Kapitel 1

Das Beben einer urtümlichen Wut

Das Licht im Verhörraum war gedimmt. Aus den Fußleisten und aus dem oberen Bereich der Wände drang ein bläuliches Schimmern, fast wie von einer Notbeleuchtung. Es gab nichts, an dem ein müder, irrender Blick besonders lange haften konnte. Glatte Wände wie aus Kunststoff stießen Gedanken ab und schickten sie leer zu der Person zurück, die inmitten dieser Tristheit hatte Platz nehmen müssen.

Diese Person war ich.

Und während ich hier saß, vergingen die Stunden …

An diesem Ort war es leicht, jedwedes Zeitgefühl zu verlieren. Hätte ich nicht die Möglichkeit besessen, mich durch meinen ADIC in die Gehirne der Menschen auf dem Revier zu loggen, wüsste ich nicht, ob es mitten in der Nacht oder längst Morgen war. So wie all die anderen, die sie gemeinsam mit mir aus ihren Betten geholt hatten.

Einzig und allein das Überwachen der Polizisten um mich herum hielt mich davon ab, den Verstand zu verlieren. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass viele der Personen, die auf Sara Levys Beerdigung gewesen waren, festgenommen worden waren, um befragt zu werden, hatte ich mich zwar ein wenig entspannt, es war mir jedoch nach wie vor nicht recht, hier zu sein.

Ich wusste, dass die Polizei in der Lage und auch berechtigt war, die ADICs von Personen auszulesen, bei denen sie den Eindruck hatten, dass sie nicht die Wahrheit sagten. Und wenn sie mein Gehirn mit einer Technologie scannten, gegen die ich vielleicht noch nicht geschützt war, müsste ich mir eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen, für das, was sie dort drin finden würden.

Ich hatte Kontakt zu Julien aufgenommen, aber ihm waren die Hände gebunden. Er hätte natürlich mit seinen Waffen das Polizeirevier stürmen und mich in einer waghalsigen Rettungsaktion herausholen können. Das würde allerdings ziemlich viel Aufmerksamkeit erregen.

Etwas mehr, als uns guttun würde, schätzte ich.

Lora Hiland betrat das Gebäude um etwa drei Uhr nachts, und von diesem Moment an beobachtete ich sie durch meine Gedanken Schritt für Schritt. Die Wachen in der verglasten Eingangshalle grüßten sie mit blutunterlaufenen Augen. Sie waren es gewöhnt, dass Lora ab und an um diese Uhrzeit auftauchte. Eigentlich wunderte sich niemand hier darüber.

Nur Lora selbst war genervt. Diese Emotion brodelte so heftig in ihr, dass sie sogar mich etwas wacher machte, als ich mich darauf konzentrierte, ihre Gedankenwelt näher zu erkunden.

Sie war nicht diejenige gewesen, die die Entscheidung getroffen hatte, diese Festnahmen mitten in der Nacht durchzuführen. Das war wieder ihr Partner Cameron gewesen. Und ich teilte ihre Wut über ihn und sich selbst.

Ich kam mir sogar endlos dumm vor. Hatte ich nicht gerade erst darüber nachgedacht, dass ich ihn würde überwachen müssen? Der Kerl musste echt gut sein, wenn es ihm gelang, mir sogar zwei Schritte voraus zu sein.

Aber da war noch etwas anderes. Cameron hatte sich unter den Personen befunden, die ich während der Stunden des Wartens verfolgt und untersucht hatte. Dabei war es mir so vorgekommen, als könnte ich in einen Teil seines Gehirns nicht vordringen. Ich sah seine Gedanken, seine Pläne und seine Gefühle, doch das alles war mir im Vergleich zu anderen Gedankenströmen viel zu oberflächlich erschienen.

Ich hatte diese Beobachtung zunächst meiner Müdigkeit zugeschrieben, aber nun, da ich erneut in Loras Geist herumstöberte, war ich mir sicher, dass die Eigenheiten in Camerons Kopf aus anderer Quelle rühren mussten, denn in ihrem war alles wie immer.

Dieser Sache würde ich nachgehen müssen. Es gab durchaus Personen, deren Art zu denken sich so weit von meiner unterschied, dass es mir schwerer fiel, in ihnen zu lesen. Wenn dies hier der Fall war, würde es mir helfen, dem Mann persönlich gegenüberzustehen, ihm in die Augen zu schauen, um direkteren Zugang zu ihm zu bekommen.

