Kapitel 2

Der Verlust einer flammenden Hoffnung

Während der Bestattung regnete es. Der Garten des Levy-Anwesens, hoch über den Dächern der meisten Wolkenkratzer, war vor Wind geschützt, doch nicht vor dem kühlen Nass, das die frisch aufgeschüttete Erde befeuchtete. Die Bäume auf der grünen Wiese waren kahl. Nur vereinzelte Blätter, die der Winter nicht abgetragen hatte, hingen im knorrigen Geäst.

Im Sommer war die Parkanlage gewiss schön anzusehen, aber selbst zu dieser Jahreszeit machte sie einen zu gepflegten und zu edlen Eindruck, als dass sie das wilde Grün aus Noahs Erinnerungen sein konnte.

Ich stand unter seinem großen Regenschirm und lauschte, wie der Geistliche über das erfüllte Leben und das zu frühe Ableben von Sara Levy sprach, während ich nach und nach Augenkontakt zu den hier Anwesenden aufnahm. Noch loggte ich mich nicht ein. Die Bilder der Gäste, die ich an Julien sendete, reichten vorerst aus, um unsere Datenbank zu erstellen.

Ich war so intensiv damit beschäftigt, mich umzusehen, dass die Worte des Predigers in den Hintergrund meiner Wahrnehmung verschwanden.

Hunderte Menschen hatten sich versammelt, um das Ableben von Noahs Schwester zu betrauern. Sogar Lora Hiland und ihr Partner Cameron waren gekommen. Vermutlich suchten die Ermittler, genau wie ich, nach Hinweisen. Obwohl es verwunderlich war, dass Mr. Levy ihre Anwesenheit hier zuließ.

Von dem, was ich bisher aus Loras ADIC hatte auslesen können, verfolgten die beiden keine bestimmte Spur. Sie stellten also keine Gefahr dar.

»Schon was gefunden?«, fragte Noah in Gedanken. Der Ausdruck, mit dem er die Anwesenden musterte, war so misstrauisch, dass es fast auffiel.

»Ich verschaffe mir erst mal einen Überblick.«

Der Prediger vollführte eine ausladende Geste mit seiner Hand, woraufhin die Anwesenden eine Schneise bildeten. Es war wie ein Meer aus Farbe, das in Bewegung geriet. Die Menschen, die sich um das Grab versammelt hatten, trugen kunterbunte Kleidung und erhellten mit den neonfarbenen Stoffen den dunklen Regentag.

Noahs Eltern traten langsam an das Grab, um die Urne heranzutragen. Jason Levy wirkte, entgegen meiner Erwartungen, ehrlich betrübt. Ich wusste nicht, ob Regentropfen oder Tränen über seine Wangen liefen. Die missgünstigen Worte, die er über Sara gesagt hatte, ließen sich hinter der trauernden Miene auf jeden Fall nicht mehr erahnen.

Andererseits war er ein hochrangiger Industrieller. Er wusste, wie man schauspielerte. Ich übermittelte ihn Julien für die Datenbank und würde sein Gehirn später eingehend prüfen.

Noah zog mich ein Stück nach hinten, um Platz zu machen. Der gelbe Anzug mit den Blumen, den er trug, stand ihm ganz gut.

Ich hoffte, bald ins Haus zu können. Meine Wunden hatte ich zwar überschminkt, allerdings würde das Make-up in der feuchten Winterluft nicht mehr lange halten. Außerdem fröstelte ich unter der Jacke und dem türkisfarbenen Kleid, das ich mir extra für diesen Anlass zugelegt hatte. Ich ging eindeutig zu selten unter Menschen.

»Wird dein Vater auf der Trauerfeier sein?«, fragte ich Noah, als Jason und seine Frau am Grab angekommen waren. »Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.«

»Kann ich einrichten«, erwiderte Noah. Es gelang ihm nicht, seinen Unwillen zu verbergen.

Das Haupthaus des Levy-Anwesens war das größte Gebäude, das ich jemals betreten hatte. Die Wolkenkratzer, die vom Sub- bis ins Upper-Level reichten, waren zwar immens, aber gesplittet in Hunderte und Tausende kleine Wohnungen.

Dieses Haus war anders. Es erinnerte an ein Schloss aus alten Zeiten, mit riesigen Hallen, breiten Treppen, gewaltigen Tischen und etlichen großen Fenstern, die die Sonne über dem Smog hereinließen.

Während wir durch die verschiedenen Räume streiften, in denen sich die Trauergäste sammelten, hielt ich mich an Noah. Trotz des Marmors, von dem die Stimmen all der Menschen widerhallten, war es nicht sonderlich laut. Als verlören sich die Töne irgendwo über uns, zwischen der Galerie und dem verglasten Dach.

