Kapitel 3

Die Rückkehr einer finsteren Erinnerung

In vielen Bereichen des Sub-Levels war es zu jeder Tageszeit still. Im Gegensatz zu den belebten Straßen der oberen Stadtebenen waren die Menschen, die hier lebten, wie Geister. Ich rief es mir ins Gedächtnis, wenn ich allein durch die finsteren Gassen streifte, die bei Tag nicht mehr Licht erreichte als zu den tiefsten Nachtstunden.

Ich dachte daran, wie ich aus schmutzigen Fenstern geschaut und gewartet hatte, dass die Wege frei wurden, bevor ich mich hinausgewagt hatte. Die Angst, überfallen oder verhaftet zu werden, sobald ich das Haus verließ, war zu einer alten Wahrheit geworden, die ich noch immer fürchtete. Julien und ich hatten unsere Fenster nie geputzt, damit niemand auf die Idee kam, jemand würde in dem winzigen Coffin leben, den wir unser Heim nannten. Die Lampen und Lichter hatten wir gelöscht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ein Leben in Dunkelheit.

Zog ich durch die Gassen, so eng, dass kaum ein Mensch durch sie hindurchpasste, eingepfercht zwischen bröckeligen Mauern und den Straßen der über mir liegenden Ebenen, erinnerte ich mich daran, woher ich stammte. Aus den Gossen. Der untersten Schicht der Städte und der Gesellschaft. Im Gegensatz zu allen Menschen hier hatte ich das Unmögliche geschafft: zu entkommen.

Julien hatte ich mit Noah geschickt, damit er ihn sicher nach Hause eskortieren konnte. Vielleicht hatte ich mich vorher ein wenig zu sehr aufgespielt, mit dem ganzen Gerede darüber, dass wir ihn nicht beschützen würden. Ich hatte nur verhindern wollen, dass er uns ein Klotz am Bein werden würde. Dass er einen solchen Schrecken bekam, hatte ich nicht gewollt. Sogar ich selbst war noch durch den Wind, dabei waren wir längst in Sicherheit.

Ich trat in Shanes Wohnhaus ein, stieg durch die Dunkelheit das nach Fäulnis riechende Treppenhaus hinauf und sendete ihm eine kurze Information, dass ich auf dem Weg war. Er sollte sich nicht erschrecken, wenn ich plötzlich vor seiner Tür stand.

Das Knarzen der schweren Metalltür im sechsten Stock war so laut, dass mir Schweiß auf die Stirn trat. Vielleicht eine Überreaktion, hervorgerufen von Erinnerungen, vielleicht berechtigte Angst. Das Sub-Level war meine Heimat, aber keine, die ich vermisste.

Shanes Wohnung bestand aus zwei winzigen Räumen. Ein Wohn- und Schlafzimmer und eine Küche, in der sich auch das Bad befand. Der Coffin war mir vertraut. Ich war fünf Jahre alt gewesen, als Shanes Tochter und Frau mich bei sich empfangen und ihre Essensrationen mit mir geteilt hatten. Sie waren nach Julien die ersten Personen, an die ich mich erinnerte.

Jetzt schien es leer in der winzigen Wohnung zu sein. Im Gegensatz zu meinen Erinnerungen wirkte sie mit ihren zwei kleinen Zimmern fast zu groß für einen einzigen Menschen. Die Enge, die hier geherrscht hatte, wenn Julien und ich zu Besuch gewesen waren, hatte sich heimisch angefühlt.

Zwei weiße Lichter blinkten in den Ecken der Wohnung und beleuchteten das Chaos. Ich ignorierte die auf dem Boden liegende Kleidung, die das Gehen erschwerte, und steuerte auf das Bett zu, auf dem Shane lag.

Selbst im blassen Licht sah er kreidebleich aus.

»Da bin ich«, murmelte ich. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«

Er antwortete gar nicht, sondern starrte an die fleckige Decke über sich.

»Ich weiß nicht, wie weit ich komme.«

»Ist okay.« Er nuschelte nur.

Ich bereitete mich innerlich darauf vor, in sein Gehirn vorzudringen und für etwas Ordnung zu sorgen, auch wenn ich wusste, dass alles, was ich tun konnte, oberflächlicher Natur war. Die Informationen in seinem ADIC waren teils bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert, Erinnerungen zerbrochen und durch Gedanken ersetzt, die nicht seine waren. Nach dem Tod seiner Tochter und dem Selbstmord seiner Frau vor einigen Jahren hätte er dringend zu einem Mindcenter gehen sollen, um all das Negative, all das Chaos, das sich in seinem Speicher abgesetzt hatte, zu entfernen. Doch er fürchtete sich zu sehr davor, Wichtiges zu verlieren, das er nie wiederbekommen könnte.

Ich loggte mich ein und konzentrierte mich auf meinen Atem.

»Lösch nichts Wichtiges«, murmelte Shane, regte sich aber kein Stück.

Ich wies ihn nicht noch einmal darauf hin, dass er psychologische Hilfe brauchte. Ich wies ihn nicht noch einmal darauf hin, dass er sich bereits vor dem Tod seiner Familie an ein Mindcenter hätte wenden sollen, um das Mindloss-Syndrom zu behandeln, an dem er schon seit seiner Kindheit litt. Ich wies ihn nicht darauf hin, dass er sich mit dem Geld, das er durch mich verdiente, eine andere Wohnung leisten sollte. Weit weg von der Dunkelheit um ihn herum, damit er sich um die in seinem Herzen kümmern konnte.

Ich schwieg und begann mit der Arbeit.