Besser leben mit Philosophie. Was verbirgt sich hinter diesem bemerkenswert unbescheidenen Versprechen? Nun, zunächst einmal die Idee, dass es in irgendeinem Sinne besser ist, sich mit philosophischen Themen zu beschäftigen bzw. sich philosophisch mit bestimmten Themen zu beschäftigen, als dies nicht zu tun. Die Philosophie kann bedeutsam für die persönliche Lebensführung sein, ja sie kann das Leben besser machen. Allerdings gilt es zu bedenken, dass das Wörtchen „besser“ hier nicht – gemäß den Imperativen unserer Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft – mit „effizienter“, also „höher, schneller, weiter, mehr“ zu übersetzen ist. Auch macht das Philosophieren das Leben nicht unbedingt „besser“ im Sinne von „leichter“, „unkomplizierter“ oder „sorgloser“. Auf welche Weisen philosophische Überlegungen die Lebensgestaltung positiv beeinflussen können, wie sie also das Leben besser machen, soll in diesem Buch anhand von zehn Beispielen aus 2500 Jahren Philosophiegeschichte gezeigt werden. Als zentrale Themen der Lebensverbesserung kristallisieren sich dabei heraus: die Arbeit an der Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstoptimierung, Reflexion, Selbstsorge, bewusste Lebensführung, Eigensinn sowie das Eröffnen neuer Perspektiven und Denkwege.
Der Philosoph Alain de Botton, der in London eine School of Life eröffnet hat, findet, dass das Universitätsstudium heutzutage viel zu wenig darauf ausgerichtet ist, „den Studenten irgendwelche emotionalen oder ethischen Fertigkeiten fürs Leben zu vermitteln“. Die akademische Beschäftigung mit philosophischen (und anderen) Werken ist in aller Regel nicht auf deren Lebensbedeutsamkeit hin ausgerichtet. Die Auseinandersetzung mit dringlichen existenziellen Fragen, auf die die klassischen Werke der Philosophie, Literatur und Kunst womöglich eine Antwort geben, gehört nicht zum Lehrplan. Demgegenüber würden Universitäten, wie Botton sie sich wünscht, zwar aus demselben reichhaltigen kulturellen Angebot schöpfen wie traditionelle, würden aber „ihre Aufmerksamkeit dabei darauf richten, wie sie die Studenten lehren zu leben“. Im Rahmen eines solchen Studiums würden philosophische Texte und Theorien daraufhin untersucht, was sie zu drängenden Fragen der Lebensführung zu sagen haben. Das Philosophieren würde als unmittelbar lebensgestaltende, nicht als rein intellektuelle Tätigkeit betrachtet. So wie es auch in diesem Buch getan wird.
Dass die Philosophie aufs Engste mit der Lebensführung und -gestaltung verknüpft ist, ist nun alles andere als eine neue Idee. So war z. B. Epikur der Ansicht: „Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn weder ist jemand zu jung noch zu reif, um sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern.“ Die Philosophie soll demnach das geeignete Mittel sein, um seelische Gesundheit zu erhalten oder zu erlangen. Philosophie als Therapeutikum – inspiriert von dieser Vorstellung ist in dem vorliegenden Buch die Rede von philosophischen Heilmitteln oder besser: philosophischen „Heilmitteln“, denn die Analogie zwischen medizinischen und philosophischen Therapeutika hat ihre Grenzen. So wird eine Heilung im Sinne einer Beseitigung der Ursachen eines Leidens in den Texten, die im Folgenden vorgestellt werden, in der Regel nicht anvisiert. Eine solche Heilung ist auch gar nicht möglich, wenn es z. B. um ein Leiden geht, das mit den Bedingungen unserer Existenz verbunden ist. In solchen Fällen kann es „nur“ um einen veränderten Umgang mit Gegebenheiten gehen, die selbst nicht verändert werden können. Das legt nun einen Vergleich mit palliativ-medizinischen Behandlungen nahe, aber auch dieser ist irreführend, denn die philosophischen „Therapeutika“ sind durchaus nicht immer beruhigend, tröstend oder schmerzlindernd. Außerdem verlangen philosophische „Heilmittel“ im Unterschied zu medizinischen Therapeutika die (denkende) Mitarbeit des Patienten an seiner Therapie. Mit einem passiven Auf-sich-wirken-Lassen ist es hier nicht getan. Schließlich muss man sich vor Augen führen, dass die Rede von der Heilung auf ein Kranksein verweist. Aber die Erfahrungen, um die es im Folgenden gehen wird, sind nicht samt und sonders als pathologisch zu betrachten. So ist beispielsweise die bisweilen schmerzhafte Beschäftigung mit Themen wie Sterblichkeit oder Sinnlosigkeit eher existenziell als krankhaft zu nennen. Aus den genannten Gründen wird in diesem Buch der Begriff „Heilmittel“ durchgehend mit Anführungszeichen versehen.
