sicher, dass der Kerl mit der Mafia nichts zu tun hatte?«, fragte er vorsichtshalber noch einmal.
Mamma Carlotta dachte an den Pakt, den sie mit dem Meer geschlossen hatte, und nickte. »Ganz sicher!«
»Ich muss also nicht befürchten, dass in Kürze die nächsten Mafiosi vor meiner Theke stehen und die Hand aufhalten?«
»No! Müssen Sie nicht.«
»Und wer hat dem Kerl den Schädel eingeschlagen?«
Mamma Carlotta musste zugeben, dass ihr Schwiegersohn in diesem Punkt noch nicht weitergekommen war.
Das beunruhigte Tove. »Wahrscheinlich sucht er den Mörder unter denen, die von dem Schwein erpresst worden sind!«
Dazu konnte Mamma Carlotta nichts sagen. Aber als sie die Sorge in Toves Gesicht sah, versprach sie hoch und heilig, niemand werde von ihr erfahren, dass Tove Griess zu den Opfern zählte. »Ich schwöre.«
»Unsereins gerät ja immer schneller in Verdacht als andere«, brummte Tove und goss Mamma Carlotta ein weiteres Glas Rotwein ein, das aufs Haus ging.
Fietje rückte näher heran und bekam einen zweiten Genever, der ebenfalls aufs Haus ging. Zum Glück verlief das Abendgeschäft in Käptens Kajüte schleppend, einige der wenigen Kunden, die Tove beehren wollten, überlegten es sich anders, als sie sein schrumpliges Bratwurstangebot ins Auge gefasst hatten. Mamma Carlotta konnte also ungestört erzählen. Von dem Bettler, der Jahr für Jahr in ihr Dorf gekommen war, bis er in der Nähe von Perugia in einem dicken Mercedes gesehen wurde. Und von der Witwe des Lehrers, die sich post mortem für jeden Seitensprung ihres Mannes gerächt hatte, indem sie ihn ohne sein bestes Stück beerdigen ließ. »Dem Arzt aus dem Nachbardorf war angeblich nicht aufgefallen, dass sein Skalpell gestohlen worden war. Und der Bestatter wollte auch nichts bemerkt haben. Aber das hat ihm keiner geglaubt. Schließlich stand auch die Frau des Bestatters in dem Verdacht, mit dem Lehrer was gehabt zu haben. Ein … wie nennt man das hier?«
»Techtelmechtel«, schlug Tove vor.
»Genau! Das war’s!« Dann kam Carlotta auf Vera Ingwersen zu sprechen und erzählte Tove und Fietje, was sie beobachtet hatte. »Ihr Mann hat anscheinend was mit seiner Kellnerin. Die arme Vera! So eine patente Person!«
Es war Fietjes erster Gesprächsbeitrag an diesem Abend: »Die habe ich schon oft herumschleichen sehen. Allmählich müsste sie wissen, ob an ihrem Verdacht was dran ist.«
Mamma Carlotta war in ihrem Element. »Vielleicht gehen die beiden sehr raffiniert vor! Es reicht schließlich nicht, dass Vera einen Verdacht hat. Sie braucht Beweise!«
»Möglich aber auch, dass sie keine Beweise findet, weil es keine gibt.«
Carlotta sah Fietje enttäuscht an. »Sie meinen, Arne Ingwersen hat gar kein Techtelmechtel mit Susanna Larsen?«
Solche Aussagen waren Fietje viel zu konkret. »Ich weiß nur, dass diese hübsche Kellnerin was im Schilde führt.« Und dann ergänzte er in Mamma Carlottas verblüfftes Gesicht: »Und dass die was mit dem toten Mann zu tun hat, den ich an der Buhne 16 gefunden habe, das weiß ich auch.«
Erik und Sören fuhren gemächlich aus Keitum heraus. Die Dunkelheit hatte sich verdichtet, aber zur Finsternis war sie noch nicht geworden. Die Überreste des Tages hingen noch am Himmel, zusammengeballte Wolken zogen daran vorbei und rissen sie mit.
Bevor er den Wagen startete, hatte Erik die Handynummer gewählt, die Susanna ihm aufgeschrieben hatte, aber niemand hatte am anderen Ende abgenommen, und auch die Mailbox war nicht angesprungen. Erik hatte nichts anderes erwartet. Francescos Handy lag entweder wohlverwahrt in einer Schublade des Täters, auf der Müllkippe oder auf dem Grund der Nordsee.
»Sie hat merkwürdig kühl auf den Mord reagiert, finden Sie nicht auch?«, fragte er.
Wie erwartet wollte Sören nichts auf eine Frau kommen lassen, die aussah wie Angelina Jolie. »Sie war nicht verliebt in ihn, sie wollte ihn nicht heiraten!«
»Aber sie kannten sich seit vielen Jahren. Seit ihrer Kindheit! Sie haben gemeinsam ihre Ferien verlebt! Und Francesco war für Susanna Larsen die erste Liebe!«
»Das ist doch alles schon lange her.«
»Wir sollten sie dennoch im Auge behalten.«
»Nichts lieber als das.«
Erik runzelte ärgerlich die Stirn. »Damit will ich sagen, dass sie in die Sache verwickelt sein könnte.«
»Sie hat doch gar kein Motiv! Und haben Sie mal auf ihre Füße gesehen? Höchstens Schuhgröße neununddreißig!« Er lachte. »Ich habe gemerkt, dass Sie neuerdings allen Leuten, mit denen wir es zu tun haben, auf die Füße sehen.«
»Es könnte sein, dass sie mehr weiß, als sie zugibt. Vielleicht war ihr Verhältnis zu Francesco auch ganz anders, als sie sagt. Vielleicht war sie doch seine Geliebte und wollte ihn tatsächlich heiraten. Aber jetzt, nach seinem Tod, hat sie Angst bekommen.«
»Wovor?«
»Davor, dass wir während der Ermittlungen was rausbekommen, was auch ihr gefährlich werden kann.«
»Sie glauben allen Ernstes, sie hat mit Francesco gemeinsame Sache gemacht?«
»Ausschließen kann man es nicht. Wissen Sie noch, wie sie plötzlich in der Muschel I auftauchte? Kurz nachdem wir Utta Ingwersen gefunden hatten?«
»Zufall!«
»Kann sein. Oder aber auch nicht.« Erik winkte ab, ehe Sören weitere Gründe fand, die für Susanna Larsens Unschuld sprachen. »Ich will damit auch nur sagen, dass der Mord nicht unbedingt etwas damit zu tun haben muss, dass Francesco den Mafioso spielte. Vielleicht steckt was ganz anderes dahinter. Ein Motiv, das wir hier auf Sylt finden.«
»Und was ist mit den Geldeintreibern? Warum sind die abgehauen? Und warum haben die alles mitgenommen und versucht, keinerlei Spuren zu hinterlassen?«
»Weil sie Henner Jesse und Utta Ingwersen auf dem Gewissen haben. Und weil sie Angst haben, dass wir ihnen während der Ermittlungen zu Francescos Tod auf die Spur kommen.«
Sören zeigte nach rechts. »Setzen Sie mich zu Hause ab?«
Erik bog in den Ring ein, der sich der Braderuper Straße anschloss. An der Außenseite standen bescheidene Einfamilienhäuser, die abbezahlt wurden, indem die Besitzer an Feriengäste vermieteten. In der Mitte des Karrees gab es einige Mehrfamilienhäuser. In einem davon wohnte Sören.
