Im Jahr 1985 machte sich ein britischer Wirtschaftsprüfer daran, ein Buch zu verfassen, das leidgeplagten Nikotinsüchtigen dabei helfen sollte, das Rauchen aufzugeben. Innerhalb kurzer Zeit avancierte dieses Buch zum internationalen Bestseller und gehört heute fraglos zu den Klassikern der Ratgeberliteratur: Allan Carr’s Easy Way to Stop Smoking (auf Deutsch: Endlich Nichtraucher!). Carr war selbst viele Jahre lang Kettenraucher gewesen und kannte sich daher bestens mit Lust und Leid des Nikotinkonsums aus. Insbesondere eines wusste er aus eigener schmerzlicher Erfahrung: Der Versuch, »einfach so« mit dem Rauchen aufzuhören, ist ein qualvolles und in vielen Fällen äußerst kurzlebiges Unterfangen. Carr wurde nach zahllosen solcher misslungenen Versuche klar, dass ein bloßes Abgewöhnen des Rauchens für eine wirkliche und dauerhafte Befreiung von der Sucht nicht ausreicht. Und ihm wurde klar, dass die körperliche Abhängigkeit bei der ganzen Angelegenheit eine untergeordnete, ja eine zu vernachlässigende Rolle spielt. Entscheidend ist der Zustand des Geistes. Im Selbstversuch entwickelte Carr daher eine neue, eine »easy« Methode, um das Rauchen ein für alle Mal aufzugeben. Die zentrale Idee war für ihn die eines »positive brainwashing«, mit dem Ziel, nicht nur das Rauchen, sondern die Lust am Rauchen zu überwinden und an deren Stelle die Lust am Nichtrauchen zu setzen. Ist dies einmal geschehen, hat also die positive Gehirnwäsche gefruchtet, dann ist das Nicht(mehr)rauchen bloß noch die unvermeidliche Konsequenz einer veränderten Geisteshaltung: Wer keine Lust am Rauchen hat, der raucht auch nicht.
Wir können davon ausgehen, dass Carr sich bei der Entwicklung seiner »Easy-way«-Methode nicht mit der Philosophie seines Landsmannes John Locke beschäftigt hat. Umso bemerkenswerter ist, dass das, was Carr intuitiv als den Kern einer erfolgreichen Suchttherapie erkannte, drei Jahrhunderte zuvor von Locke philosophisch herausgearbeitet wurde: Für ein erfolgreiches und dauerhaftes Aufgeben unserer schlechten und schädlichen Angewohnheiten bedarf es einer Veränderung unseres Begehrens – und diese Veränderung ist möglich.
Dem britischen Philosophen John Locke wird ein Hang zur Geheimniskrämerei nachgesagt. Selbst guten Freunden gegenüber soll er äußerst vorsichtig und misstrauisch gewesen sein. Sieht man sich Lockes Biographie an, so kann man feststellen, dass diese Vorsicht zumindest zeitweise durchaus begründet war. Lockes Heimatland war in der Mitte des 17. Jahrhunderts durch politische Machtverschiebungen und religiöse Konflikte geprägt. Nach zwei Bürgerkriegen waren 1649 die Monarchie und die anglikanische Staatskirche abgeschafft worden, und England war zu einer Republik geworden. Aber schon elf Jahre später änderten sich die Verhältnisse wieder und die Restauration der Monarchie begann. Locke hatte sich aus den politischen Wirren der Zeit herausgehalten – bis er 1666 die Bekanntschaft des Baron Anthony Ashley Cooper, des späteren Earl of Shaftesbury, machte. Dieser bezog in politischen Fragen eine deutliche (antikatholische) Stellung, was im Jahr 1681 zu einer Anklage wegen Hochverrats führte. Shaftesbury floh ins Exil nach Holland, und Locke, der sich als sein Vertrauter und Freund ebenfalls in Gefahr sah, folgte ihm. Erst als 1689 der protestantische Wilhelm III. von Oranien König von England wurde, kehrte Locke nach London zurück.
Unter dem Eindruck der politischen und religiösen Krisen seiner Zeit waren es zwei Themenbereiche, die den Philosophen Locke besonders beschäftigten: die Erkenntnistheorie – also die Fragen nach dem Ursprung, den Grundlagen und den Grenzen unseres Wissens – und die politische Philosophie. Auf beiden Gebieten erlangten Lockes Überlegungen große Bedeutung. Seine erkenntnistheoretische Schrift An Essay Concerning Human Understanding ist ein Schlüsselwerk der empiristischen Philosophie, und als Politologe gilt Locke als eine maßgebliche Inspirationsquelle für die amerikanische Unabhängigkeitserklärung sowie für die Französische Revolution. Vergleichsweise in den Hintergrund getreten ist angesichts dieser denkerischen Leistungen Lockes Beitrag zu einer der wichtigsten philosophischen Grundfragen, die gerade in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt ist, nämlich zu der Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt oder nicht. Lockes Antwort auf diese Frage ist von besonderer Bedeutung für das Thema dieses Buches, denn im Verlauf seiner Überlegungen zum Freiheitsproblem entwickelt er eine Methode, um die eigenen Neigungen gemäß eines vernünftigen Strebens nach Glück umzuformen. Wenn wir uns mit unserem eigenen Wünschen und Wollen unglücklich machen, dann haben wir uns den Geschmack verdorben – so Lockes Diagnose. Die Therapie muss dementsprechend darin bestehen, unseren Geschmack zu korrigieren.