Es machte mich ein wenig traurig, dass die Sonne nicht schien, schalt mich jedoch immer wieder für den Gedanken. Ich war wegen anderer Angelegenheiten hier.

»Und wen haben wir hier?«

Es war allerdings mühselig, sich um diese zu kümmern, wenn überall neugierige Verwandte herumlungerten.

»Meine Freundin«, stellte Noah mich vor, und ich schüttelte dem älteren Herrn die Hand, der gemeinsam mit seiner Frau auf uns zugetreten war. Der hellen Hautfarbe nach zu urteilen, waren sie keine Verwandten von Noah; höchstens entfernte. Das gequälte Lächeln auf seinem Gesicht hielt die beiden nicht davon ab, ihn und mich übergenau zu mustern.

»Mein Name ist Atlas«, stellte ich mich wahrheitsgemäß vor. Ich hatte eine große Brille aufgesetzt, um zumindest ein wenig von meinem Aussehen abzulenken. Das verhinderte trotzdem nicht, dass ich hier offiziell unterwegs sein musste. Wenn die Polizei auf der Party herumschnüffelte, würde ich mir mit einer falschen Persönlichkeit nur ein Bein stellen.

»Dass Noah einmal so eine Schönheit aufgabeln würde, kommt überraschend. Er ist sonst eher der Einsiedler«, quietschte die ältere Dame. Sie hatte bestimmt hundert Ringe an ihren schrumpeligen Fingern.

»Ja, wir hatten schon Sorge, dass er nie jemanden findet. Und dann auch noch eine so bezaubernde Latina.« Der Mann grinste mit einem vieldeutigen Ausdruck. Ich verzog den Mund zu einem unangenehm berührten Lächeln und nickte die unangemessene Bemerkung weg.

Bei diesem Bekanntenkreis tat Noah mir tatsächlich leid.

»Atlas, ja?«, murmelte er, als die beiden sich wieder von uns entfernten, und senkte seine Stimme ein Stück weiter: »Ist das dein echter Name, oder hast du den dir ausgedacht?«

»Mein echter.« Zumindest der, der in meinem Pass stand. Ich hatte ihn mir ausgedacht, aber nur, weil ich meinen richtigen Namen – wenn ich denn einen hatte – nicht kannte.

»Machst du dich damit nicht angreifbar?«

Hörte ich da etwa Sorge aus seinen Worten heraus? »Nein. Wenn mich jemand sucht, findet er eine Person mit dem gewöhnlichsten Leben auf diesem Planeten.«

Er lachte. »Gewöhnlich. Kein Lebensziel von mir.«

»Unterschätze den Aufwand nicht. Durch und durch normal zu sein ist verdammt harte Arbeit.«

Ich ignorierte sein belustigtes Kopfschütteln, und wir ließen unsere Blicke wieder zwischen den Trauergästen hin und her schweifen. Die meisten wirkten überraschend ausgelassen. Ich bedeutete Noah, dass wir uns ein wenig bewegen sollten, um zwischen ihnen nicht aufzufallen.

»Niemand hier scheint ernsthaft traurig zu sein«, stellte ich leise fest, als wir uns auf die Bar mit den Getränken und Snacks zuschoben. Das war vermutlich sogar echte Nahrung, keine synthetische. Ob sie anders schmecken würde als das, was ich mein Leben lang zu mir genommen hatte?

»Ja«, bestätigte er meine Einschätzung, obwohl er im Gegensatz zu mir nicht in die Köpfe der Personen schauen konnte.

Meine Befürchtung, von zu vielen Gefühlen der Trauer übermannt zu werden, hatte sich als unbegründet herausgestellt. Keiner litt ernsthaft. Nicht einmal die Frau, die Noah als Saras Lebensgefährtin vorgestellt hatte.

Ich griff nach einem Glas mit goldenem Sekt. Das Getränk war simpel und edel, nicht wie das Zeug in der Bar, das Shanes Kumpel immer servierten. Der erste Schluck prickelte angenehm auf meiner Zunge.

»Erzähl mir was«, forderte ich Noah auf. Es durfte nicht so aussehen, als stünden wir nur herum und beobachteten die Leute. Ich würde ein Stück tiefer in die Köpfe hineinsehen müssen, und dafür brauchte ich Konzentration.

»Was denn?«

»Was du willst. Was über deine Kunst«, überlegte ich und hörte schon im nächsten Moment Juliens Stimme, der sich aus der Ferne einschaltete.

»Lass ihn besser etwas weniger Persönliches erzählen«, riet er mir. »Sonst wächst er dir noch ans Herz.« Himmel, in dieser Beziehung war er wirklich so etwas wie die Manifestation meines Gewissens.