Nachdenklich setzte Erik wenig später seinen Weg allein fort. Sören hatte recht. Tatsächlich blickte er, seit der große Schuhabdruck gefunden worden war, allen Menschen auf die Füße. Auch denen, die in keinerlei Tatverdacht standen. Bei einem Besuch in der Muschel I in Westerland hatte er sogar Harm Ingwersens Füße betrachtet. Er trug höchstens Schuhgröße fünfundvierzig.
Sie hatten den Restaurantbesitzer aufgesucht, bevor sie nach Keitum fuhren. Bei all dem Schrecklichen, was diesem Mann widerfahren war, sollte er wenigstens so schnell wie möglich erfahren, dass er sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte.
»Es wird Ihnen niemand mehr mit Schutzgelderpressungen kommen. Und Sie brauchen auch keine Gewalt mehr zu fürchten«, hatte Erik erklärt.
»Was sagen Sie? Der Kerl hatte mit der Mafia gar nichts zu tun?«
»Er hat das Wort Mafia nur benutzt, um seinen Opfern Angst zu machen.«
Sie hatten in einem Büro hinter der Theke gesessen, vor der Tür summten die Gespräche der Restaurantbesucher, unterbrochen von leisem Klirren und den klaren Stimmen des Bedienungspersonals.
Harm Ingwersen war sich durch die Haare gefahren. »Ich bin also auf einen kleinen Ganoven reingefallen?«
Erik hätte am liebsten nach seinem Arm gegriffen, um ihn zu trösten. »Die Gefahr war genauso groß, als hätte die echte Mafia dahintergesteckt«, hatte er betont. »Sonst würde Ihre Frau noch leben. Machen Sie sich also keine Vorwürfe. Sie haben sehr mutig gehandelt, und Ihr Mut wird nicht geringer dadurch, dass ein kleiner Ganove den Mafioso nur spielen wollte. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir tut, dass Sie für Ihren Mut so hart bestraft wurden.«
Erik war versucht, weiter geradeaus zu fahren, aufs Meer zu, um eine halbe Stunde am Strand zu verbringen. Nicht um über den Fall nachzudenken, sondern um sich in Ruhe zu überlegen, wie er mit Carolin umgehen sollte, wenn sie nach Hause kam. Dass Susanna Larsen den Praktikanten augenscheinlich nicht mochte, erfüllte ihn mit zusätzlicher Sorge. Er sei nicht ihr Fall, hatte sie gesagt. Schlimm genug, dass er beim ersten Freund seiner Tochter alles falsch gemacht hatte. Es wäre für ihn leichter zu ertragen gewesen, wenn man ihm versichert hätte, dass dieser junge Mann ein netter Kerl sei, bei dem Carolin gut aufgehoben war. Durch den Irrtum mit dem Vornamen hatte er jeglichen Einfluss auf seine Tochter verloren. Sie entzog sich und war abends lieber bei diesem Florian … oder Michael … oder wie er nun hieß. Erik wäre es lieber gewesen, die beiden hätten den Abend am Süder Wung verbracht, am großen Tisch in der Küche, wo es duftete, dampfte und schmurgelte – zumindest, wenn Mamma Carlotta im Hause war.
Der Gesang der beiden hatte ihn begleitet, während Sören und er die Treppe zum Gastraum der Muschel II hinabgestiegen waren. Unten hatte Erik zwei Füße stehen sehen, die in zwei schwarzen Lederschuhen steckten, höchstens Größe vierundvierzig, eher dreiundvierzig. Feucht waren sie und wiesen schmutzige Ränder auf. Sie wollten nicht recht zu dem makellosen schwarzen Anzug Arne Ingwersens passen.
Er hatte Susanna Larsen streng angesehen. »Es wird Zeit!«
Susanna hatte sich an ihm vorbeigedrängt und war in den Gastraum geeilt, ohne ein Wort zu sagen.
»Es war meine Schuld«, hatte Erik erklärt. »Ich hatte einige Fragen an Ihre Kellnerin, die wirklich wichtig waren.«
Diese Auskunft schien Arne Ingwersen nicht zu versöhnen, er sah noch immer sehr ärgerlich aus. »Gibt’s was Neues?«, hatte er gefragt. »Wissen Sie nun, wer meine Mutter auf dem Gewissen hat?«
Erik hatte weder nicken noch den Kopf schütteln wollen, so zuckte er nur mit den Schultern. »Es fehlen uns noch die Beweise«, sagte er und sah sich um. Dann entschied er, dass es an dieser Stelle zu viele Zuhörer geben konnte. »Können wir kurz in Ihr Büro gehen?«
Es war Arne Ingwersen anzusehen, dass er den Hauptkommissar lieber verabschiedet hätte, aber er nickte und ging ihm voran auf die Bürotür zu. Sören verkrümelte sich in den Gastraum, wo er sicher noch den einen oder andern Blick auf Susanna Larsen erhaschen konnte.
Arne Ingwersen ließ Erik in sein Büro eintreten, schloss die Tür, machte aber keinen Schritt in den Raum hinein, sondern blieb, mit der Türklinke in der Hand, stehen. Es lag ihm anscheinend daran, die Unterredung so kurz wie möglich zu halten.
Erik hatte Verständnis für ihn. Der Mann stand unter Druck, das sah man auf den ersten Blick. Kein Wunder nach der Ermordung seiner Mutter und den Erpressungen der Mafia, die gar keine gewesen waren. Zumindest diese Sorge wollte er Arne Ingwersen nehmen. »Mit den Besuchen des Schutzgelderpressers brauchen Sie nicht mehr zu rechnen«, sagte er. »Die beiden Geldeintreiber werden auch nicht mehr bei Ihnen erscheinen.«
Nun wurde Arne Ingwersens Blick unsicher. Er machte einen Schritt ins Zimmer hinein. »Mein Vater …«, begann er, brach dann aber hilflos ab und starrte auf seine schmutzigen Schuhe.