Die »therapeutischen« Überlegungen Lockes stehen also im Zusammenhang mit der Frage nach der Freiheit, und diese Frage wird von ihm zunächst wie folgt beantwortet: »Die Idee der Freiheit [ist] die Idee einer Kraft, die ein handelndes Wesen hat, irgendeine Handlung zu vollziehen oder zu unterlassen, gemäß der Entscheidung oder dem Gedanken des Geistes« (VV 283). Frei sind wir demnach dann, wenn es in unserer Macht liegt, etwas, das wir tun wollen, zu tun oder nicht zu tun. Wenn ich den Wunsch habe, in meinem Zimmer zu sitzen und zu lesen, dann bin ich frei, wenn ich dies tun kann, aber zugleich auch die Möglichkeit habe, etwas anderes zu tun. Sollte mich jemand in meinem Zimmer einschließen, so wird mir in diesem Moment meine Freiheit genommen, selbst wenn sich an meinem Wunsch, im Zimmer zu bleiben, nichts geändert hat. Die Freiheit, von der Locke hier spricht, bezeichnet man zuweilen als Handlungsfreiheit. Sie hängt – vorausgesetzt, dass ein bestimmtes Wollen vorhanden ist – von dem Zustand der Welt ab: Sind die äußeren Umstände derart, dass ich eine gewollte Handlung ausführen oder unterlassen kann, dann bin ich frei, andernfalls bin ich es nicht.
An diese (bis hierhin eher unaufregenden) Ausführungen schließt sich nun eine wichtige Frage an, nämlich »was es eigentlich ist, das den Willen hinsichtlich unserer Handlungen bestimmt« (VV 300). Etwas zu wollen, so definiert es Locke, bedeutet, eine Handlungsmöglichkeit einer anderen vorzuziehen. Was aber gibt den Ausschlag, wenn ich eine vorgestellte mögliche Handlung ihrer Unterlassung oder einer anderen Handlung vorziehe, wenn mir also eine Handlungsoption besser gefällt als eine andere? Locke hat bezüglich dieser Frage in der ersten Auflage des Essay eine andere Auffassung vertreten als in der späteren, mit der ich mich hier beschäftige. Er war zunächst der Meinung, es sei der Gedanke an das größte Gut, das unseren Willen bestimmt, hat diese Theorie aber dann korrigiert: »Nach wiederholtem Nachdenken neige ich zu der Annahme, daß es nicht, wie man gewöhnlich annimmt, das in Aussicht stehende größere Gut ist, sondern irgendein (und zwar meist das drückendste) Unbehagen, das man gegenwärtig empfindet« (VV 300). Was uns demnach eine bestimmte Handlung einer anderen vorziehen lässt ist eine Unzufriedenheit, die wir empfinden, ein Unbehagen (uneasiness), wie Locke es nennt. Dieses Unbehagen ist zugleich ein Begehren, das durch den Mangel eines bestimmten Gegenstandes ausgelöst wird. Unbehagen und Begehren verweisen gegenseitig aufeinander: »In dem Maße […], in dem irgendwo Begehren herrscht, in demselben Maße ist Unbehagen vorhanden« (VV 301). Das Begehren lenkt unseren Willen in eine bestimmte Richtung, führt somit dazu, dass wir bestimmte Handlungsmöglichkeiten anderen vorziehen und lässt uns schließlich – sofern wir in diesem Moment frei dazu sind – willentliche Handlungen ausführen. So bestimmt beispielsweise das Begehren nach einem erfrischenden Getränk, das nichts anderes ist als das empfundene Unbehagen des Durstigseins, meinen Willen, so dass ich die mögliche Handlung des Wassertrinkens anderen Handlungsmöglichkeiten vorziehe und diese vorgezogene Handlung zu guter Letzt auch ausführe.
Dass, wie Locke nach eingehender Überlegung feststellt, nicht der bloße Gedanke an das größte Gut den Willen bestimmt, sondern das drängendste Unbehagen, hat eine entscheidende Konsequenz, nämlich diejenige, »daß ein Gut, ein größeres Gut, auch wenn es als solches aufgefaßt und anerkannt wird, den Willen nicht eher bestimmt, als bis unser Begehren […] in uns ein Unbehagen erzeugt, weil wir es entbehren müssen« (VV 303). Dem entspricht die Erfahrung, dass sich unser Wille oft geradezu konträr zu unseren rationalen Überlegungen verhalten kann. Wir können durchaus etwas für wertvoll und wichtig erachten, wie z. B. unsere Gesundheit, und nichtsdestoweniger immer wieder Handlungen vor- und vollziehen, die uns von dem Gut, das uns als solches vor Augen liegt, entfernen. Wenn ein empfundenes Unbehagen, wie etwa das Begehren nach einer Zigarette, sich in uns bemerkbar macht, dann rücken die vernünftigen Einsichten über das größere Gut der Gesundheit nur zu leicht in den Hintergrund, und das aktuelle Unbehagen bestimmt uns zur gesundheitsschädlichen Handlung des Rauchens. So wird nicht selten ein anerkanntermaßen größeres Gut von uns vernachlässigt, »um die aufeinanderfolgenden Unbehaglichkeiten zu befriedigen, die aus unserem auf Nichtigkeiten gerichteten Begehren entspringen« (VV 307). Wir können noch so sehr beteuern, ein entferntes Gut sei wertvoll und erstrebenswert – wenn uns ein aktuelles Unbehagen dazwischenkommt, werden wir dessen Beseitigung in der Regel den Vorrang einräumen.