Ich reagierte nicht auf ihn, fokussierte für einen Moment Saras Lebensgefährtin, die Beileidsbekundungen empfing, und loggte mich ein.

»Na ja … Ich mag es, die Welt darzustellen, wie ich sie sehe«, begann Noah, als ich mich durch den Kopf der Frau wühlte, um nach Sara zu suchen. Das erste Treffen auf einer Party, auf der beide nicht hatten sein wollen. Der erste Kuss alkoholtrunken in einem Club. Annie Weskin war eine sanfte Seele, die Saras Engagement für The Cell nicht guthieß und sie trotzdem von ganzem Herzen liebte.

»Ich mag es, mir vorzustellen, dass … Dinge an Bedeutung gewinnen, wenn man sie mit dem Pinsel auf einer Leinwand festhält. Ich mag es, Augenblicke zu konservieren und …«

Ich beobachtete so viele Momente. Liebe, Streit, Verzweiflung, Hingabe. Blumen, Lachen, Tränen. Einen sterilen Saal in einem Krankenhaus. Einen leeren Stuhl an dem Tisch, an dem sie gemeinsam gesessen hatten.

Aber keine Trauer.

Keine Trauer.

»… Ich denke, es ist meine Art, zu sprechen.«

»Aha«, kommentierte ich seine Worte abwesend, nachdem Noah mit seinem Monolog fertig war. Ich würde mir meine Aufzeichnung davon später in Ruhe anhören.

»Was herausgefunden?«

Er war nicht dumm. Es musste ihm klar sein, dass ich in der Lage war, mich in die ADICs der Menschen zu loggen.

»Überraschende … Leere«, antwortete ich leise. Meine Augen blieben an dem Bild hängen, das man zwischen etlichen kunterbunten Blumen aufgestellt hatte. Eine junge Frau mit einem so ausgelassenen Lachen schaute mir von dort aus entgegen, dass es mich fast ansteckte.

Dieses Gesicht. Es war in keiner Erinnerung aufgetaucht, die ich bisher gesehen hatte. Ihre vollen Lippen, ihre dunkle Haut, ihre leichten Kleider, die sie als Kind getragen hatte, und ihre The-Cell-Jumpsuits, als sie älter geworden war – das alles hatte ich gesehen.

Aber niemand hier erinnerte sich an ihr Aussehen. An ihre Stimme. An Worte, die sie gesagt hatte.

Nicht, als hätten die Anwesenden sie vergessen – sondern als hätte sie nie richtig existiert.

»Leere?«, hakte Noah nach, und ich schüttelte den Kopf.

Das, was ich hier sah, bestätigte meine Vermutung. Etwas stimmte nicht, und es lag zumindest nicht an Noah. Nun musste ich nur noch überprüfen, ob es ein Fehler in meinem System war, oder etwas Übergreifendes.

»Ich sollte …« Ich setzte mich in Bewegung und ging langsam durch den Raum, um Ausschau nach der blonden Polizistin zu halten. Wenn irgendjemand Blockaden eingerichtet hatte, würde sie es wissen.

Doch während ich gedanklich begann, den Raum nach Lora abzusuchen, breitete sich ein Tuscheln und Wispern zwischen den Anwesenden aus. Leise zunächst, nur nach und nach lauter werdend. Erschrockene Stimmen drangen an meine Ohren, und ich sah mich nach dem Ursprung des Tumults um, ging in Richtung der Hallenmitte, wo sich einige Trauergäste zusammenscharten. Securitymänner drängten sich bereits zwischen den Anwesenden hindurch.

Ich wollte meine Gedanken aussenden, um durch die Augen derer, die sich näher am Geschehen befanden, zu überprüfen, was dort vor sich ging.

Noch bevor ich jemanden erreicht hatte, blinkte eine Anfrage mit der höchsten Dringlichkeitsstufe auf meiner Kontaktlinse auf.

»Shane«, grüßte ich gedanklich, nachdem ich die Anfrage angenommen hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich ihm gesagt, dass er mich in Ruhe lassen solle, aber das hier war etwas anderes.

»Oracle«, sprach er hastig und übermittelte mir im nächsten Moment einen Ausschnitt aus einer Live-Aufnahme der Rede einiger Wirtschaftsbosse. Mehrere Männer in sauber sitzenden Anzügen standen vor einem langen Tisch, um irgendwelche Daten zu präsentieren.

Dann kippten zeitgleich mindestens zehn von ihnen um. Die Kamera schwenkte auf einen der Kerle, die direkt vor dem Filmenden zu Boden gegangen waren. Blut quoll aus Augen und Mund. Die Züge schreckerfüllt, zuckte er unkontrolliert im Todeskampf. Schon nach wenigen Sekunden war er tot.