»Ja, er tut mir auch sehr leid«, bestätigte Erik. »Sein Mut hat sich nicht ausgezahlt. Wenn er auf die Erpressungen eingegangen wäre, dann würde Ihre Mutter noch leben. Er konnte nicht ahnen, dass der Spuk so schnell und ganz von selbst vorbei sein würde.«
»Wie mag er sich fühlen?«, stieß Arne Ingwersen hervor.
»Sie wissen, dass Ihr Vater ein starker Mann ist«, entgegnete Erik. »Er erträgt diese Niederlage genauso tapfer wie den Tod Ihrer Mutter und seine Schuldgefühle.«
Es hatte Erik gerührt, als er beobachtete, wie die Augen Arne Ingwersens sich mit Tränen füllten. Er gehörte zu den wenigen Männern, die nichts von ihrer Attraktivität verloren, wenn sie Schwäche zeigten oder gar weinten.
»Das hat mein Vater wirklich nicht verdient«, hatte Arne Ingwersen geflüstert.
Erik hatte ein paar Augenblicke gewartet. Doch Arne Ingwersen verlor kein einziges Wort über seine Mutter. Sein Bedauern richtete sich ausschließlich auf seinen Vater. Kein Wort davon, dass dessen Zivilcourage seine Mutter das Leben gekostet hatte. Kein Wort davon, dass sie mit ihrem Leben für etwas zahlen musste, von dem sie nichts geahnt hatte.
Nach dem Gespräch hatte Erik beobachtet, wie er zu einem Tisch ging, wo er von Gästen erwartet wurde, die ihm anscheinend ein Kompliment für die gute Weinauswahl machen wollten. Arne Ingwersens Haltung war aufrecht, wenn auch ein wenig steif, er lächelte zuvorkommend, wenn auch ohne Herzlichkeit. Er tat, was sein Vater von ihm erwartete, aber er würde trotzdem niemals so werden wie sein Vater. Nicht so mutig, nicht so souverän. Eigentlich war er zu bedauern. Er würde wohl niemals sein eigenes Leben führen, sondern immer nur versuchen, wie sein Vater zu werden, und nie mit sich zufrieden sein können.
Erik sah sich noch einmal um, ehe er zusammen mit Sören die Muschel II verließ. Hoffentlich würde Vera am Abend noch ins Restaurant kommen und ihren Mann auf seine schmutzigen Schuhe aufmerksam machen.
Felix sprang seiner Großmutter entgegen. »Endlich, Nonna! Wo warst du so lange?«
»Das weißt du doch, Felice! Bei der Chorprobe!«
»Diese blöde Singerei! Caro ist auch noch nicht da.«
Erik jedoch schlenderte bereits in der Küche zwischen Kühlschrank und Herd herum, öffnete mal diese Dose, schaute mal unter jenen Deckel und schien sich ernsthaft zu überlegen, ob er sich selbst ums Abendessen kümmern musste.
Carlotta riss sich die Jacke herunter, warf sie über einen Garderobenhaken und fiel mit einem Schwall von Worten in die Küche ein, damit Erik keine Zeit hatte, sie zu fragen, wo sie so lange gewesen war. Wenn sie darauf achtete, dass er nichts von ihrer Rotweinfahne bemerkte, würde sie ihn nicht belügen müssen.
Vorsichtshalber redete sie lang und breit davon, dass die Proben immer länger dauerten, je näher der Wettbewerb rückte, bewunderte die tapfere Vera, die trotz des tragischen Trauerfalls in der Familie mit den Proben weitermachte, warf ein, dass Carolin noch mit ihrem Ragazzo zusammen sei, und zog, während sie redete, Felix’ Hose in die Höhe und drehte den Schirm seines Käppis nach vorne. Dass er seine Kleidung augenblicklich wieder in den Zustand versetzte, den er selbst für cool hielt, nahm sie nicht zur Kenntnis, denn im nächsten Augenblick steckte sie schon den Kopf in den Kühlschrank und suchte den Ricotta und die Eier für die Frittata alla menta heraus. Während Mamma Carlotta ein paar Pfefferminzblätter zerpflückte, erzählte sie, dass auch Giovanna beim Wettsingen mitmachen würde, und merkte, dass es ihr gelungen war, Erik auf andere Gedanken zu bringen. Sie würde nicht zugeben müssen, dass sie die Chorprobe in Käptens Kajüte beschlossen hatte.
»Giovanna kommt übrigens schon morgen früh«, warf Erik ein. »Sie hat vor ein paar Minuten angerufen. Aus dem Nachtzug nach München. Von dort hilft ihr Enzo Meurer weiter.«
Mamma Carlotta verrührte die Eier mit dem Ricotta, dass es nur so spritzte. »Sie hat noch Kontakt zu ihm?«
»Anscheinend.« Erik fand diese Tatsache nicht halb so aufregend wie seine Schwiegermutter. Gemächlich stand er auf und holte seine Pfeife, ohne auf die Empörung seines Sohnes zu achten, der sich neuerdings mit seiner Schwester solidarisch erklärte und zum radikalen Nikotingegner geworden war. Erik war sehr dankbar, dass Mamma Carlotta in diesem Punkt weitaus toleranter war als seine Kinder. »Jedenfalls will er dafür sorgen, dass einer seiner Bekannten Giovanna mitnimmt nach Sylt. Mit einem Privatflugzeug.«
»Privatflugzeug!« Das war eins dieser Wörter, die Mamma Carlotta zum Schweigen brachten. Jedenfalls für kurze Zeit.
Lange genug immerhin, dass Erik weiterreden konnte, ohne unterbrochen zu werden. »Sie wird anrufen, wenn sie gelandet ist. Und ich werde sie dann vom Flughafen abholen. Ich habe auch schon im Strandhotel angerufen, damit sie gleich nach ihrer Ankunft ihr Zimmer beziehen kann.«
Carlotta warf den Schneebesen zur Seite. »Giovanna soll in ein Hotel ziehen?«
Erik ließ erstaunt die Pfeife sinken. »Sie muss natürlich nicht selbst bezahlen. Sie wird dort auf Staatskosten wohnen.«
Mamma Carlotta setzte sich zu Erik an den Tisch, obwohl Felix sein Bestes tat, sie mit flehenden Gesten wieder an den Herd zu locken. »Giovanna ist ein Familienmitglied!«
»Ein entferntes«, korrigierte Erik. »Noch dazu lediglich angeheiratet«, ergänzte er, weil er in den letzten Tagen, immer dann, wenn von Francesco die Rede gewesen war, immer wieder gehört hatte, wie gut es sei, dass in seinen Adern nicht das gleiche Blut fließe wie in Carlottas.