Was also nach Locke unseren Willen bestimmt und mithin dazu führt, dass uns bestimmte Handlungsmöglichkeiten besser gefallen als andere, ist das gegenwärtig empfundene Unbehagen über den Mangel von etwas bzw. das Begehren dieses mangelnden Etwas. Nun will Locke der Sache noch weiter auf den Grund gehen und fährt fort: »Fragt man weiter, was das Begehren hervorrufe, so antworte ich: das Glück, und zwar nur dieses« (VV 309). Wenn wir bestimmte Dinge oder Zustände begehren, dann zielen wir damit also letztendlich auf das Glück ab oder anders gesagt auf »die größte Freude, derer wir fähig sind« (VV 310). Dementsprechend bezeichnen wir dasjenige als Gut, was Freude in uns hervorruft, was uns also glücklich macht – auch wenn es dabei in aller Regel nicht um die größtmögliche Freude geht, sondern um Abstufungen dieses vollendeten, uns in seinem ganzen Ausmaß unbekannten Glücks. Das ist allerdings ein sehr allgemeines Urteil; für mich persönlich gilt, dass ich immer nur dasjenige begehre, was ich als notwendigen Bestandteil meines Glückes betrachte. Aus diesem Grund begehren nicht alle Menschen dieselben Dinge. »Nehmen wir nun an, daß der eine Mensch seine Befriedigung in sinnlicher Lust, der andere in der Freude an der Wissenschaft findet; dann muß zwar jeder von beiden zugeben, daß das, wonach der andere strebt, viel Freude bringt; jedoch wird ihr Verlangen nicht erregt, da keiner von beiden das, was dem anderen Freude bereitet, zum Bestandteil seines Glückes macht; darum wird sein Wille nicht zum Streben danach bestimmt«(VV 311). Die Menschen versuchen offenbar auf unterschiedlichen Wegen dasselbe Ziel zu erreichen. Für Locke ist klar, dass, obwohl alle danach streben, glücklich zu sein, »nicht jeder sein Glück in demselben Gegenstand sucht oder denselben Weg dazu einschlägt« (VV 324).
Wenn nun aber, wie Locke glaubt, alle Menschen danach streben, glücklich zu sein, und wenn dieses Streben ihr Wollen und Handeln leitet, wie kommt es dann, dass viele Menschen »nach ihrem eigenen Geständnis« (VV 325) Handlungsmöglichkeiten vorziehen, die ihnen schaden, ja die sie letztendlich unglücklich machen? Locke nimmt diese Frage sehr ernst, bleibt aber nichtsdestoweniger bei seiner Behauptung, dass jeder Mensch das Glück begehrt und sich daher nicht absichtlich unglücklich machen würde. Es muss also, wenn Menschen ihrem eigenen Unglück zuarbeiten, eine Art von Irrtum vorliegen: »Wenn jemand seinen Hauptlebenszweck, das Glück, verfehlt, so wird er zugeben, daß er falsch geurteilt hat« (VV 336). Wie ist das zu erklären?
Bei gegenwärtigen Schmerzen oder Freuden sind Irrtümer ausgeschlossen: Freude und Schmerz, die wir in diesem Moment empfinden, sind tatsächlich das, als was sie uns erscheinen. Aus diesem Grund kann es keine Fehler bei der Rangordnung bzw. Abstufung gegenwärtiger Lust- oder Unlustempfindungen geben. Wenn von zwei gegenwärtigen Freuden die eine als größer empfunden wird, so ist sie tatsächlich die größere. Wenn wir sie daher der geringeren Freude vorziehen, können wir als Glückssuchende gar nicht falsch liegen – zumindest was den aktuellen Moment betrifft. Wenn ich zum Nachtisch lieber einen Schokoladenpudding esse als einen Apfel, dann besteht kein Zweifel daran, dass die Wahl des Puddings meinem momentanen Glück zuträglich ist. Demgegenüber fällen wir oft schlechte Urteile, wenn es darum geht, gegenwärtige Freuden und Schmerzen mit zukünftigen zu vergleichen. Das liegt daran, dass »die Entfernungen, aus denen wir sie bemessen, verschieden sind« (VV 330). So wie es für uns viel schwieriger ist, weit entfernte Gegenstände zu beurteilen, als solche, die sich direkt vor unseren Augen befinden, so fällt es uns auch sehr viel schwerer, das Zukünftige richtig einzuschätzen als das Gegenwärtige. »Gegenstände, die unserem Auge nahe sind, halten wir leicht für größer als entferntere, die größere Ausmaße haben. So ist es auch bei Freuden und Schmerzen« (VV 330). Beim Vergleich zwischen gegenwärtigen und entfernten Freuden oder Leiden schneiden daher die entfernten tendenziell schlechter ab, was zu folgenschweren Fehlurteilen über den Weg zum persönlichen Glück führt. »So denken die meisten Menschen wie verschwenderische Erben, daß ein Weniges in der Hand besser sei als ein Viel in der Zukunft« (VV 330).
Dieser Irrtum rächt sich freilich irgendwann, denn früher oder später wird aus dem Zukünftigen ein Gegenwärtiges, und dann zeigt sich dieses in seinem wahren Ausmaß – etwa, wenn sich der unvermeidliche Kater bemerkbar macht, den man beim Trinken mit Freunden aus seinen Gedanken verdrängt oder zumindest gedanklich verkleinert hatte. »Wäre das Vergnügen des Trinkens schon in dem Augenblick, wo man das Glas absetzt, von jener Magenverstimmung und jenem Kopfschmerz begleitet, die bei manchen Menschen innerhalb weniger Stunden folgen, so würde wohl niemand, wie viel Freude er auch am Trinken fände, unter diesen Bedingungen jemals einen Tropfen Wein über seine Lippen bringen. So aber schüttet er ihn Tag für Tag hinunter, indem er sich, durch einen kleinen Zeitunterschied getäuscht, für die üble Seite entscheidet« (VV 330 f.). Es ist also die »Zeitverschiebung«, die unsere Urteilskraft beim Vergleich von Freuden und Schmerzen trübt und uns bisweilen anlässlich einer gegenwärtigen Freude den zukünftigen Schmerz vergessen lässt. Und so kann es geschehen, dass uns unser eigener Wille langfristig unglücklich macht, obwohl er durchaus auf Glück ausgerichtet ist – aber eben auf ein flüchtiges Glück mit schmerzvollen Nachwirkungen.