Lora war Cameron von der Hierarchie her überlegen, aber er hatte die jüngsten Entscheidungen scheinbar ohne ihr Wissen gefällt. Dieser Umstand frustrierte Lora mindestens genauso sehr wie mich. Im Gegensatz zu ihr würde ich aber hoffentlich herausfinden, was dahintersteckte.

Was mich zusätzlich beunruhigte, war, dass Cameron im Gegensatz zu Lora einer, zumindest für meine Einschätzung, valideren Spur folgte. Immerhin untersuchte er dieselben Orte wie ich. Das Einzige, was mir zugutekam, war, dass keiner der beiden mich in diesem Untergrundhotel gesehen hatte. Wenn das passiert wäre, müsste Julien mich hier wirklich mit Waffengewalt herausholen.

Ich beobachtete, wie Lora ihre Jacke auf ihren Schreibtisch warf, sich einen Kaffee aus der Küche holte und erst dann bei ihrem Vorgesetzten hereinschaute. Die Predigt, die sie ihm über die Befehlskette halten wollte, wurde von ihm im Keim erstickt. Sie entschuldigte sich kleinlaut bei ihm, obwohl es in ihr brodelte, und verließ sein Büro mit noch mehr Adrenalin in den Adern als zuvor. Es fiel ihr schwer, seine Tür nicht mit voller Wucht zuzuknallen.

Diese Frau wurde mir immer sympathischer.

Mit einem Stapel voller Akten in den Händen machte sie sich wenige Minuten danach auf dem Revier auf den Weg zu den Verhörräumen. Sie warf einen schnellen Blick auf die Akten derer, die noch zu befragen waren. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, als meine diejenige war, die obenauf lag. Einerseits war ich erleichtert, hier nicht mehr herumsitzen zu müssen, andererseits beschleunigte sich mein Herzschlag. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte.

Während Lora durch das Revier stapfte, studierte sie einige Infos über mich. Den falschen Namen, den ich mir als Kind ausgesucht hatte, den gefälschten Geburtsort und den gewöhnlichsten Lebenslauf, den man sich vorstellen könnte. Es freute mich, wie langweilig sie mich als Person fand, das war immerhin das Ziel, nach dem ich stets gestrebt hatte.

Meine pastellpinke Haarfarbe war das Einzige, das ihr in besonderer Weise auffiel, aber das war nichts Schlechtes.

Warum machte ich mir überhaupt solche Sorgen, dass meine Tarnung aufflog? Bisher hatte mein Profil jeder einzelnen Überprüfung standgehalten. Es war so unwahrscheinlich, dass sie mir gerade jetzt auf die Schliche kommen würden.

Andererseits ließ mich dieses unbestimmte Gefühl nicht los, von dem ich nicht wusste, woher es rührte. Das Gefühl, etwas Gewaltiges würde sich über mir zusammenbrauen, um bald über meinem Leben zusammenzubrechen. Und die Frage, warum sie Noah und seine Familie nicht festgenommen hatten, nagte ebenfalls an mir.

Das musste etwas zu bedeuten haben, oder?

In dem Moment, in dem Lora vor dem Raum, in dem ich saß, angekommen war und ihre ID an den Türöffner hielt, lösten sich die Verriegelungen, und das Licht im Raum schaltete sich ein. Grell und viel zu weiß kam es mir vor, sodass ich einige Male blinzeln musste, um meine müden Augen an die Helligkeit zu gewöhnen.

Es war ein eigenartiges Gefühl, Lora das erste Mal von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Ich hatte es schon oft erlebt, dass ich Menschen beobachtet hatte, sie von vorn bis hinten kannte, ihre tiefsten Ängste, ihre düstersten Geheimnisse, ihre Vergangenheit und ihr Leben – doch diese Menschen schauten mich an und kannten nicht mehr als meinen Namen. Manchmal nicht einmal den. Das war jedes Mal aufs Neue irritierend.

Bei ihr war es trotzdem irgendwie anders, denn in ihrem Kopf hatte ich nicht nur nach einer Information gesucht. Ich hatte versucht, sie zu verstehen. Es würde mich einiges an Konzentration kosten, sie das nicht spüren zu lassen.