Aber diesmal schien das anders zu sein. »Sie wird selbstverständlich hier im Haus wohnen.«
»Aber wir haben kein freies Zimmer für sie.«
»Wozu steht in meinem Zimmer ein Sofa? Dort werde ich schlafen, und Giovanna bekommt mein Bett. Kopfkissen, Bettdecke und frische Bettwäsche werdet ihr ja wohl haben, oder?«
Mamma Carlotta machte Anstalten, auf der Stelle sämtliche Vorbereitungen zu treffen, die für das Erscheinen des Gastes notwendig waren, wurde aber von Felix daran gehindert. »Erst das Omelette, Nonna, bitte!«
»D’accordo!« Mamma Carlotta würzte das Ricotta-Ei-Gemisch mit Salz und Pfeffer, gab die Pfefferminzblättchen hinzu und goss einen Teil davon in die Pfanne, in der sie gleichzeitig das Olivenöl erhitzt hatte. Als die Masse am Rand zu stocken begann, holte sie einen großen Teller und legte ihn auf die Pfanne. Erik und Felix wandten sich ängstlich ab und drehten sich erst wieder um, als zufriedenes Gemurmel darauf hoffen ließ, dass sowohl das Omelette als auch Mamma Carlotta das Wenden ohne Schaden überstanden hatten.
Erik und Felix machten sich gerade über das Pfefferminzomelette her, als das Telefon klingelte. Die Antwort auf Felix’ Frage, warum eine Tante, von der er noch nie etwas gehört hatte, einen Besuch bei ihnen machte, verschob Erik auf später, weil er feststellte, dass der Anruf, den seine Schwiegermutter soeben entgegennahm, von Adriano Girotti aus Neapel kam.
Carolin kam nach Hause, während Mamma Carlotta die Grüße ihrer Cousine entgegennahm und sich erzählen ließ, dass der Hochzeitstag des Mafia-Spezialisten ein voller Erfolg gewesen sei, da Federica ihm und seiner Frau höchstpersönlich eine köstliche Mattonella di castagne zum Dessert bereitet habe.
»Ihr habt schon mit dem Essen angefangen?«, fragte Carolin enttäuscht.
Erik ließ sofort die Gabel sinken. »Wir konnten ja nicht wissen, wann du kommst.« Diplomatisch fügte er an: »Und ob du überhaupt mit uns essen willst.«
Er beobachtete seine Tochter, wie sie zum Herd ging und aus der verbliebenen Ricotta-Eier-Mischung ein weiteres Omelette zubereitete. Anscheinend wollte sie noch immer kein Wort mit ihm reden.
»Willst du nicht warten, bis die Nonna zu Ende telefoniert hat?«, fragte er vorsichtig. »Das Omelette muss gleich gewendet werden. Das ist eine schwierige Sache.«
Carolin stieß einen Laut aus, der sowohl Zustimmung als auch Verachtung ausdrücken konnte, aber immerhin hatte sie auf die Worte ihres Vaters reagiert. In Erik erwachte die Hoffnung, dass sie bald wieder in verständlichen Worten und ganzen Sätzen mit ihm reden würde.
Da er nicht davon ausgehen konnte, dass Mamma Carlotta sich kurz fassen würde, nutzte er diese Gelegenheit, seinen Kindern mitzuteilen, dass ein entfernter Verwandter auf Sylt zu Tode gekommen sei. Sie mussten es endlich erfahren, spätestens jetzt, wo Giovannas Besuch ins Haus stand. Und da es nicht mehr nötig war, von einem Mafioso zu reden, würden die Kinder diese Nachricht gefasst aufnehmen.
Zufrieden stellte er fest, dass er für diese Sensation die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Tochter erhielt. Wenn Felix seinen Vater nicht gleich mit Fragen bestürmt hätte, wäre Erik vielleicht sogar in den Genuss einer Anmerkung Carolins gekommen. Aber er war schon zufrieden, dass sie ihn anblickte und er in diesem Moment sogar wichtiger war als das Pfefferminzomelette, das leise zischend an seine Anwesenheit erinnerte.
Ohne auch nur ein Wort über die Mafia zu verlieren, berichtete Erik von dem dritten Toten und stellte dann fest, dass Carolin das Wenden des Omelettes genauso gut gelang wie ihrer Großmutter. Als sie sich an den Tisch setzte und zu ihrer Gabel griff, war der Blick, mit dem sie ihren Vater bedachte, sogar beinahe so freundlich, als hätte es nie einen Florian oder Michael oder eine Familie Silbereisen gegeben. Und dann – Erik konnte sein Glück nicht fassen – richtete sie tatsächlich das Wort an ihn. »Wie schrecklich! Schon wieder ein Raubmord! Und das Opfer ist sogar ein Verwandter?«
Die Freude machte Erik gesprächig. Und während Mamma Carlotta ihr Telefonat mit dem italienischen Commissario führte, erfuhren Felix und Carolin alles über Francesco, was ihre kindlichen Seelen verkraften konnten, und auch, warum Giovanna eigens aus Chiusi anreiste.
»Sie muss ihn identifizieren?« Dass Felix’ Seele sämtliche Neuigkeiten ohne jeden Schaden überstanden hatte, war so gut wie sicher. »Kann ich mitkommen? Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Henner Jesse lebte ja noch, als wir ihn fanden. Ein Besuch in der Pathologie – das wär’s!«
Erik machte ihm klar, dass Sensationslust in einem so tragischen Fall nicht angebracht sei, und schlug ihm stattdessen vor, Mamma Carlotta nach ihren Erfahrungen in der Pathologie zu fragen. »Dann werdet ihr hören, dass es dort nicht besonders gemütlich ist.«
Erst bei dieser Gelegenheit erfuhren die Kinder, dass ihre Nonna einen Besuch bei Dr. Hillmot hinter sich hatte. Die Empörung war so groß, dass sogar Carolin eine ungewöhnlich temperamentvolle Reaktion an den Tag legte. Sie knallte das Omelette auf ihren Teller, dass es über den Rand rutschte, und die Pfanne auf den Herd zurück, dass Erik um das Ceranfeld fürchtete. Wie zu erwarten fand sie jedoch schnell wieder zu ihrer Ausgeglichenheit zurück. Und während Felix noch über die Gemeinheit schimpfte, ihn an einer so interessanten Unternehmung nicht teilhaben zur lassen, fragte Carolin: »Gibt es einen Grund, warum über diesen dritten Mord niemand etwas weiß? Und warum sogar die Nonna geschwiegen hat? Nicht einmal in der Zeitung hat etwas gestanden.«
So glücklich Erik darüber war, dass seine Tochter das Wort an ihn richtete, so unglücklich war er über ihre Frage. Durfte er von seiner Angst erzählen? Von der Mafia, die für ein paar Tage eine Bedrohung gewesen war? Eigentlich gab es sie jetzt nicht mehr, diese Bedrohung, also hätte er ruhig darüber sprechen können, aber tief in ihm steckte noch immer die kleine Sorge, dass das Ganze vielleicht doch noch nicht ausgestanden sei. Vermutlich brauchte er noch ein paar Tage, um daran glauben zu können, dass auf Sylt alles so bleiben würde, wie es war. Möglich auch, dass er sein Vertrauen in dem Moment zurückgewinnen würde, wenn der Mord an Francesco aufgeklärt war.