Wenn aber, wie in Lockes Beispiel, bereits ein Zeitunterschied von wenigen Stunden eine derart schlechte Einschätzung der zukünftigen Freuden und Leiden bewirkt, wie groß muss dann die Gefahr von Fehlurteilen über den Zeitraum von Monaten und Jahren hinweg sein? Wen der Gedanke an den Kater am nächsten Morgen nicht vom übermäßigen Trinken abhält, der wird sich von der Aussicht auf eine langfristig zu erwartende Leberschädigung erst recht nicht abschrecken lassen – zumindest solange er »die Dinge nicht zu sich heranrückt, sie nicht als gegenwärtig betrachtet und dann ihre wahre Größe feststellt« (VV 331). Genau in diesem imaginären Heranrücken und Betrachten von zeitlich entfernten Empfindungen sieht nun Locke den Schlüssel für eine Veränderung von Verhaltensweisen, die uns auf lange Sicht unglücklich machen. Wir müssen die Folgen unseres aktuellen Wollens nicht nur nüchtern bedenken, sondern sie uns mit Hilfe unserer Vorstellungskraft direkt vor Augen führen. Auf diese Weise verschaffen wir uns selbst einen Vorgeschmack auf die Lust oder Unlust, die uns voraussichtlich erwartet und können so zu einem realistischeren Vergleich gegenwärtiger und zukünftiger Freuden oder Schmerzen gelangen. Das Gegenwärtige erscheint uns dann nicht mehr zwingend als das Größere, Wichtigere. Wir müssen, so erklärt Locke, dem Impuls widerstehen, der bei einem gegenwärtig empfundenen Begehren »das Künftige in unseren Gedanken verkleinert und uns gleichsam blindlings jener Freude in die Arme treibt« (VV 332). Wenn uns das gelingt, können wir schließlich sogar akzeptieren, dass man sich hin und wieder »um des Glückes willen unglücklich machen sollte« (VV 336).
Dass wir dazu in der Lage sind, uns auf die Folgen unseres Handelns zu besinnen und so übereilte Entscheidungen zu vermeiden, liegt für den Philosophen auf der Hand, denn: »Wenn jemand erkennen würde, was ihm nützt oder schadet, was ihn glücklich oder unglücklich macht, ohne daß er imstande wäre, in dieser oder jener Richtung etwas zu unternehmen, was hülfe ihm dann seine Erkenntnis?« (VV 335). Wozu wohl, so Lockes rhetorische Frage, sollte uns Gott (oder die Natur) mit der Fähigkeit ausgestattet haben, uns unserer Vernunft zu bedienen und zu erkennen, was das Beste für uns ist, wenn uns nicht auch die Freiheit gegeben wäre, entsprechend unserer Einsicht zu handeln?
Bei der Untersuchung des Freiheitsproblems war Locke zunächst zu dem Schluss gekommen, dass Freiheit darin besteht, eine gewollte Handlung ausführen oder unterlassen zu können. An diese Feststellung hatte sich die Frage angeschlossen, was denn nun das Wollen bestimmt, das einer solchen freien Handlung zugrunde liegt. Können wir wollen, was wir wollen, also was immer uns beliebt? Das können wir nicht, wie Locke darlegte. Es ist vielmehr das Begehren, das unser Wollen bestimmt oder anders gesagt das Unbehagen, das wir empfinden, wenn uns etwas zu unserem Glück fehlt. Von Freiheit, so scheint es, kann an dieser Stelle keine Rede mehr sein, denn was in uns Begehren und mithin Unbehagen auslöst und damit letztlich unseren Willen und unser Handeln lenkt, liegt doch wohl kaum in unserem Einflussbereich. Wenn das Begehren den Willen bestimmt, kann ja der Wille nicht seinerseits das Begehren bestimmen. Gerade das ist ja in vielen Fällen die Wurzel des Übels: dass wir uns nämlich wünschen, unsere Begierden und Neigungen würden sich in anderen Bahnen bewegen. So wünschen wir uns etwa, das Rauchen würde keinen Reiz auf uns ausüben; wir wünschen uns, wir würden uns nicht immer wieder in den oder die Falsche/n verlieben; wir wünschen uns, wir hätten einen größeren Drang zu sportlicher Betätigung; wir wünschen uns, im Beruf mehr Ehrgeiz zu entwickeln usw. Kann man denn nun an seinem Begehren etwas ändern? Können wir irgendwie beeinflussen, was in uns Lust oder Unlust hervorruft und dadurch unser Wollen und Handeln bestimmt? Können wir bewirken, dass uns etwas besser oder schlechter gefällt? Locke ist überzeugt davon, dass dies tatsächlich möglich ist – zumindest in den meisten Fällen, wie er hinzufügt: »Der Mensch kann und soll seinen Gaumen korrigieren« (VV 336). Wenn wir Dinge begehren, obwohl sie vernünftig betrachtet schlecht oder schädlich für uns sind, dann kann das nur bedeuten, dass wir uns den Gaumen, also den Geschmack verdorben haben. Wir haben einen schlechten Geschmack, was unsere Handlungen betrifft. Wie unser Geschmack verdorben wurde, ob durch Erziehung, Gewohnheit, Mode, schlechte Vorbilder, ist im Grunde gleichgültig. Entscheidend ist: Die Lage ist nicht aussichtslos!