Die Frau mit dem streng gebundenen blonden Zopf und den tiefen Augenringen wünschte mir einen guten Abend, schloss die Tür hinter sich und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

»Miss Atlas Lawson, richtig?«

Ich nickte bestätigend und bemühte mich, wie ein gewöhnlicher Mensch zu reagieren. »Es war ehrlich gesagt ein ziemlicher Schock, als Ihre Kollegen plötzlich bei mir vor der Tür standen. Ich lag schon im Bett.« Das war etwas, was eine normale Person erwidern würde, oder? »Ich war wirklich froh, dass ich mir richtige Kleidung anziehen konnte, bevor ich hergebracht wurde.«

»Ja, es tut mir leid, dass wir Sie um diese Uhrzeit belästigt haben. Aber der Fall, den wir bearbeiten, lässt leider keine Zeitfenster offen.« Sie glaubte selbst nicht an das, was sie sagte. Sie war genervt davon, um diese Uhrzeit herbeordert worden zu sein. Ich musste nicht einmal ihre Gedanken lesen, um das zu erkennen.

Ihrer Meinung nach waren alle Menschen, die befragt werden sollten, nicht von Relevanz. Das gab mir einen entscheidenden Vorteil.

»Worum geht es denn?« Ich fühlte mich dämlich dabei, so unschuldig zu tun. Selbst ein uninformierter Mensch würde sich denken können, was hier los war. Inzwischen war öffentlich, woran Sara Levy gestorben war, nachdem der nächste Hive-Mord von der Polizei nicht hatte verdeckt werden können. »Hat es mit Sara zu tun?«, fügte ich deswegen an. Ich durfte nicht zu dümmlich wirken. Das würde ebenfalls auffallen.

»Ich darf Ihnen leider keine Details mitteilen. Ich möchte Ihnen lediglich ein paar Fragen stellen. Danach können Sie wieder nach Hause.«

Ich atmete tief ein und aus, presste meine Lippen zusammen und nickte erneut, bemüht um einen beunruhigten Ausdruck auf meinem Gesicht.

Lora blätterte die Akte durch und tat, als wenn sie sie genau studierte. Ich wusste nicht einmal, ob das Schauspielerei war, um Druck aufzubauen, oder ob sie selbst einen Moment brauchte, um sich zu sammeln. »Miss Lawson, wie ich sehe, waren Sie auf der Beerdigung von Sara zugegen. Ist das richtig?«

»Ja.«

»In welcher Beziehung standen Sie zu der Verstorbenen? Kannten Sie sie persönlich?«

»Ich bin die Freundin von Noah Levy, ihrem Bruder«, blieb ich bei der Ausrede, die wir Noahs Verwandten aufgetischt hatten. Das war wohl das Beste, immerhin war das mit ihm abgesprochen. »Wir sind noch nicht lange zusammen, deswegen durfte ich seine Schwester nie persönlich kennenlernen. Seine Kunst hat mich damals einfach verzaubert.« Ich setzte ein möglichst verliebtes Lächeln aufs Gesicht. Das mit seiner Kunst war nicht gelogen.

»Uns ist aufgefallen, dass Sie bisher nie öffentlich mit Noah Levy zu sehen waren. Wir haben Aufnahmen überprüft und festgestellt, dass die Beerdigung der erste Anlass war, auf dem Sie zu zweit zugegen waren. Ist das richtig?«

So genau hatten sie die Anwesenden überprüft?

»Ja. Wir hatten unsere Beziehung bisher privat gehalten. Nicht einmal seine Familie wusste davon.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wir versuchen noch herauszufinden, was genau das zwischen uns ist. Ihn zur Beerdigung seiner Schwester zu begleiten war für mich trotzdem eine Selbstverständlichkeit.« Ich schüttelte ganz sacht den Kopf, als wäre meinen Freund zu einer Beerdigung zu begleiten das Gewöhnlichste auf der Welt. Für die meisten Menschen war es das wohl auch.

Ich erkannte in Loras Gedanken, dass sie diese Ausrede schlüssig fand. Viel mehr noch: Es war ihr scheinbar ein Rätsel, warum man mich und nicht Noah eingeladen hatte.

»Das ist verständlich«, sagte sie ruhig, hob ihren Blick allerdings nicht von der Akte.

War da noch etwas? Ja, irgendetwas an der Fassade des verliebten Dummchens kaufte sie mir nicht ab. Eventuell lag das an den blauen Flecken in meinem Gesicht, die von den noch nicht gänzlich verheilten Wunden sprachen. Oder etwas an ihrem nahezu übernatürlichen Spürsinn, den ich mir nicht erklären konnte.

»Darf ich Sie fragen, wie Sie sich die Wunde an Ihrer Stirn zugezogen haben?«

Scheiße. Es hätte mir klar sein sollen, dass sie danach fragen würde. »Ich, ähm … ich arbeite als Programmiererin bei Hypermind. Vor einigen Tagen bin ich auf dem Weg zur Arbeit in eine Demonstration von The Cell geraten.«

»Wurden Sie angegriffen?«, fragte sie und linste zu mir herauf. Ich hielt nicht viel von den Umweltschützern, weil sie den Behörden nichts als Ärger bereiteten.