Zum Glück beendete Mamma Carlotta soeben ihr Telefongespräch. Und während sie über Adriano Girottis Hochzeitstag berichtete, der von Federicas vorzüglichem Kastaniendessert gekrönt worden war, nahm sie gleichzeitig die Warnung in Eriks Blick wahr: Kein Wort von der Mafia! Und sie schaffte es, während sie darüber redete, dass der Commissario in zwanzig Ehejahren keinen einzigen Hochzeitstag vergessen hatte, Erik auf gleiche Weise zu beruhigen: ›Keine Sorge, dieses Wort wird nicht über meine Lippen kommen.‹
»Stell dir vor, Enrico, diese beiden Kerle sind verhaftet worden! Diese … diese …«
Ehe ihr das verräterische Wort »Geldeintreiber« über die Lippen kommen konnte, ergänzte Erik: »Giulio Alviso und Lorenzo Follini.«
»Esatto! Aber sie haben leider noch nicht gestanden.« Carlotta lächelte in die staunenden Gesichter ihrer Enkelkinder. »Euer Vater hat mich gebeten, als … come si dice?«
»Dolmetscherin.«
»Sì, als Dolmetscherin zu arbeiten! Ist das nicht toll?«
Erik sorgte dafür, dass Carlottas strahlender Stolz nicht von den Fakten wegführte, die ihn sehr interessierten. »Was hat Girotti noch gesagt?«
Prompt setzte Mamma Carlotta die Miene auf, von der sie glaubte, dass sie zu einer staatlich vereidigten Dolmetscherin passte. »Im Fall Henner Jesse kommen sie weiter, sagt Girotti. Zunächst haben die beiden Kerle alles abgestritten, aber nun fangen sie an, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Der eine will den armen Gastwirt nur gestoßen haben und behauptet, der andere hätte zugeschlagen. Der andere aber sagt, es wäre genau umgekehrt gewesen. Girotti meint, wenn sie die beiden noch eine Weile verhören, wissen sie, wer von den beiden für Jesses Tod verantwortlich ist.«
»Und was ist mit Utta Ingwersen? Und mit Francesco?«
»Damit wollen sie nichts zu tun haben.«
»Kein Wunder«, brummte Erik. »Das waren eiskalt geplante Morde. Bei Henner Jesse geht es vielleicht nur um schwere Körperverletzung mit Todesfolge.«
»Girotti hält es für möglich, dass die beiden wirklich nichts damit zu tun haben. Er sagt, er hätte so ein Gefühl. Und sein Gefühl täuscht ihn nur selten.«
»Er meint den Fall Francesco Corrado«, sagte Erik und nickte. »Im Fall Utta Ingwersen ist alles so eindeutig wie bei Jesse. Geklärt werden muss nur, wer von den beiden zugeschlagen hat.«
Mamma Carlotta genoss es, dass die Kinder ihr mit offenem Mund zuhörten. »Außerdem haben die beiden ausgesagt, dass Francesco zwei, drei Stunden vor seinem Tod eine SMS bekommen hat.« Stolz lächelte sie erst Carolin und Felix, dann Erik an. »Ich weiß, was das ist. Das sind kurze Mitteilungen, die ins Handy getippt werden.«
»Bravo!«, sagte Erik, der die Mitteilungsfreude seiner Schwiegermutter erhalten wollte.
»Aber angeblich hatten die beiden keine Ahnung, was in der SMS stand«, fuhr Mamma Carlotta fort, »und von wem sie gekommen war. Sie gingen davon aus, dass Francesco sich mit einer Frau treffen wollte.« Sie wandte sich an Erik. »Hast du schon in Francescos Handy nachgeguckt?«
»Das ist verschwunden«, gab Erik zurück. Dann stellte sich heraus, dass ihm und seiner Schwiegermutter gleichzeitig derselbe Gedanke gekommen war. Mamma Carlotta war es, die ihn aussprach: »Susala?«
Erik warf Carolin einen Blick zu, die aber nicht auf diesen Namen reagierte. Zum Glück! Anscheinend hatte sie den Kosenamen Susanna Larsens noch nie gehört.
Ausgiebig strich er sich seinen Schnauzer glatt, dann schüttelte er den Kopf. »Die Spuren, die wir gefunden haben, passen nicht zu ihr. Der Täter hat sehr große Füße.«
Im Haus war alles still. Erik war früh zu Bett gegangen, das Licht in seinem Schlafzimmer bald gelöscht worden. Auch bei den Kindern war schnell Ruhe eingekehrt. Mamma Carlotta saß auf der Bettkante und lauschte. Mindestens zehn Minuten, das hatte sie sich vorgenommen! Wenn danach kein Laut mehr aus einem der Zimmer drang, konnte sie es wagen.
Als die zehn Minuten verstrichen waren, schlüpfte sie in ihre dicke Jacke, zog den Reißverschluss bis zum Kinn und sah an sich hinab. War sie richtig gekleidet für eine Herbstnacht auf Sylt? Für den Wind, die Kälte und die Dunkelheit? Sie lächelte, als sie daran dachte, wie abenteuerlich es sich angefühlt hatte, zum ersten Mal eine Hose anzuziehen. In ihrem Dorf trug keine der zahllosen Witwen jemals etwas anderes als ein dunkles Kleid und dazu im Winter, der einem kühlen Sommertag auf Sylt ähnelte, eine schwarze Strickjacke. Doch zum Glück hatte Carlotta eine modisch bewanderte Schwägerin, die sogar schon bis zum Gardasee gekommen war. Der war es zu verdanken gewesen, dass Mamma Carlotta das Wagnis eingegangen war, eine praktische Hose zu kaufen, mit der man am Meer nicht fror und Fahrrad fahren konnte, ohne auf einen flatternden Rock aufpassen zu müssen.