Im Folgenden werden neun Philosophen und eine Philosophin vorgestellt, die Leidenserfahrungen oder existenziellen Herausforderungen mit den Mitteln des Denkens begegnen: Antiphon bietet philosophische Lebensberatung bei Sorgen und Kummer. Sokrates lehrt die Kunst des philosophischen Sterbens – und Lebens. Boethius zeigt, wie die Philosophie einem dabei helfen kann, (nicht nur) in Extremsituationen den Verstand zu behalten. Mit Hilfe von John Lockes Methode zur Korrektur des Gaumens soll man sich von schlechten Angewohnheiten und schädlichen Vorlieben verabschieden können. Immanuel Kant appelliert an die vernünftige Hoffnung darauf, dass die Welt nicht so ungerecht ist, wie sie uns zuweilen erscheint. Friedrich Nietzsche schwört auf eine philosophische Rosskur bei Sinnverlust und Orientierungslosigkeit – wenn man denn über die nötige Unerschrockenheit verfügt. Jean-Paul Sartre erklärt, wie man der Hölle entkommt, die die Anderen sind. Simone de Beauvoir weist den Weg aus den Zwängen der Geschlechterideologie. Peter Bieri lehrt das Handwerk der Freiheit und erläutert, wie man zu mehr Selbstbestimmung gelangt. Peter Sloterdijk verordnet ein philosophisches Fitness-Training für den Allkampf des (Über-)Lebens.
Dieses Buch wurde weder als Lehrbuch noch als Überblicksdarstellung konzipiert. Es wird daher auch nicht der Anspruch erhoben, sämtliche Philosophen und Philosophinnen zu berücksichtigen, die Beiträge zum Thema der philosophischen Lebensverbesserung geleistet haben. Vielmehr handelt es sich um eine Auswahl von Texten, die wesentlich durch die persönlichen Interessen der Autorin beeinflusst ist. Dem einen oder der anderen mögen die einzelnen Kapitel als Einführungen in die betreffenden Schriften dienen. Vielleicht besteht auch ein gewisser Unterhaltungswert. Die eigentliche Intention des Buches aber ist es, den vorgestellten philosophischen „Heilmitteln“ die Möglichkeit zu geben, wirksam zu werden – sofern sie denn tatsächlich das Potenzial dazu haben. Um herauszufinden, ob ein philosophisches „Heilmittel“ auf die eine oder andere Weise hilfreich sein kann, muss man es testen. Dabei kommt es meiner Überzeugung nach auf die richtige Art der Verabreichung an. Diese Überzeugung war für die Gestaltung der Kapitel leitend. Ich habe mich bemüht, die jeweiligen Gedankengänge so ausführlich wie nötig und so verständlich wie möglich zu erläutern. Dabei stehen in aller Regel die Primärtexte im Vordergrund. Eine Diskussion der Forschungsliteratur wird nicht vorgenommen. Wer sich mit einem der vorgestellten Texte bzw. Themen intensiver beschäftigen möchte, findet im Anschluss an die Kapitel einige ausgewählte Literaturhinweise. Auch auf eine kritische Diskussion der jeweiligen Thesen habe ich weitgehend verzichtet ebenso wie auf philosophiehistorische Betrachtungen. Beides hat in anderen Kontexten zweifellos seine Berechtigung, ist aber geradezu hinderlich, wenn die (mögliche) Wirksamkeit von philosophischen Überlegungen im Mittelpunkt stehen soll. Der Grund dafür ist folgender: Die vorschnelle Suche nach inneren Widersprüchen und Kritikpunkten genauso wie der rein historische Blick schaffen eine Distanz zu philosophischen Texten. Für das philosophische „Heilmittel“ bedeutet das, dass seine potenzielle Wirksamkeit von vornherein verhindert wird, weil es sozusagen nicht richtig aufgenommen werden kann. Damit philosophische „Heilmittel“ wirken können, muss man sie an sich heranlassen. Das bedeutet nun nicht, dass man sie widerspruchslos „schlucken“ sollte. Um die philosophischen „Heilmittel“ im Selbstversuch testen zu können, bedarf es eines – durchaus kritischen – Nach- und Durchdenkens. Aber es bedarf eben auch einer besonderen Offenheit und einer Bereitschaft, sich probeweise auf die „therapeutischen“ Gedanken einzulassen. Die ausschließliche Konzentration auf die Philosophiegeschichte und die voreilige Suche nach Denkfehlern und theoretischen Schwächen stehen dieser Offenheit im Wege.
Die Philosophie kann das Leben besser machen. Sie kann sogar eine Art von Therapeutikum sein. Das ist die von Epikur geäußerte Überzeugung, die diesem Buch zugrunde liegt. Epikur selbst geht allerdings noch weiter, wenn er schreibt: „Die Rede jenes Philosophen ist leer, durch die kein Leiden geheilt wird; denn wie die Heilkunst keinerlei Nutzen hat, wenn sie nicht die Krankheiten des Körpers vertreibt, so auch nicht die Philosophie, wenn sie nicht das Leiden der Seele vertreibt“. Das ist eine extreme Position. Etwas gemäßigter könnte man formulieren: Die Philosophie kann ein „Heilmittel“ sein. Damit sie es sein kann, muss man empfänglich für ihre mögliche Wirksamkeit bleiben.