Ich hob abwehrend die Hände, schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur in ein Gedränge geraten und hab mir den Kopf am Geländer der Bahnunterführung angestoßen.« Zum Glück war ich eine so verdammt gute Lügnerin, und zum Glück waren diese Verletzungen in den letzten Jahren so alltäglich geworden, dass es kein besonderes Aufsehen mehr erregte.

Sie machte sich einige Notizen. »Haben Sie den Vorfall Ihrem Arzt oder Ihrer Krankenkasse gemeldet?«

Ich schürzte, in einem Versuch, peinlich berührt zu wirken, die Lippen. »Ehrlich gesagt, nein.« Ich kniff die Augen ein wenig zusammen und rieb die Hände aneinander, um Unwohlsein zu simulieren. »Meine Krankenversicherung ist nicht besonders gut, und … ich wollte nicht in den Kosten hochgestuft werden. Da das Hypermind-Viertel die nächsten Tage eh geschlossen bleibt, musste ich mich nicht krankschreiben lassen und …« Ich zuckte mit den Schultern, während ich so unschuldig wie möglich dreinschaute. »Ich dachte, ich übersteh das schon so.«

Sie machte sich weitere Notizen, aber ich las aus ihrem Gehirn, dass sie sogar Mitleid bei meiner Geschichte empfand. Auch die war Alltag für die meisten Menschen in der Mittelschicht.

»Gut«, schloss sie und nickte wie für sich selbst. »Ich habe kein Interesse daran, Sie länger als nötig hierzubehalten. Die Sache ist die: Wir haben die Freigabe, in diesem Fall alle ADICs zu überprüfen, wenn nur die geringste Verbindung zu unserem Fall besteht. Das bedeutet nicht, dass Sie unter Tatverdacht stehen. Je mehr Erinnerungen wir zusammentragen, umso schlüssiger wird das Bild, das sich hoffentlich ergibt. Ich hoffe also, dass Sie einer Untersuchung Ihres ADICs zustimmen.«

Fuck, ich hatte es befürchtet. Ich hatte zwar ein System entwickelt, das verhinderte, dass das Gerät in meinem Kopf von den üblichen Scannern an Bahnhöfen und Flughäfen erkannt wurde, aber ich wusste nicht, ob die Polizei im Geheimen Technologien einsetzte, von denen ich nichts wusste. Die ich noch nicht kannte. Technologien, mit denen sie mich vielleicht enttarnen konnten.

Ich presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn, versuchte, ehrlich bedrückt zu wirken; wie jemand, der aus normalen, menschlichen Gründen nicht wollte, dass jemand in seinem Gehirn herumschnüffelte.

»Kann ich diesem Eingriff widersprechen?« Ich bemühte mich erneut, so unschuldig wie möglich auszusehen.

Dieses Mal zog es bei ihr nicht. »Sie können gern Widerspruch gegen diese Vorgehensweise einlegen. Allerdings werden Sie sich dabei vor einem Gremium rechtfertigen müssen, was Ihre Gründe betrifft.« Lora legte ihre Hände aneinander und schaute mich konzentriert an.

Dass ich, ihren Informationen zufolge, eine Person aus der Mittelschicht war, die sich scheinbar an eine der wohlhabendsten Familien des Planeten herangemacht hatte, schien ihr nicht ganz zu gefallen. Sie würde mich auf keinen Fall ohne eine Überprüfung davonkommen lassen, egal, wie freundlich sie sich gab.

»Ich weiß, dass es ein unangenehmes Gefühl ist, sein Gehirn den Beamten offenzulegen. Ich habe das auch schon durchmachen müssen.«

Das stimmte sogar. Ich hatte in Loras Erinnerungen gesehen, dass ihr Gehirn regelmäßig überprüft wurde. Vor allem, um sicherzustellen, dass sie Stillschweigen über ihre aktuellen Fälle behielt.