Mamma Carlotta schlich die Treppe hinab. Zehn Minuten später überquerte sie mit dem Fahrrad die Westerlandstraße und wunderte sich darüber, wie viele Touristen nach Mitternacht noch unterwegs waren. Im Hochkamp jedoch herrschte Stille. Hinter den meisten Fenstern war es dunkel, nur ein paar Straßenlaternen sorgten für ausreichend Helligkeit auf dem Weg. Der Wind raste ihr nun entgegen. Eiskalt war er und so heftig, als wäre er vom hellen Tag gemäßigt worden und machte jetzt, da es dunkel war, was er wollte. Carlotta musste ihre ganze Kraft aufbieten, um vorwärtszukommen. Sie dachte sogar daran, vom Rad abzusteigen und es den Rest des Weges zu schieben. Aber als Käptens Kajüte in Sicht kam, entschloss sie sich, auch die letzten Meter per Fahrrad zurückzulegen.
Die Imbiss-Stube lag im Dunkeln, in ihrer Umgebung war alles ruhig. Mamma Carlotta sicherte nach allen Seiten, während sie ihr Fahrrad um das kleine Gebäude herumschob. Es vor der Tür stehen zu lassen, erschien ihr zu gefährlich. Niemand durfte den Verdacht bekommen, dass jemand in Käptens Kajüte eindrang, der sich Hoffnungen auf die alkoholischen Vorräte oder gar die Tageskasse machte.
Sie lehnte das Fahrrad an die Hauswand, direkt neben das Küchenfester. Dann drückte sie mit dem Handballen gegen den Fensterrahmen. Tatsächlich! Das Fenster war nicht verriegelt. Es gab nach und öffnete sich. Carlotta blickte sich nach einem Gegenstand um, der ihr helfen konnte, das Fensterbrett zu erklimmen. Ein paar Meter weiter sah sie leere Getränkekisten stehen. Damit war es kein Problem, auf den Fenstersims zu klettern und in die Küche zu springen. Springen? Nein, sie war eine Mamma von Mitte fünfzig, sie musste sorgfältig mit ihren Gelenken umgehen. Vorsichtig ließ sie sich auf dem Sims nieder und tastete sich dann mit den Fußspitzen zu Boden. Erst, als sie wusste, dass er höchstens noch zehn Zentimeter entfernt war, ließ sie sich fallen. Dass sie dabei an den fettigen Ölkanister stieß, auf dem sie ein paar Stunden vorher noch gehockt hatte, spielte keine Rolle. Sie konnte nun darauf vertrauen, dass sie hier von niemandem gehört wurde.
Vorsichtig tastete sie sich voran. Der Karton mit den Dosensuppen stand noch am selben Platz. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie bald die Sohlen der Turnschuhe, die Fietje für Tove aus einem Papierkorb gefischt hatte. Aus einem Papierkorb auf dem Parkplatz der Buhne 16!
Sie verknotete die Schnürbänder miteinander, damit sie nicht einen der beiden Schuhe unbemerkt verlor. Tove würde sie nicht vermissen. Wahrscheinlich hätte er sie sowieso nicht getragen, weil er alles, was von Fietje kam, verächtlich behandelte. Und ganz sicherlich hätte er sie Mamma Carlotta nicht freiwillig überlassen. Sie hatte den ganzen Abend darüber nachgedacht, ob es nicht das Einfachste war, Tove um diese Schuhe zu bitten, die so wichtig sein konnten für Eriks Ermittlungen. Aber sie hatte diese Möglichkeit bald verworfen. Tove würde nichts tun, um Erik bei seiner Arbeit zu helfen. Im Gegenteil! Er hätte die Schuhe vermutlich auf der Stelle vernichtet, wenn er erfahren hätte, dass er der Polizei damit einen Dienst erweisen konnte. Das wollte sie nicht riskieren.
Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte in die Nacht hinaus. Erst jetzt gestand sie sich den wahren Grund ein, warum sie nicht mit Tove über diese Schuhe reden wollte. Zu groß war ihre Angst vor seiner Antwort. Und auch Fietje wollte sie nicht nach den Schuhen fragen, zu groß war hier ihre Sorge, dass er sie erstaunt ansehen und erklären würde, dass er sie noch nie gesehen hätte. Tove hatte Schuhgröße siebenundvierzig und allen Grund, Francesco zu hassen. War er auch in der Lage, einen Menschen umzubringen? Mamma Carlotta brauchte nicht lange zu überlegen, um dann heimlich zu nicken. Ja, Tove war so ein Mann. Aber er war auch jemand, den sie genauso heimlich ihren Freund nannte. Und einen Freund durfte man nicht verraten.
Genauso wenig aber durfte ein Schuldiger vor seiner gerechten Strafe geschützt werden. Nein, wer Schuld auf sich geladen hatte, musste dafür geradestehen! Auch Tove! Aber wenn er etwas Schreckliches getan hatte, dann war es Eriks Aufgabe, das herauszufinden. Niemand konnte von Mamma Carlotta verlangen, dass sie einen Freund ans Messer lieferte, solange seine Schuld nicht bewiesen war. Sie würde für Gerechtigkeit sorgen, indem sie Erik diese Schuhe brachte. Aber den Fall aufklären musste er allein.
Mamma Carlotta kletterte auf die Fensterbank, was ihr, mit den Turnschuhen unter dem Arm, nicht leichtfiel. Auch diesmal ließ sie sich zunächst auf dem Fenstersims nieder, um sich dann mit den Fußspitzen in Richtung Getränkekisten vorzutasten. Dies war der Moment, in dem sie das Geräusch hörte. Und im selben Augenblick wusste sie, dass sie nicht mehr allein war.
Giovanna Corrado war eine große, kräftige Frau mit einer sportlichen Figur. Sie war ein paar Jahre jünger als Mamma Carlotta – für ihre Kleidung, die Frisur und das Make-up hätte sie allerdings noch weitere zehn Jahre jünger sein müssen. Fast hätte Erik sie übersehen, weil ihr Erscheinungsbild sich in keinem Punkt mit seinen Erinnerungen deckte. Anscheinend hatte er sie mit ihrer Schwester Maria, Francescos Mutter, verwechselt. Aus der war eine graue Maus geworden, nachdem der Vater ihres Sohnes sie verlassen hatte, Giovanna jedoch war alles andere als das. Ihre kinnlangen Haare waren mokkabraun gefärbt und mit rötlichen Strähnchen versehen. An ihren Ohren klimperten riesige goldene Ringe, um den Hals trug sie eine Kette, an der ein hölzerner Elefant baumelte. Ihre Jacke, das T-Shirt und auch ihre Jeans waren mindestens zwei Nummern zu klein.