Wenn Locke davon spricht, wir könnten unseren Gaumen korrigieren, so geht es ihm dabei nicht um oberflächliche Verhaltensänderungen, also etwa um ein bloßes Abgewöhnen oder Angewöhnen von bestimmten Handlungsweisen. Dies ist zwar durchaus möglich, aber jeder, der einmal versucht hat, auf seine Leibspeisen zu verzichten, um ein paar Pfunde loszuwerden, weiß, dass sich das Begehren durch diese Selbstbeschränkung zwar im Zaum halten, aber nicht wirklich verändern lässt. Locke hat etwas anderes im Sinn, nämlich eine Umformung der eigenen Begierden mithilfe der Vernunft. Die Korrektur, die hier anvisiert wird, geht tiefer als eine Umgewöhnung des Verhaltens; sie ändert das Empfinden des Menschen. »Es ist also ein Irrtum zu meinen, jemand könne, wenn er alles tue, was in seinen Kräften steht, doch das Unangenehme und Gleichgültige, das manchen Handlungen anhaftet, nicht in Angenehmes und Erwünschtes verwandeln« (VV 336 f.). Nehmen wir an, ich hätte mich aufgrund vernünftiger Überlegungen, z. B. anlässlich eines ärztlichen Ratschlages, dazu entschlossen, meine ungesunden Gewohnheiten aufzugeben. Ich mache mir einen Diätplan, zwinge mich zu täglicher Bewegung und schränke meinen Alkoholkonsum drastisch ein. Schön und gut. Aber die Lust bzw. Unlust, die ich bei den alten bzw. den neuen Gewohnheiten empfinde, bleibt doch dadurch unverändert, wie es scheint. Nach wie vor finde ich es angenehmer, faul auf dem Sofa zu sitzen als zu joggen, und nach wie vor empfinde ich es als eine Einschränkung meiner Lebenslust, auf Fastfood zu verzichten. Wenn ich es dennoch tue, so aus rein vernunftmäßigen Erwägungen und nicht weil es mir Spaß macht. Locke hält diese Einschätzung für voreilig. Seiner Meinung nach können wir sehr wohl unser Empfinden von Lust und Unlust gegenüber bestimmten Dingen beeinflussen.
Unangenehmes und Gleichgültiges soll in Angenehmes verwandelt werden – wie ist das möglich? »In manchen Fällen läßt sich dies schon durch richtige Überlegung erreichen, in den meisten durch Übung, Anstrengung und Gewöhnung« (VV 337).
Am Beginn einer »Locke`schen Kur« steht das Innehalten im Verfolgen von Wünschen, die nüchterne Betrachtung des eigenen Begehrens sowie das bereits beschriebene vernünftige Abwägen von gegenwärtiger und zukünftiger Lust bzw. Unlust. Wir müssen also zunächst sozusagen mental einen Schritt zurücktreten, um eine kritische Distanz zu unserem eigenen Wollen und Tun einzunehmen. In der Fähigkeit, uns von unseren eigenen Wünschen, Begierden und Neigungen zu distanzieren, besteht für Locke die eigentliche Quelle unserer Freiheit. Unsere Wünsche und Neigungen führen also nicht unmittelbar, gleichsam automatisch zu den entsprechenden Handlungen, sondern wir haben grundsätzlich die Möglichkeit innezuhalten, sie zu prüfen und sie unter Umständen abzulehnen. Diese Möglichkeit kann »jeder täglich bei sich selbst erproben« (VV 315 f.). Tatsächlich gehören das Unterbrechen unseres Begehrens und das rationale Erwägen vor dem Ausführen einer Handlung zu unseren alltäglichen Erfahrungen, auch wenn wir uns das nur selten explizit vor Augen führen. Der von Locke beschriebene »Angelpunkt, um den sich die Freiheit vernunftbegabter Wesen« (VV 319) dreht, ist der tiefere Sinn von Aussagen wie: »Ich wollte eigentlich Torte bestellen, aber dann habe ich nur einen Kaffee genommen«; »Ich wäre am liebsten einfach weggelaufen, aber dann habe ich mich gezwungen dazubleiben und dem Verletzten zu helfen«; »Ich hatte große Lust, ihm eine Ohrfeige zu gegeben, aber ich habe mich zurückgehalten«; »Ich wäre fast in die Luft gegangen, aber dann dachte ich daran, dass das alles noch schlimmer machen würde«. Wie oft verspüren wir einen bestimmten Impuls in uns, den wir dann, aufgrund rationaler Überlegungen, unterdrücken oder beiseite schieben? Wir geben nicht in jedem Fall unseren ersten Regungen nach, sondern zügeln diese, wenn die Vernunft es uns gebietet. Dass wir dazu in der Lage sind, beweist in Lockes Augen eindrucksvoll und für jeden nachvollziehbar unsere Freiheit.
Wir Menschen setzen aktuell vorhandene Wünsche nicht notwendigerweise in die Tat um, so als hätten wir es hier mit einer Art von Naturgesetzlichkeit zu tun, die Taten zwingend auf entsprechende Wünsche folgen lässt. Wir bleiben, wie Locke betont, trotz unseres Begehrens stets vernünftigen Gründen zugänglich und haben die Fähigkeit, uns aufgrund unserer Überlegungen umzuentscheiden. Was man irrtümlicherweise als »freien Willen« bezeichnet, ist Locke zufolge genau diese Kraft, die Verfolgung eines Wunsches zu unterbrechen, um den Wunsch selbst zu bewerten. Dabei ist es eben nicht unser Wille, der frei ist, in dem Sinne, dass er unbestimmt wäre und daher auf jeden beliebigen Gegenstand gerichtet werden könnte, sondern wir sind es, die über die Freiheit verfügen, uns von unseren Impulsen zu distanzieren. Wir können nicht wählen, welche Antriebe oder Wünsche wir unmittelbar in uns vorfinden, aber wir können durchaus wählen, ob diese Wünsche in einer bestimmten Situation handlungswirksam werden oder nicht. »Da der Geist, wie die Erfahrung zeigt, in den meisten Fällen die Kraft besitzt, bei der Verwirklichung und Befriedigung irgendeines Wunsches innezuhalten und mit allen anderen Wünschen der Reihe nach ebenso zu verfahren, so hat er auch die Freiheit, ihre Objekte zu betrachten, sie von allen Seiten zu prüfen und gegen andere abzuwägen« (VV 315). Diese Freiheit setzen wir tatsächlich implizit immer voraus, wenn wir einen anderen Menschen als zurechnungsfähig und verantwortlich betrachten. Ob die betreffende Person in jedem Fall Gebrauch von ihrer Freiheit macht, ist dabei nicht entscheidend. Wenn ein einigermaßen gesunder Erwachsener in einem konkreten Fall nicht überlegt entschieden hat, sondern ganz unmittelbar seinen augenblicklichen Impulsen gefolgt ist, so würden wir dennoch sagen, dass er anders hätte entscheiden können (und sollen). Die Fähigkeit, sich von seinen Neigungen zu distanzieren, geht nicht dadurch verloren, dass man nicht jederzeit von ihr Gebrauch macht. Ob und wie ein zurechnungsfähiger Mensch im Einzelfall von seinem Vermögen, sich von seinen ersten Regungen zu distanzieren, Gebrauch macht, liegt letztlich in seiner Verantwortung.