»Es passiert relativ häufig, dass befragte Personen Einspruch einlegen. Tatsächlich ist das Prozedere, das darauf folgt, meist aber so anstrengend und nervenaufreibend, dass die Betroffenen einem Prozess selten standhalten. Ich persönlich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich, wenn Sie nicht sehr heikle Information in Ihrem Kopf haben, der Untersuchung stellen. Es dauert nicht lange, und Sie können gleich danach nach Hause. Und wir können uns ein wenig besser mit dem Umfeld vertraut machen, in dem Sara Levy sich aufhielt. Ich kann Ihnen versichern, dass wir extrem vertraulich mit Ihren persönlichen Daten umgehen werden. Natürlich werden wir dazu vorher auch diverse Datenschutzunterlagen mit Ihnen durchgehen und beiderseitig unterzeichnen.«

Ich spürte, wie sich Schweiß auf meiner Stirn bildete. Scheiße, was sollte ich tun? Wenn ich mich länger weigerte, fiele das auf. Es war allgemein bekannt, dass man sich einer polizeilichen Befragung nicht entziehen konnte, außer man war jemand aus einer großen Firma oder von einem privaten Sicherheitsdienst. Solche Menschen waren die Einzigen, die der Auslesung ihres ADIC entgehen konnten.

Mir blieb im Grunde nichts anderes übrig, als einzuwilligen. »Nein, ist … ist in Ordnung.« Reagierte ich über? Vielleicht würden sie überhaupt nichts finden. Vielleicht würden meine Blockaden funktionieren.

Aber ich konnte mir nicht sicher sein!

»Sehr schön«, sagte Lora und klappte ihre Akte demonstrativ zu. Es erfüllte sie mit einem Hauch von Anerkennung, dass ich nicht gesagt hatte, sie sollten lieber Noah überprüfen. Das war die Reaktion gewesen, die sie offenbar von mir erwartet hatte.

Ehrlich froh darüber, nicht weiter mit mir diskutieren zu müssen, schenkte sie mir ein Lächeln. »Warten Sie bitte hier. Ich mache sofort die Unterlagen fertig, und wir bringen alles schnell hinter uns. Dann können wir beide bald wieder ins Bett.«

Lora erhob sich und ging durch den kleinen Raum. In dem Moment, in dem sie allerdings die Tür öffnen wollte, sprang diese von allein auf. Die Verriegelungsmechanismen wurden von außen deaktiviert – und Cameron Pratt trat ein.

Der junge Mann setzte einen überraschten Ausdruck auf seine nahezu marmornen Züge. Bis auf das etwas strubbelige hellbraune Haar wirkte er wie frisch aus dem Ei gepellt. Der Blick seiner klaren, blauen Augen lag so wach und scharf auf mir, dass mich eine Gänsehaut überfuhr.

Und bevor er auch nur ansetzen konnte, zu sprechen, wurde mir etwas klar. Etwas, das mir nicht beim Auslesen seines Gehirns aufgefallen war und auf das ich nie gekommen wäre, weil weder Lora Hiland noch seine Kollegen oder sein Vorgesetzter es wussten: Dieser Mann war ein Android.

Nun, wo er vor mir stand, wo ich all die Blockaden in seinem Gehirn wahrnahm, die ich zwar gesehen, aber anders interpretiert hatte, fragte ich mich, wie mir das nicht sofort hatte klar sein können. Die Struktur seiner Gedanken war anders als die eines normalen Menschen. Geordneter, strukturierter. Gleichzeitig dennoch ein wenig chaotischer als die von Julien.

Er erschien mir wie ein Mischwesen. Die bunten Sommersprossen auf seinem Gesicht fehlten, was es für einen Außenstehenden fast unmöglich zu erkennen machte, dass dieser Mann kein Mensch war.

Und Lora Hiland wusste es nicht.

Sie wusste es nicht. Was war hier los?

»Lora, was machst du denn hier?« Ich dachte, in seinem Gehirn so etwas wie echte Überraschung festzustellen. Dazu waren Androiden eigentlich gar nicht in der Lage.

War er ein neues Modell? Und warum wusste niemand im Revier, was er war? Von wo stammte er?

»Ich führe eine Befragung durch.« Sie machte sich nicht einmal die Mühe, zu verbergen, dass sie nicht gut auf ihn zu sprechen war. »Ich mache gleich die Unterlagen für die Auslesung fertig. Das sollte schnell gehen.« Sie zog die Augenbrauen fordernd hoch, den stillen Vorwurf deutlich in ihren hellen Augen.

Cameron hob die Hände und schüttelte rasch den Kopf. »Nein, nein, alles gut«, entgegnete er. »Miss Lawson wurde bereits überprüft. Wir haben die Daten gesichert und nichts Außergewöhnliches gefunden. Sie kann also wieder nach Hause.« Der junge Mann schaute zum ersten Mal zu mir herüber und schenkte mir ein ehrliches Lächeln.