Erik geriet ins Schwitzen bei der Vorstellung, Giovanna könnte tief Luft holen oder durch kräftiges Ausschreiten die Nähte ihrer Hose strapazieren. Zum Glück waren ihre Stiefeletten mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen dafür denkbar ungeeignet. Als Giovanna ihn begrüßte, kam er sich klein, breit und unscheinbar vor. Da half es nichts, dass sie jauchzte: »Ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich du Enzo Meurer siehst! Er ist auch so ein maskuliner Typ!«
Nun, Erik hatte nichts dagegen, ein maskuliner Typ zu sein, aber mit dem Schlagersänger wollte er auf keinen Fall verglichen werden. Er erinnerte sich, dass er einmal gezwungen worden war, sich einen Fernsehauftritt anzusehen, bei dem Meurer in hautenger Jeans, weißen Lackschuhen und geblümtem Hemd vor der Kamera herumzappelte, während Giovanna mit drei anderen Mädchen im Hintergrund rhythmisch von einem Bein aufs andere gewippt war und in die Hände geklatscht hatte. Nein, mit Enzo Meurer wollte Erik nichts zu tun haben.
Giovanna bewegte sich trotz ihrer schwindelerregenden Stilettos sehr behände auf sein Auto zu, während Erik sich mit ihrem Koffer abplagte. Das Gewicht machte ihm Sorgen. Wie lange gedachte Giovanna eigentlich zu bleiben?
Während er vom Flugplatzgelände rollte, erkundigte er sich höflich nach Enzo Meurer und drückte sein Bedauern darüber aus, dass dessen Karriere so schnell ein Ende gefunden habe. »Er wird wohl wieder als Bademeister am Gardasee arbeiten?«
Aber Giovanna winkte entrüstet ab. »No, no! Enzo nutzt die Kontakte von früher. Er hat eine Künstlervermittlung gegründet und betätigt sich außerdem als Event-Manager.« Nun erfuhr Erik auch, dass Giovanna ihren früheren Geliebten unterstützte, sich um die italienische Filiale von Meurer-Entertainment kümmerte und dabei gut verdiente. »Enzos größter Hit läuft noch heute auf den Volksmusiksendern.«
Giovanna schöpfte tief Luft, was ihr T-Shirt erstaunlicherweise aushielt, spreizte die Arme vom Körper, als wollte sie vom Boden abheben, und dann setzte ihr Sopran ein, der wirklich sehr schön war: kräftig und weich zugleich, volltönend auch in den Höhen, mit einer interessanten Rauheit in der Mittellage. Aber da Erik nicht damit gerechnet hatte, dass Giovanna Corrado singend vor der Pathologie vorfahren wollte, erschrak er zu Tode. Hastig drehte er das Seitenfenster hoch, als Giovanna den Refrain hinausschmetterte: »Deine Liebe ist so süß wie roter Wein, deine Liebe wird immer berauschend für mich sa-ha-hein, ich trinke jeden Tag von diesem Wein und möchte jeden Tag davon betrunken sa-ha-hein.«
Zum Glück war die letzte Strophe gesungen, als Erik in Westerland ankam. Und damit sie sich endlich an den traurigen Anlass ihres Aufenthaltes auf Sylt erinnerte, begann er nun von Francesco zu reden. Von dessen Vater, der ein Mafiaboss gewesen war, und von Francescos Wunsch, so zu sein wie Antonio Capra. »Er wusste von seinem Vater, wie die Mafia vorgeht, und hat versucht, ihn zu imitieren. Die Sylter, die er erpresst hat, sind anscheinend nicht auf die Idee gekommen, dass er gar kein echter Mafioso sein könnte.«
»Der arme Francesco!«, seufzte Giovanna. »Andere Söhne wollen auch so werden wie ihre Väter. Das ist doch ganz normal.«
Erik sah sie verdutzt an. »Aber doch nicht, wenn der Vater ein Mafia-Boss ist.«
»Francesco hat das sicherlich nicht so gemeint.«
Eriks Stimme wurde lauter. »Ein Sylter Gastwirt, der nicht zahlen wollte oder konnte, ist am Strand zusammengeschlagen worden und an seinen schweren Verletzungen gestorben. Und die Frau eines Mannes, der sich nicht von Francesco erpressen lassen wollte, wurde kaltblütig ermordet.«
»Niemals würde Francesco so etwas tun!«, rief Giovanna.
»Er wird es wohl nicht selber getan haben, aber er hat es veranlasst oder zumindest gebilligt.«
»Das kann nicht sein! Er hat am Telefon gesagt, er hätte eine gute Stelle gefunden. Er verdiente viel Geld und wollte seinen Großeltern alles zurückzahlen, was er ihnen genommen hatte. Und er wollte heiraten! Familienvater werden!«
Erik wurde nervös. Er antwortete erst, als er den Wagen geparkt hatte und sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren musste. »Francesco hat in seinem Leben so viel gelogen, warum sollte er diesmal die Wahrheit gesagt haben? Das Einzige, was stimmt, ist, dass er heiraten wollte. Nur … die Frau, die er liebte, hat jeden seiner Anträge abgelehnt.«
»Woher weißt du das?«
Erik verzichtete auf eine Antwort. Er war froh, als er Giovanna in Dr. Hillmots starke Arme schieben und selbst zurückbleiben konnte, weil sein Handy klingelte. Wie verwirrt er war, merkte er, als er das Handy in der Hosentasche suchte, obwohl er es immer in die Innentasche seiner Jacke steckte. Dass Giovanna weiterhin daran glauben wollte, der verlorene Sohn ihrer Schwester sei reuevoll in ein bürgerliches Leben zurückgekehrt, verblüffte ihn nicht weniger, als würde Giovanna in wenigen Minuten die Pathologie verlassen und behaupten, den toten Mann von der Buhne 16 hätte sie noch nie gesehen.