Auch wenn wir bisweilen an uns selbst einige Schwierigkeiten bei der Ausübung unserer Freiheit bemerken, so sollten wir nicht zu voreilig annehmen, wir könnten unsere Impulse nicht zurückhalten. Locke verdeutlicht dies durch ein kleines Gedankenexperiment: »Man sage nicht, wir könnten unsere Leidenschaften nicht beherrschen und sie nicht daran hindern, auszubrechen und auf unser Handeln Einfluß zu gewinnen; denn was man vor einem Fürsten oder einer hochgestellten Person vermag, kann man, wenn man will, auch tun, wenn man für sich allein oder in Gegenwart Gottes ist« (VV 321 f.). Wir werden uns in aller Regel in Gegenwart unserer Vorgesetzten zusammenreißen und uns z. B. nicht von unserem Ärger zu unverschämtem Verhalten hinreißen lassen. Wenn wir es aber in dieser Situation schaffen, unsere Impulse durch vernünftiges Abwägen im Zaum zu halten, dann können wir es auch in anderen Situationen. Dabei ist sich Locke durchaus bewusst, dass Selbstbeherrschung bisweilen eine schwierige Aufgabe sein kann, die uns einiges abverlangt und bei allem aufrichtigen Bemühen doch hin und wieder misslingen wird, z. B. wenn »ein stürmisches Unbehagen, etwa von der Liebe, oder dem Zorn […] herrührend, uns mit fortreißt und uns die Freiheit des Denkens raubt« (VV 321). Weil aber die Unterbrechung des Begehrens und somit die Zügelung und Mäßigung unserer Leidenschaften allererst den Raum für ein vernünftiges Überlegen und Entscheiden schafft, »sollten wir hierauf in erster Linie unsere Sorge und unser Bemühen richten« (VV 321). Dieses Bemühen ist als ein längerfristiges Projekt aufzufassen, das nicht nur die konkreten Situationen betrifft, in denen unsere Neigungen zu mäßigen sind. Es verlangt vielmehr auch eine rückblickende Bewertung unseres Verhaltens, also eine Nachbereitung, die wiederum die Vorbereitung auf künftige Entscheidungssituationen ist. Wenn es mir also in einem konkreten Fall z. B. nicht gelungen ist, meine Wut unter Kontrolle zu bringen, dann ist es meine Aufgabe, mein eigenes Verhalten zumindest nachträglich kritisch zu beurteilen und mich gedanklich auf zukünftige Situationen vorzubereiten, um so langfristig meine Leidenschaften im Zaum halten zu können und nicht kopflos immer wieder in dieselben Handlungsabläufe zu stolpern. Indem ich auf diese Weise übe und lerne, meine Impulse zu kontrollieren, vergrößere ich stetig den Raum für vernünftiges Abwägen und Entscheiden und mache mir so sukzessive einen Lebenswandel zu eigen, der Locke zufolge »wirklich auf die Erlangung wahren Glücks ausgerichtet ist« (VV 321).
Bis hierher ging es darum, das eigene Wünschen und Begehren zu unterbrechen, um es rational zu beurteilen und sich gegebenenfalls anders zu entscheiden. Nun ist aber Locke der Meinung, dass wir uns von unserem vorhandenen Begehren nicht nur kritisch distanzieren können, sondern dass wir das Begehren selbst beeinflussen und verändern können, um so unseren »Gaumen« zu korrigieren. Wir müssen uns bemühen, unseren Geschmack dem Wert der Dinge anzupassen. Was wir also durch vernünftige Überlegung zunächst nur einsehen – nämlich was über den flüchtigen Genuss hinaus gut und erstrebenswert ist – das müssen wir auch zu empfinden lernen. Das rational und mithin sekundär für gut Befunde soll zum Gegenstand unseres unmittelbaren Begehrens werden. »Wir sollten uns nicht gestatten, daß etwas, was zweifellos oder möglicherweise ein großes und bedeutsames Gut ist, unserm Denken entschwinde – ohne in unserm Geist einen Geschmack daran oder ein Begehren nach ihm zu hinterlassen – bevor wir nicht durch gebührende Betrachtung seines wahren Wertes ein ihm entsprechendes Begehren in unserm Geist hervorgerufen haben, so daß uns sein Mangel oder die Furcht seines Verlustes unbehaglich stimmt« (VV 321). Damit also dasjenige, was wir durch vernünftiges Abwägen als ein erstrebenswertes Gut erkannt haben, in Zukunft ein Gegenstand unseres Begehrens werden kann, muss die rationale Einsicht affektiv besetzt werden. Das heißt ganz konkret: Das Fehlen des für gut Befundenen muss in uns ein Unbehagen, einen Schmerz auslösen. Dieses Unbehagen über den Mangel eines abwesenden Gutes ist, wie schon gesagt, nichts anderes als das Begehren desselben. Wir müssen verstehen, »daß ein Gut, ein größeres Gut, auch wenn es als solches aufgefaßt und anerkannt wird, den Willen nicht eher bestimmt, als bis unser Begehren […] in uns ein Unbehagen erzeugt, weil wir es entbehren müssen. Man kann einen Menschen noch so sehr davon überzeugen, daß der Reichtum gegenüber der Armut seine Vorteile hat, man kann ihn veranlassen zu erkennen und zuzugeben, daß die Annehmlichkeiten des Lebens besser sind als drückende Not; er wird sich dennoch nicht regen, solange er mit seiner Armut zufrieden ist und kein Unbehagen dabei empfindet« (VV 303). Um unser Begehren in andere Bahnen zu lenken, müssen wir demnach in uns selbst eine Unzufriedenheit mit unserem gegenwärtigen Zustand hervorrufen. Vollkommene Selbstzufriedenheit erweist sich somit als natürlicher Feind von Selbstveränderung und -verbesserung. Das Begehren eines Gutes und mithin das Unbehagen angesichts seines Mangels können wir, wie Locke meint, durch »reifliche Erwägung und Prüfung eines vorgestellten Gutes« und durch seine »eingehende und wiederholte Betrachtung« (VV 314) in uns hervorrufen.
Was Locke hier von uns verlangt, klingt bis jetzt zugegebenermaßen nicht sehr erbaulich: Wir sollen uns scheinbar, um der Vorstellung eines zukünftigen Glückes willen, im Hier und Jetzt unglücklich machen. Wäre es unter diesen Umständen nicht klüger oder zumindest angenehmer, sich mit gegenwärtigen, wenn auch flüchtigen Genüssen zu beschäftigen, anstatt in sich selbst eine Unzufriedenheit über das Fehlen eines entfernten Gutes zu evozieren, die man bisher gar nicht empfunden hat? Aber Locke hatte ja auch davon gesprochen, Unangenehmes und Gleichgültiges in Angenehmes und Erwünschtes zu verwandeln. Diese Verwandlung betrifft nun die Mittel zur Erreichung des angestrebten Gutes. Die Korrektur unseres Gaumens beinhaltet also zweierlei: Einerseits soll der Gedanke an ein erstrebenswertes Gut in uns ein Unbehagen, einen Schmerz erzeugen, andererseits sollen wir lernen, diejenigen Handlungen, die das zu erreichende Gut befördern, als angenehm zu empfinden. Mit anderen Worten: Gleichgültigkeit gegenüber einem bestimmten Ziel soll in eine Unzufriedenheit über sein Fehlen verwandelt werden; Gleichgültigkeit oder Unlust angesichts von Handlungen, die dem neu gewählten Ziel dienlich sind, sollen in Lust verwandelt werden.
Dinge können an sich angenehm sein und uns Genuss verschaffen, wie etwa ein leckeres Essen. Dinge können aber auch als Mittel zu einem größeren Ziel als dem flüchtigen Moment des Genießens dienen. Wenn wir nun etwas als Mittel zu einem erstrebenswerten Ziel erkannt haben, dann kann bereits diese Einsicht eine neue Art von Genuss in uns erzeugen, selbst wenn das Mittel für sich betrachtet eher als unangenehm empfunden wird. »Der Gedanke an die Freude, die sich aus Gesundheit und Kraft ergibt, kann einen neuen Genuß hinzufügen, der uns zu bestimmen vermag, einen unschmackhaften Trank hinunterzuschlucken« (VV 337). Eine Handlung kann also schon dadurch angenehmer werden, dass wir uns das Ziel vor Augen führen, das wir durch sie zu erreichen hoffen. Auch hier geht es wieder um das richtige Abwägen zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Freuden oder Schmerzen. Das imaginäre Heranrücken und Betrachten eines zukünftigen Genusses hilft uns dabei nicht nur, die richtige Entscheidung zu treffen, sondern versüßt uns zudem die sprichwörtliche »bittere Medizin«, die wir zuweilen um eines größeren Zieles willen schlucken müssen.
Es ist aber Locke zufolge noch eine Steigerung bei der Umformung des Gaumens möglich: Die neuen Verhaltensweisen, die wir einem vernünftigen Entschluss über unser zukünftiges Glück folgen lassen, werden uns dann nicht mehr nur als weniger unangenehm erscheinen – indem wir sie in Beziehung zu unserem zukünftigen Wohlbefinden setzen –, wir können uns sogar dazu bringen, die neuen Gewohnheiten selbst als angenehm zu empfinden. Wenn uns dies gelingt, so wird es schließlich nicht mehr nötig sein, dass die Vorstellung eines zukünftigen Wohles uns mit der gegenwärtigen Einschränkung unseres Vergnügens versöhnt; wir werden das vernünftige, auf ein erstrebenswertes Ziel gerichtete Handeln selbst als ein Vergnügen empfinden. »Die Freude an der Handlung selbst aber wird am besten durch Gewohnheit und Übung erworben« (VV 337). Zunächst einmal wird die vernünftige Überlegung uns dazu veranlassen, bestimmte Handlungen, die wir bisher vermieden haben oder an die wir schlicht nicht gedacht haben, auszuprobieren. Wir lassen uns auf Neues ein, weil wir erkannt haben, dass es einem größeren Ziel dient. Um unserer Gesundheit willen probieren wir z. B. eine Sportart aus oder versuchen gesünderes Essen. »Die Erprobung söhnt uns oft mit etwas aus, was wir aus der Ferne mit Abneigung betrachtet haben; sie bringt uns durch mehrmalige Wiederholung dahin, daß wir etwas angenehm finden, was uns beim ersten Versuch vielleicht mißfiel« (VV 337). Man kann demnach lernen, etwas zu mögen, selbst wenn der erste Versuch nicht gleich ein Wohlbehagen auslöst. »Gewohnheiten üben einen starken Reiz aus und verleihen den Dingen, die uns vertraut sind, eine solche Anziehungskraft des Behagens und der Annehmlichkeit, daß wir solche Handlungen nicht unterlassen oder wenigstens nicht leichten Herzens unterlassen können, die uns durch stete Übung geläufig geworden sind und uns daher immer wieder nahelegen« (VV 337 f.). Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – diesen Umstand können wir uns zu Nutze machen. So wie wir an unseren alten, unhinterfragten Gewohnheiten hängen, so können wir auch lernen, an neuen, vernünftigen Gewohnheiten zu hängen. Dabei geht es wie gesagt nicht darum, permanent gegen die eigenen Neigungen zu handeln, sondern darum, durch neue Gewohnheiten andere Neigungen zu entwickeln und auf diese Weise das Begehren entsprechend der Einsicht umzuformen. »Man sollte sich bemühen, [seinen Geschmack] zu verbessern; entgegengesetzte Gewohnheiten sollten unsere Freuden umgestalten und uns das schmackhaft machen, was für unser Glück notwendig oder förderlich ist. Jeder muß zugeben, daß er dazu imstande ist« (VV 338).
Eines steht für Locke fest: Wir sind nicht die Sklaven unseres Willens, so als stünde ein für alle Mal fest, zu welchen Handlungen unser Wille uns in zukünftigen Situationen bestimmen wird. Wir haben durchaus einen Einfluss auf unser Wollen, allerdings nicht unmittelbar. Die Erfahrung bestätigt die Feststellung Lockes, dass wir unseren Willen nicht direkt und ohne Weiteres modifizieren bzw. hierhin oder dorthin lenken können. Es wäre jedoch voreilig und letzten Endes falsch, aufgrund dieser Erfahrung anzunehmen, wir könnten unseren Willen gar nicht lenken. Wir können dies sehr wohl tun, müssen uns dazu aber auf ein längerfristiges Unternehmen einstellen, das mit einiger Mühe, Selbstdisziplin und Übung verbunden ist. Doch die Mühe lohnt sich, denn auf der Basis der »Quelle aller Freiheit« (VV 316), d.h. der Fähigkeit, unser aktuelles Begehren zu unterbrechen, zu bewerten und zu »bearbeiten«, können wir sukzessive unsere Autonomie vergrößern. Wir können anders gesagt die Neigungen und Wünsche, die wir in uns vorfinden, ohne zu wissen, woher sie eigentlich kommen, zu solchen machen oder auch durch solche ersetzen, die wir einer vernünftigen Prüfung unterzogen und für gut befunden haben. Unser Begehren wird vernünftig – was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirkt und unseren Alltagsüberzeugungen von der Verfasstheit der menschlichen Psyche völlig zuwiderläuft kann Locke zufolge tatsächlich realisiert werden. Und darunter ist gerade keine Einschränkung unserer Wünsche, keine gewaltsame Unterdrückung unserer Neigungen und mithin keine permanente Selbstbeschneidung zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil eine Veränderung, die uns, wie Locke glaubt, erst wirklich glücklich machen wird.
»Du musst es nur wollen!« Dieser (oft nur mäßig motivierende) Satz, mit dem Menschen dazu veranlasst werden sollen, ihre gewohnten Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern, ist gleichzeitig falsch und richtig. Er ist falsch, wenn damit behauptet werden soll, wir seien in der Lage unser Wünschen und Wollen ohne Weiteres, gleichsam per Knopfdruck ein- oder auszuschalten. Er ist jedoch richtig, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass eine Veränderung unserer Lebensgewohnheiten einen veränderten Willen verlangt und dass diese Veränderung prinzipiell möglich ist. Entscheidend ist es, den Punkt zu finden, an dem wir für eine Veränderung des Willens ansetzen müssen, und dieser Punkt ist, wie Locke uns gezeigt hat, das Begehren. Wenn wir mit unserem Wollen und Handeln nicht einverstanden sind, dann müssen wir eine Umformung unseres Begehrens in Angriff nehmen. Auf diesem Umweg können wir schließlich einen formenden (und nicht nur einen unterbindenden) Einfluss auf unseren Willen nehmen und eine »Korrektur des Gaumens« vollziehen.
1632 |
John Locke wird als Sohn strenggläubiger Puritaner in Wrington, Somerset geboren. |
1652 |
Locke beginnt sein Studium in Oxford. Er studiert Philosophie, das bedeutet zu seiner Zeit: Schulphilosophie, aber auch »Experimentalwissenschaft«. Außerdem beschäftigt er sich mit Medizin. Nach dem Studium ist er als Dozent tätig. |
1667 |
Locke zieht nach London, ins Palais des Politikers Anthony Ashley Cooper, als dessen Sekretär, Berater und Leibarzt er arbeitet. |
1683–89 |
Locke lebt im Exil in den Niederlanden. |
1688/89 |
Glorious Revolution. Mit der Durchsetzung der Bill of Rights wird die Grundlage für das parlamentarische Regierungssystem im Vereinigten Königreich geschaffen. |
1690 |
An Essay Concerning Human Understanding erscheint. |
1704 |
Locke stirbt in seinem Arbeitszimmer in Oates, Essex. |
51% der Deutschen nahmen sich für das Jahr 2013 mehr Bewegung vor.
44% der Deutschen nahmen sich vor, sich gesünder zu ernähren.
34% der Deutschen nahmen sich vor, abzunehmen.
12% der Deutschen nahmen sich vor, mit dem Rauchen aufzuhören.
11% der Deutschen nahmen sich vor, weniger Alkohol zu trinken.
20% der Deutsche halten das Rauchen für ihre schlechteste Angewohnheit.
21% der Deutschen halten es für ihre schlechteste Angewohnheit, zu wenig Sport zu treiben.
9% der Deutschen haben in den letzten zwölf Monaten zwei- bis fünfmal versucht, das Rauchen aufzugeben.
Quellen: Statista, Statistisches Bundesamt; DAK PresseServer
Allan Carr, Endlich Nichtraucher! Der einfache Weg, mit dem Rauchen Schluss zu machen, aktualisierte und überarbeitete Ausgabe, München 2012.
John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, 5., durchgesehene Auflage, Hamburg 2000, Buch II (VV).
Allan Carr, Endlich ohne Alkohol! Der einfache Weg mit Allan Carrs Erfolgsmethode, München 2002.
Allan Carr, Endlich Wunschgewicht! Der einfache Weg, mit Gewichtsproblemen Schluß zu machen, München 1998.
Rainer Specht, John Locke, München 2007.