Was hatte das nun zu bedeuten? Ich war nicht überprüft worden. Oder besaßen sie irgendwelche Mechanismen, einen ADIC auszulesen, ohne dass man es bemerkte? Normalerweise musste man dafür in eine dieser Röhren, in denen man fünf Minuten lang stillstehen musste, während einen die Geräte scannten. In Loras Gehirn hatte ich nichts Gegenteiliges gesehen.

War das eine Verwechslung? Führte dieser Typ irgendetwas im Schilde? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und, scheiße, ich konnte nur rudimentäre Gedankenfetzen aus ihm lesen.

Ich sollte froh darüber sein, hier rauszukommen, aber … Nein, mein Unwohlsein steigerte sich ins Unermessliche, wenn ich diesen Kerl anschaute.

Lora wandte sich wieder zu mir, schüttelte leicht den Kopf. »Sie wurden schon überprüft? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

Ich hatte nicht einmal Zeit zu antworten, da schaltete Cameron sich erneut ein. »Wir haben ja jetzt diese neue Methode. Und es ist spät«, erklärte er für mich. Er musterte mich so eigenartig aus dem Augenwinkel. »Es tut mir wirklich leid wegen der Umstände, die wir Ihnen bereitet haben. Sie können jetzt nach Hause gehen.« Cameron bedeutete mir mit einer ausladenden Geste, ihm zu folgen.

Ich nickte mechanisch. »Ich … ich scheine mir den Kopf wohl doch etwas mehr angestoßen zu haben, als ich dachte«, schloss ich mich Camerons Ausrede mit gerunzelter Stirn an.

Lora schluckte die ganze Sache nicht.

»Ich würde gern die Unterlagen dazu sehen«, meinte sie zu ihrem Kollegen, der sie mit einem Blick bedachte, der ganz eindeutig »Jetzt mach doch vor der Fremden keinen Stress« signalisierte.

»Die liegen abgeheftet auf meinem Schreibtisch.«

Lora sah ihn noch eine ganze Weile lang wütend an, dann stürmte sie an ihm vorbei, hinaus aus dem Verhörraum.

Cameron lächelte mir entschuldigend zu und bedeutete mir, dass ich ihm folgen sollte. »Kommen Sie. Ich hole Ihre Jacke.«

Cameron hatte sich sicherlich hundertmal dafür entschuldigt, dass sie mich so spät geweckt und danach so lange festgehalten hatten. Es war bereits nach vier Uhr nachts, als ich endlich wieder in der Eingangshalle des Polizeigebäudes angekommen war und mich fragte, was gerade passiert war.

Während der Android mich persönlich durch einen Teil des Reviers begleitet hatte, hatte ich fast damit gerechnet, dass er etwas sagen würde, etwas tun würde, das mir einen Hinweis darauf gab, warum er mir so spontan zur Rettung geeilt war.

Aber er hatte sich bis zu unserer Verabschiedung am Lift komplett bedeckt gehalten, und obwohl mich das in Sicherheit wiegen sollte und ich wohl am einfachsten darauf schließen sollte, dass es sich bei dieser ganzen Sache nur um eine Verwechslung gehandelt hatte, gab mir das alles nur ein noch schlechteres Gefühl.

Ich musste diesen Auftrag abbrechen und die Stadt verlassen. Das Land vielleicht, am besten.

Ich war so darauf fokussiert gewesen, hinter die Mysterien zu kommen, die sich im Revier abgespielt hatten, dass ich erst damit konfrontiert wurde, was davor lag, als ich in die verglaste Vorhalle getreten war und den Lärm wahrnahm, der sie erfüllte.

Dutzende schwer bewaffneter Polizisten sammelten sich hier, die Gesichter dem Eingang zugewandt. Und davor: The Cell. Die Aktivisten demonstrierten direkt vor dem Polizeirevier Washington.

Mitten in der Nacht.

Ich presste die Jacke enger an meinen Oberkörper und trat weiter in die Mitte des nur spärlich beleuchteten Raumes. Cameron hätte mich ruhig darauf hinweisen können, dass da draußen die Hölle tobte.

Die Demonstranten unterschieden sich auf den ersten Blick nicht von anderen. Die Uhrzeit und der Ort machten mich allerdings stutzig, also suchte ich in ihren Gehirnen nach Hinweisen, was dieser Aufmarsch zu bedeuten hatte.

Die Wut und Gewaltbereitschaft, die ich vorfand, jagten mir einen eisigen Schauer über den ganzen Körper. Das war mehr als eine bloße Demonstration. Die Mitglieder schienen das Ziel zu haben, in das Revier einzudringen, das zu dieser Zeit nicht voll besetzt war.