Carlotta stand am Fenster und sah hinaus. Warten war nicht ihre Sache, aber da sämtliche Vorbereitungen getroffen waren, fiel ihr nichts ein, womit sie sich beschäftigen konnte. Der Frühstückstisch war abgeräumt, die Küche in einem sauberen Zustand, Giovannas Bett hatte sie bezogen und im Badezimmer einen Teil des Spiegelschranks für sie ausgeräumt. Ob dieser Platz ausreichte? Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Giovanna sich in dieser Hinsicht deutlich von allen anderen Frauen der Verwandtschaft unterschieden, die mit Wasser und Seife, einem Kamm und ein paar Haarnadeln auskamen. Aber Giovanna war schließlich einmal mit einem Schlagersänger zusammengewesen, mit einem Star. Als seine Backgroundsängerin war sie Teil dieser anderen Welt gewesen, die in Umbrien niemand kannte, und das hatte natürlich Spuren hinterlassen. Mamma Carlotta war Giovanna zwar lange nicht begegnet, aber sie war sicher, dass jemand am Süder Wung auftauchen würde, der in den Schickimickibars von Sylt nicht weiter auffallen würde.
Sie freute sich auf Giovanna. Schon vor ihrem Erscheinen hatte sie für positive Veränderungen gesorgt, das rechnete Carlotta ihr bereits jetzt hoch an. Felix hatte zwar die Augen verdreht, als er hörte, dass Giovanna mal was mit einem »Schlagerfuzzi« gehabt hatte, aber er konnte dennoch nicht verhehlen, dass eine solche Tante interessanter war als eine der vielen anderen des Capella-Clans, die sich mit Häkelarbeiten, Gottesdienstbesuchen und den Angelegenheiten anderer Leute beschäftigten, die sie nichts angingen.
Auch Carolin schien durch Giovannas Besuch wieder zu ihrer Familie zurückzufinden, aus der sie sich in den letzten Tagen auf so besorgniserregende Weise entfernt hatte. Sie erhoffte sich Ratschläge für ihre Gesangskarriere und hatte beim Frühstück davon geredet, dass Giovanna sie womöglich mit wichtigen Leuten aus der Musikbranche bekannt machen könne. Carlotta fürchtete sogar, dass Carolin bereits von einem Plattenvertrag träumte. Diese Tatsache bedrückte sie. Was sie aber glücklich machte, war Carolins Reaktion, als sie vom Tod des entfernten Verwandten erfahren hatte. Sie hatte ihre Nonna tröstend umarmt und ihr zugesichert, in den nächsten Tagen öfter zu Hause zu sein, um ihr beizustehen. »Natürlich nur, soweit die Chorproben es erlauben.«
Dass Mamma Carlotta für diese Einschränkung Verständnis hatte, lag auf der Hand. Schließlich war ihr selbst der Chorwettbewerb sehr wichtig, und auch Giovanna würde großen Wert auf eine intensive Vorbereitung legen. Vorausgesetzt, sie hatte überhaupt Lust, den Inselchor zu unterstützen. Carlotta seufzte. Sie würde einiges mit Giovanna zu bereden haben. Hoffentlich war sie noch immer so loyal und verschwiegen, wie sie sie in Erinnerung hatte. Wenn nicht, würde Carlotta in Schwierigkeiten kommen. Ihr Plan sah vor, dass Giovanna erfuhr, was in der letzten Nacht geschehen war …
Die Angst hatte sie gelähmt, als sie begriff, dass sie hinter Käptens Kajüte nicht allein war. War ihr jemand gefolgt, der sie bedrohen wollte? Oder würde gleich eine Stimme nach der Polizei rufen? Würde jemand sie packen, der sie für eine Diebin hielt, und erst loslassen, wenn Eriks Kollegen mit Handschellen erschienen waren? Eine Erklärung, die einerseits glaubhaft war und andererseits die Ordnungshüter davon überzeugte, dass sie nichts Böses im Schilde führte, würde schwer zu finden sein. Und die Chance, dass Erik nichts davon erfuhr, war gleich null. Was also sollte sie tun?
Vorsichtig ließ sie sich vom Fenstersims gleiten, bis sie die Getränkekiste unter den Füßen spürte. Am liebsten wäre sie Hals über Kopf geflüchtet, aber die Angst hielt sie zurück. Vielleicht war das Geräusch, das sie aufgeschreckt hatte, von einem Tier verursacht worden? Womöglich von einem scharfen Hund! Dann war überstürzte Flucht genau das Falsche. Ihr Instinkt sagte ihr jedoch, dass kein Tier sie belauerte, sondern ein Mensch. Mamma Carlotta starrte in die Ecke des Grundstücks, wo das Geräusch entstanden war. Vollkommene Finsternis herrschte dort, das Mondlicht erreichte diesen Teil des Grundstücks nicht. Alte Fässer standen am Zaun, das wusste sie, und allerlei Gerümpel lag daneben. Es war leicht, sich dort zu verbergen. Ob es Tove selbst war? Hatte er bemerkt, dass jemand in seine Küche eingedrungen war, und wollte den Einbrecher nun stellen? Aber nein, Tove hätte sich längst bemerkbar gemacht. Er musste Mamma Carlotta in dem Quadrat des weißen Fensterrahmens doch erkennen! Und überhaupt – warum sollte Tove nach Mitternacht in seine Imbiss-Stube kommen?
Mamma Carlotta stieg von der Kiste auf die Erde und machte zwei, drei kleine Schritte. Dann blieb sie stehen und lauschte. Noch zwei Schritte, und wieder horchte sie. Diesmal bekamen die Geräusche, die sie selbst verursacht hatte, ein Echo. In der finsteren Ecke fiel etwas Hölzernes um, sanftes Geraschel und knackende Gelenke zeigten, dass sich jemand erhob. Nun gab es nur noch eins: Flucht!
Fest umklammerte sie die Schuhe, mit ein paar großen Schritten hatte sie den Schatten des Hauses verlassen. Jetzt schnell auf die Straße! Dort war es zwar heller, und für jemanden, der eine Waffe dabei hatte, würde sie ein gut beleuchtetes Ziel abgeben, aber gegen alle anderen Gefahren konnte sie sich dort besser zur Wehr setzen. Sie konnte schreiend davonlaufen und hoffen, dass ihr jemand zu Hilfe kam.
Kopflos rannte sie weiter, nur auf ihr Ziel, die breite Straße und die hellen Häuser, konzentriert, nicht mehr auf das, was ihr vor die Füße kam. Und das war leider ein aufgerollter Gartenschlauch, der ihr unter die Sohlen geriet und schlagartig ihre Richtung änderte. Ihre Fußsohlen rollten nach hinten weg, rissen den Rest ihres Körpers mit, und sie landete auf dem Wulst des zusammengerollten Gartenschlauchs. Der federte ihren Sturz immerhin ab, sodass sie gleich wusste, dass sie sich nicht verletzt hatte, aber das beruhigte sie nur wenig. Wirklich erleichtert war sie erst, als eine Stimme sagte: »Was machen Sie denn hier, Signora?«