»Das kam gerade rein«, kommentierte Shane, als mein Herzschlag sich beschleunigte. Ich spielte die Aufnahme noch einmal ab. »Es wurde wieder ein Hive ausgelöscht. Ist kaum ein paar Minuten her. Es geht durch alle Medien.«

»Scheiße.«

»Die bisher gemeldeten Todesfälle belaufen sich laut Untergrundmedien auf etwa tausendzweihundert Menschen.«

»Was?« Es fiel mir schwer, das Wort nicht laut auszusprechen, so schockiert war ich. Tausendzweihundert Menschen, die in nur wenigen Minuten gemeldet wurden? Das bedeutete, die tatsächliche Zahl der Todesopfer musste weit darüber liegen.

Wie von allein trugen meine Füße mich näher zu dem Tumult in der Halle heran.

»Zurück bitte!«, rief einer der Sicherheitsmänner, während andere die Trauergäste wegdrängten.

»Was ist da los?«, fragte Noah.

Ich wusste es, bevor ich es sah.

Ein Mann lag am Boden. Ich erkannte ihn zwischen einigen Leibern, die schon im nächsten Moment wieder den Blick versperrten. Blut rann ihm aus Nase und Augen. Er bewegte sich nicht mehr.

»Was …?«, hauchte Noah. Ich hielt die Verbindung zu Shane, aber er schwieg. Er beobachtete das, was ich sah.

»Bitte treten Sie zurück!«, bellte der Sicherheitsmann lauter, und Noah packte mich am Arm, zerrte mich von dem Toten fort.

»Komm«, flüsterte er. »Wir verschwinden hier.«

Mir war nicht klar, warum Noah so schnell von hier fortwollte, immerhin konnte er nicht wissen, was geschehen war. Trotzdem zog er mich, meinen Arm fest umklammert, nahezu fluchtartig über die verschlungenen Wege des Anwesens, bis hinein in die Bereiche, in denen wir immer weniger Menschen antrafen.

Wir rannten nahezu, und trotzdem konnte ich mich nicht davon abhalten, die Medien zu durchsuchen, um mir immer weitere Aufnahmen davon anzusehen, wie Menschen spontan ums Leben kamen. Noah drängte mich weiter, als ich das Tempo verlangsamen wollte, also warf ich einen Blick in seinen Kopf.

Ich wusste gar nicht, warum er mich immer wieder überraschte. Natürlich. Hinter seiner Eile steckten keine Vermutung und kein Wissen. Er hatte nur Angst.

»Hey, wir müssen nicht rennen«, beteuerte ich in einer Mischung aus Belustigung und Sorge, als wir um eine Ecke bogen. Als wir allerdings fast in jemanden hineinliefen, erschraken wir beide so sehr, dass wir wie angewurzelt stehen blieben.

»Noah!«, sagte ein älterer Mann, der ebenso überrascht vor uns stand wie wir vor ihm. Helle Haut, dunkelgraues Haar und ein voller, weißer Bart. Das war …

»Mr. Haloren«, erwiderte Noah und bestätigte meine Vermutung. Bennie Haloren. Gründer und Vorstandsvorsitzender von The Cell.

»Bitte«, entgegnete der Mann lächelnd. Er trug im Gegensatz zu den meisten hier einen simplen grauen Anzug mit einem gelben Einstecktuch. Eine Bienenbrosche prangte auf seiner Brust. Das Erkennungsmerkmal der Organisation. »Wir kennen uns. Nenn mich Bennie.«

Dass er hier war, passte zu den Erkenntnissen der letzten Stunden. Sara Levy war offenbar tatsächlich eine seiner prominentesten Anhängerinnen gewesen. Aber wieso schlich er hier, abseits der Feier, durch das Gebäude?

»Eigentlich hatte ich gehofft, deinen Vater sprechen zu können. Er hält sich wohl aus verständlichen Gründen bedeckt.«

»Ja, ich habe ihn auch noch nicht gesprochen«, erklärte Noah.

»Ich habe gerade die Information bekommen, dass die Haupthalle abgesperrt wird«, erklärte der Vorsitzende entspannt. Mit einem Lächeln, als könnte nichts auf der Welt seine gute Laune trüben. »Ich gehe davon aus, dass wir alle sowieso gleich nach Hause geschickt werden. Gehen wir doch zu mir, um uns ein wenig zu unterhalten.« Er nickte mir unbekannterweise zu. »Deine Freundin kann gern mitkommen.«

Ich schickte Noah den gedanklichen Hinweis, dass er das Angebot auf jeden Fall annehmen sollte, also stimmte er zu. Trotz der Skepsis, die ihn offensichtlich befallen hatte.

»Das klingt nach einer guten Idee.«