»Sie wollen sicher zur Bahn, junge Frau?« Einer der Polizisten wandte sich zu mir um und schaute dann demonstrativ zu den Menschen in ihren gelben Anzügen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

Ich blinzelte einige Male perplex und neigte meinen Kopf leicht. »Bedeutet das, ich muss hierbleiben?« Ich hatte keine Lust, mich noch länger hier aufzuhalten. Es musste doch so etwas wie einen Notausgang geben. »Ich würde gern nach Hause.«

Der Beamte in seiner schwarzen Schutzkleidung zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die Befugnis, Sie hier festzuhalten, Miss. Ich kann Ihnen nur davon abraten, dort hinauszugehen. Wie Sie vielleicht in den letzten Tagen mitbekommen haben, sind die Mitglieder von The Cell auf Krawall gebürstet. Einige von ihnen sind bewaffnet, und sie blockieren sämtliche Eingänge. Wir versuchen, sie zurückzudrängen, aber …« Er sprach nicht weiter, weil ihm vermutlich aufging, dass er nicht verpflichtet war, mir alles zu erklären.

Ich war nicht traurig darüber, immerhin konnte ich in seinen Gedanken die Fortsetzung des Satzes lesen.

Dieser Angriff hatte erst vor weniger als dreißig Minuten gestartet, was erklärte, warum ich nichts von ihm mitbekommen hatte. Das Revier war heillos unterbesetzt. Die Special Forces mussten sich erst einfinden, und bis sie vollständig waren, würde es der Einschätzung meines Gegenübers nach wohl bis zum Morgengrauen dauern.

Ich kratzte das letzte bisschen Konzentration zusammen und ging meine Optionen durch. Verdammt, es gab einfach zu viele Probleme zu lösen.

Ich hatte Julien zuvor angewiesen, in der Wohnung zu bleiben, um kein zusätzliches Aufsehen durch sein Herkommen zu erzeugen. Jetzt wünschte ich mir, er wäre hier. Ich könnte ihn kontaktieren, damit er mich sicher durch die Menge eskortierte. Andererseits war ich froh, dass ich ungeschoren aus der Befragung gekommen war, und wenn Cameron oder Lora auf den Überwachungsbändern sahen, dass ein ehemaliger Kampfandroid eine gewöhnliche Programmiererin begleitete, könnte das ihr Interesse wieder entfachen.

Ich konnte natürlich warten, bis sich die Situation entschärft hatte. Mir von irgendwoher einen Kaffee besorgen.

Oder – und das war auch nicht zu vernachlässigen – ich könnte versuchen, mich durch einen der Hintereingänge hinausschleusen zu lassen. Die Gewalt von The Cell richtete sich nur gegen Industrieriesen und staatliche Institutionen wie Polizei und Sicherheitsdienste. Mich als Privatperson sollten sie eigentlich in Ruhe lassen.

Ich scannte weitere Gehirne, um meine Einschätzung der Situation zu verbessern, während ich mich bei dem Beamten bedankte.

Die Aktivisten waren einem Aufruf der Untergrundmedien gefolgt, der erst vor einigen Stunden von einem gesicherten Netzwerk aus versendet worden war. Ich konnte nicht nachvollziehen, von wem der ursprüngliche Appell zu dieser Aktion gekommen war. Ich war sicher, dass die Festnahme der Gäste und die Demonstration in keinem Zusammenhang standen, aber ein eigenartiges Gefühl gab mir das Aufeinandertreffen dieser Ereignisse trotzdem. Hatte die Polizei jemanden verhaftet, der mit drinhing? Ließ jemand seine Macht spielen, um vom Fall abzulenken?

Scheiße, ich wurde paranoid. Vermutlich waren die Menschen, die vor den verstärkten Glastüren standen und ihre Parolen brüllten, nur extremistische Vollidioten, die nichts Besseres zu tun hatten.

Unentschlossen, was zu tun war, und nach wie vor mitten im Raum stehend, nahm ich schließlich Kontakt zu Julien auf, übermittelte ihm die Bilder meiner Befragung und gewährte ihm Einblick in die Situation. Fast konnte ich hören, was er mir gleich empfehlen würde. Keine Risiken eingehen. Auf Nummer sicher gehen. »Wird wohl ’ne Weile dauern«, kommentierte ich also resigniert.

»Soll ich kommen?«, fragte er über unsere gedankliche Verbindung, doch ich schüttelte den Kopf. Vermutlich würde er sich eh nicht durch die Menge kämpfen können, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

»Ich werde mir die Zeit damit vertreiben, hier herumzusitzen und herauszufinden, worum es bei dieser Aktion überhaupt geht«, beschloss ich für mich selbst.

Juliens Alarmglocken schallten. Er machte sich Sorgen. Nach einem kurzen Seufzen bestätigte er dennoch meinen Wunsch und sagte: »Dann bleibe ich in Bereitschaft. Bist du sicher, dass ich nicht zumindest in deine Nähe kommen soll?«

Ich trat einen Schritt weiter an die Glastür heran und fuhr mir überlegend mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin unsicher. Wir sollten es vermeiden, Aufsehen zu erregen. Die Polizei muss nicht unbedingt wissen, was für ein Modell du bist. Halten wir uns bedeckt. Wenn die Luft rein ist, komme ich nach Hause.«

»Geht klar, Boss. Ich bleibe trotzdem in Bereitschaft.«

Ich lächelte über seinen winzigen Akt der Rebellion und beendete die Verbindung. Meine Gedanken glitten weiter zu den Personen, die sich um das Gebäude herum angesammelt hatten. Ihre Anzahl war unübersichtlich geworden. Ich konnte nicht einmal vermuten, wie viele sich auf dem Platz vor uns befanden.

Hier drin waren wir der Einschätzung der Einsatzkräfte nach sicher. Das Glas hielt wohl auch schweren Geschützen stand.

Trotzdem machten mich die Gesichter, die Gedanken und das leuchtende Gelb der Jumpsuits nervös. Es war in den letzten Tagen zu einem noch größeren Symbol des Terrors herangewachsen als in all den letzten Jahren.

Ich war so vertieft in Gedanken, dass ich erst nach einigen Sekunden bemerkte, dass die Schreie langsam lauter wurden. Das Chaos geriet außer Kontrolle. Wie auf Kommando begannen die Demonstranten, sich an die Türen und Fenster des Reviers zu drücken, als könnte es ihnen mit bloßer Körperkraft gelingen, das Panzerglas zu zerbrechen.

»Miss, bitte treten Sie zurück, und begeben Sie sich sofort in einen der anliegenden Wartebereiche!«, befahl der Polizist, mit dem ich vorhin gesprochen hatte, und nahm sein Maschinengewehr in Anschlag.

Ich folgte seinen Anweisungen, ohne weiter darüber nachzudenken, wirbelte herum und hechtete zur Tür.

Ein so heftiger Knall donnerte hinter mir, dass er mir bis in die Knochen fuhr, gefolgt von einem Zischen, das ich nicht einordnen konnte. Die Polizisten schrien Befehle in verschiedenen Sprachen. Der Lärm der Demonstration war auf einen Schlag lauter geworden.

Als ich mich herumdrehte, um zu erkennen, was geschehen war, sah ich Glas splittern. Die Außentür war durch irgendetwas Gewaltiges zerstört worden, das einige der Demonstranten in Mitleidenschaft gezogen hatte. Blut klebte an der Scheibe, einige Männer und Frauen gingen zu Boden, doch andere stiegen ohne Rücksicht über sie hinweg, um sich einen Weg ins Gebäude zu bahnen.

Die Polizisten bildeten einen Schutzwall um den zerstörten Eingang herum, richteten ihre Gewehre auf die Menschen und eröffneten das Feuer.

Das Geräusch der durch den Raum donnernden Kugeln riss mich aus meiner Starre, und ich setzte mich wieder in Bewegung, musste mich irgendwie in einen der anliegenden Räume retten. Die Mitglieder von The Cell hatten die Polizisten am Eingang bereits überwältigt, überrannt – vermutlich mit ihren eigenen Waffen. Es waren einfach zu viele!

Ich war fast bei einer der Türen angelangt, da erklang ein Schrei, übertönte alle anderen. Tief, markerschütternd und so grell, dass er sich in meinen Geist zu fressen schien: »In Deckung!«

Ich war nicht schnell genug. Ich hörte das Grollen der Explosion, bevor mich die brennend heiße Druckwelle erfasste und mich gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte. Halb im Delirium wollte ich mich sofort wieder aufrichten, obwohl ich etwas Warmes, wahrscheinlich Blut, an meinem Kopf spürte und ein stechender Schmerz in meinen Rippen brannte.

Ich sah nichts als Schwärze, blinzelte mehrere Male, versuchte verzweifelt, mich wieder auf die Beine zu stemmen. Die Schreie um mich herum waren entweder verstummt, oder das Piepen in meinen Ohren war so laut, dass es sie übertönte.

Ich setzte einen Hilferuf an Julien ab, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor.