IMMANUEL KANT
und die vernünftige Hoffnung

Am frühen Nachmittag des 11. März 2011 ereignete sich ca. 80 km vor der Ostküste Japans ein Erdbeben mit furchtbaren Folgen für die Bevölkerung. Das Beben löste nicht nur eine gewaltige Flutwelle aus, die große Teile des Landes verwüstete, sondern führte auch zu Unfällen in mehreren Atomkraftwerken Ostjapans. Über 15.000 Menschen verloren infolge dieser Katastrophe ihr Leben. Hundertausende verloren ihr Zuhause. Von einem Tag auf den anderen bestimmten Verlust, Trauer und Angst das Leben in Japan.

Es war eine Naturkatastrophe wie diese, die im 18. Jahrhundert die Zeitgenossen schockierte. Am 1. November 1755, am Morgen des Allerheilgenfestes, bebte in Lissabon, einer der bedeutendsten Handelsstädte Europas, die Erde. Mehrere schwere Brände brachen infolge des Erdbebens aus, und kurz darauf wurde die Stadt von einer Flutwelle überrollt. Zehntausende von Menschen ertranken oder starben in den Trümmern. Das Erdbeben von Lissabon wurde zum Anlass für eine heftige philosophische Diskussion, warf es doch eine Reihe von alten, aber (bis heute) unvermindert aktuellen Fragen auf: Womit haben die Opfer der Katastrophe ein solches Unglück verdient? Warum passieren guten oder zumindest unschuldigen Menschen derart schlimme Dinge? Warum wurden so viele Kirchen zerstört, während ausgerechnet das Rotlichtviertel von Lissabon relativ unversehrt blieb? Wie soll man so eine himmelschreiende Ungerechtigkeit verstehen oder auch nur ertragen können? Das Who-is-Who der geistigen Szene dieser Tage beteiligte sich an den Debatten um die (Un-)Vollkommenheit der Welt, um den Optimismus und um die Frage nach der Vereinbarkeit der Güte Gottes mit dem Schlechten und Bösen in der Welt. Auch der preußische Professor Immanuel Kant machte sich seine Gedanken zu diesen Themen. Ihn beschäftigte insbesondere die Frage, ob wir vernünftigerweise davon ausgehen können, dass moralisch gutes Handeln in irgendeiner Weise belohnt wird, wo die Erfahrung uns doch immer wieder lehrt, dass guten Menschen ebenso viel Schlechtes widerfährt wie bösen. Gibt es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit oder müssen wir uns als rationale Menschen von derartigen Vorstellungen verabschieden? Kant kam zu dem Ergebnis: Es gibt durchaus Grund zur Hoffnung – auch und gerade für aufgeklärte Geister.

image

Es besteht ein eigentümlicher Kontrast zwischen der Lebensweise Immanuel Kants und seiner Philosophie, auf den immer wieder hingewiesen worden ist: Während der äußerlich unscheinbare Professor aus Königsberg seinen arbeitsreichen Alltag mit einer ans Zwanghafte grenzenden Pedanterie organisierte und schon kleinste Abweichungen von der gewohnten Routine aufs Tiefste verabscheute, war er in seinem Denken radikal, innovativ und unerschrocken. So langweilig daher Kants Leben anmutet, in dem es tatsächlich keine erwähnenswerten Ereignisse gegeben zu haben scheint, so aufregend ist demgegenüber sein Gedankensystem.

Das Denken Kants steht im Zeichen der europäischen Aufklärungsbewegung. Deren Prinzip lautet für den preußischen Philosophen: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (AA VIII 35). Beseelt von diesem Mut zu selbständigem und kritischem Denken und mithin zum Aufheben von unhinterfragten Meinungen, Irrtümern und Vorurteilen machte sich Kant in seinen Hauptschriften an die Untersuchung dessen, was er als die Grundprobleme der Menschen erkannte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Seine Antworten auf diese Hauptanliegen des menschlichen Nachsinnens hatten und haben bis heute einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf das abendländische Philosophieren.

Betrachtet man Kants philosophisches System im Hinblick auf das Thema dieses Buches, so stößt man auf einen Gedankengang, der sämtliche für den Menschen zentralen Fragestellungen berührt: die Frage nach den Grenzen unserer Erkenntnis, die Frage nach dem guten Handeln und die Frage nach der berechtigten Hoffnung. Dieser Gedankengang dreht sich um die Themen Glück, Tugend, Gerechtigkeit und Glaube – oder allgemeiner: um die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns.

Der Alleszermalmer

In der Vorrede zur ersten Auflage seines epochemachenden Werkes Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant die Situation des abendländischen Denkens, die ihn zu einer umfassenden Untersuchung unserer Vernunftfähigkeit motiviert hat: In der »Ersten Philosophie«, die traditionell als Metaphysik bezeichnet wird, herrscht ein hartnäckiger, nicht enden wollender Streit um die Fragen nach Gott, Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele. Die Verfahrenheit der Situation legt Kant bereits im ersten Satz der Vorrede dar und bietet zugleich eine Erklärung für das Problem: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, […], die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII). Besagte Fragen, durch die unsere Vernunft belästigt wird, sind die Fragen nach dem Unbedingten zu allem Bedingten. Worin hat die Welt ihren Ursprung? Ist es möglich, dass eine Kausalkette eine letzte, ihrerseits unverursachte Ursache hat oder lässt sich das Warum-Fragen endlos weitertreiben? Was stiftet die Einheit meiner Erlebnisse und Zustände? Kurz, es sind die klassischen Fragen der Metaphysik, mit denen sich die menschliche Vernunft ohne ihre Schuld herumschlagen muss: Gibt es einen Gott? Sind wir frei? Haben wir eine unsterbliche Seele? Versucht man nun aber, diese unabweisbaren Fragen zu beantworten, so stürzt man, wie Kant fortfährt »in Dunkelheit und Widersprüche« (KrV A VIII), weil man dabei notwendigerweise den Bereich der möglichen Erfahrung überschreitet, wodurch sich die metaphysischen Spekulationen jeglicher empirischer Überprüfung entziehen. Die Philosophen haben sich nichtsdestoweniger immer wieder mit den Fragen nach dem Unbedingten beschäftigt und haben Antworten formuliert, die aller Erfahrungsunabhängigkeit zum Trotz den Anspruch auf Wahrheit erheben. Die Antworten sind freilich recht unterschiedlich ausgefallen, so dass Kant bezüglich der langen Tradition des Nachsinnens über die Frage nach dem Unbedingten feststellen kann: »Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik« (KrV A VIII).

Die Metaphysik, die Königsdisziplin der Philosophie, als ein Kampfplatz endloser Streitigkeiten – diesen unwürdigen, unerträglichen Zustand gilt es für Kant zu beenden. Dabei geht es ihm um nicht weniger als »die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben« (KrV A XII). Kant will also nicht als weiterer Kämpfer den Platz betreten, sondern die Rolle eines Richters einnehmen, der zu entscheiden hat, ob die Kämpfe überhaupt weitergeführt werden sollen, oder ob das Schlachtfeld vernünftigerweise zu räumen ist, weil niemals über Sieg oder Niederlage entschieden werden kann. Um über Sinn oder Unsinn der metaphysischen Kampfhandlungen entscheiden zu können, untersucht Kant die Leistungsfähigkeit der Vernunft und steckt mithin die prinzipiellen Grenzen des theoretischen Philosophierens ab. Die reine Vernunft wird einer Kritik unterzogen (griech. krinein = unterscheiden, urteilen, vor Gericht stellen), d.h. es wird der Frage nachgegangen ob bzw. in welchem Maße Erkenntnisse an die Erfahrung gebunden sind und ob es Erkenntnisse geben kann, die unabhängig von der Erfahrung sind – so wie es die traditionelle Metaphysik (als ihre Möglichkeitsbedingung) voraussetzt.

Bevor Kant an der Berechtigung metaphysischer Aussagen zu zweifeln begonnen hatte, war er ein Anhänger des in seiner Heimat damals vorherrschenden philosophischen Systems gewesen, des Leibniz-Wolffschen Rationalismus. Die Grundannahme des rationalistischen Denkens besteht darin, dass die Erfahrung weder die Grundlage noch die Grenze unseres Wissens ist. Der Vernunft wird vielmehr die Fähigkeit zugesprochen, aus sich selbst heraus und ohne Zuhilfenahme der Erfahrung zu wahren Erkenntnissen über die Welt zu gelangen. Unter dieser Voraussetzung wäre die Metaphysik, verstanden als eine Wissenschaft vom Übersinnlichen, zweifellos möglich. Die Rationalisten haben daher auch metaphysische Systeme aufgestellt, wobei sie dogmatisch verfuhren, d.h. ohne eine vorherige kritische Prüfung, ob die Vernunft tatsächlich imstande sei, Erkenntnisse zu liefern, die erfahrungsunabhängig und dennoch von zweifelsfreier Gewissheit sind. Kant gibt zu, selbst die ersten Jahre seiner philosophischen Tätigkeit in einem solchen »dogmatischen Schlummer« verbracht zu haben, aus dem ihn schließlich die Beschäftigung mit dem britischen Empirismus erweckt habe. Die Philosophen des Empirismus, insbesondere sind hier John Locke und David Hume zu nennen, gehen von einer dem Rationalismus strikt entgegengesetzten Grundannahme aus: Es ist nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war. Demnach ist die Erfahrung die einzige Quelle und damit auch die Grenze unserer Erkenntnis. Eine Wissenschaft vom Über-Sinnlichen wäre unter dieser Voraussetzung ausgeschlossen.

Rationalisten versus Empiristen – wer hat Recht? Kant kommt zu dem Ergebnis: In gewisser Hinsicht haben beide Denksysteme Recht, in anderer Hinsicht irren aber auch beide. Mit den Rationalisten ist Kant der Meinung, dass es erfahrungsfreie Grundlagen unserer Erkenntnisse gibt; mit den Empiristen betont er, dass unsere Erkenntnisse auf den Bereich möglicher Erfahrung beschränkt sind. Alle Erkenntnis beginnt mit Erfahrung, entspringt aber nicht ausschließlich der Erfahrung, vielmehr wird der »Rohstoff« der Sinneseindrücke durch unseren Verstand bearbeitet, geordnet und verknüpft. Erkenntnisse entstehen also nicht aus reiner Erfahrung, sondern aus sinnlichen Daten und der Tätigkeit unseres Verstandes. Andererseits ist eine reine Verstandestätigkeit, ist bloßes Denken ohne jede innere oder äußere Anschauung zu keiner Erkenntnis fähig. »Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (KrV B 75), so lautet Kants berühmte Formel für die Besonderheit unseres Erkennens. Was bedeutet das nun für den Kampfplatz der Metaphysik? Wir sind erkenntnismäßig auf unseren Erfahrungsbereich beschränkt, und das heißt, dass der Bereich des Über- bzw. Außersinnlichen einer wissenschaftlichen Erkenntnis entzogen ist.

Obwohl mit der Untersuchung der Verstandestätigkeit bereits die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Aussagen über ein höchstes Wesen aufgewiesen wurde, lässt Kant es sich nicht nehmen, die klassischen Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, im Einzelnen auseinanderzunehmen. Seiner Ansicht nach »sind nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich« (KrV B 618). Entweder wir gelangen durch das Fragen nach den Ursachen von Dingen oder Ereignissen in der Welt zu der Annahme einer »höchsten Ursache außer der Welt« (KrV B 618) oder wir schließen von der »Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit« (KrV B 650) in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer derselben oder aber wir versuchen die Existenz Gottes aus dem Begriff, den wir von ihm haben, herzuleiten. Kant spielt alle diese Versuche, sich der Existenz Gottes zu versichern, durch und weist ihre jeweiligen Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten auf. Keiner der Gottesbeweise, auf die sich namhafte Denker wie Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Leibniz und Descartes berufen haben, vermag der Kantischen Kritik standzuhalten. »Das höchste Wesen«, so schließt Kant seine kritischen Überlegungen ab, »bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, […] dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann« (KrV B 669).

Was den modernen Leser vermutlich nicht aus der Fassung bringen wird, ist für viele Zeitgenossen ein regelrecht skandalöser Gedanke: Die Existenz Gottes, behauptet Kant, ist nicht beweisbar. Dasjenige, was in der metaphysischen Tradition den Schlussstein und die Krönung der Erkenntnis darstellte – das höchste Wesen – ist unserem möglichen Wissen grundsätzlich entzogen. Dabei redet Kant keinem spekulativen Atheismus das Wort, denn schließlich unterstreicht er, dass die Existenz Gottes auch nicht widerlegt werden kann. Seine Schlussfolgerung lautet nicht: Es gibt keinen Gott. Es ist vielmehr so, dass sich über das Dasein und das Wesen Gottes theoretisch nichts sagen lässt. (Was sich praktisch darüber sagen lässt, wird uns noch zu interessieren haben.) Die Vertreter einer rationalistischen Aufklärung wollten diese kritische Destruktion der althergebrachten Metaphysik nicht ohne Weiteres akzeptieren. Der Philosoph Moses Mendelssohn etwa sprach vom »alles zermalmenden Kant« und wurde damit zum Urheber eines berühmt gewordenen Spitznamens für den preußischen Philosophen: Immanuel Kant, der Alleszermalmer.

Der kategorische Imperativ

Das Ziel von Kants erster Kritik war es, die Vernunft in ihren theoretischen Bemühungen auf einen sicheren und seriösen Weg zu bringen und die Frage zu beantworten, was wir wissen können. In der zweiten kritischen Schrift, der Kritik der praktischen Vernunft, geht es ihm um eine Neubegründung der Moral. Wenn es jetzt also um die Frage geht, wie wir handeln sollen, so steht für Kant zunächst fest, dass die Antwort darauf weder von persönlichen Gefühlen noch von der kulturellen Herkunft oder von unhinterfragten Konventionen abhängen darf. Moralität muss auf einer allgemeingültigen und rationalen Grundlage beruhen. Vor diesem Hintergrund soll nun mit der praktischen Vernunft nicht etwa eine andere Vernunft der Kritik unterzogen werden, sondern die Vernunft insofern sie praktisch tätig ist, sich also auf das Handeln bezieht. Oder anders gesagt: Es geht um eine kritische Untersuchung des Willens.

In einer berühmten Passage seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stellt Kant fest: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« (AA IV 393). Zwei wesentliche Aspekte von Kants Neubegründung der Moral stecken in diesem Zitat: Erstens bedeutet sittlich gut für Kant »ohne Einschränkung«, also absolut und schlechthin gut, d.h. in keiner Weise relativ, also nur gut im Hinblick auf eine bestimmte, vorgegebene Absicht. Zweitens ist »allein ein guter Wille« absolut und ohne Einschränkung gut. Was macht nun aber einen Willen zu einem guten Willen, und wie gelangen wir zu einem Prinzip guten Wollens, das immer und für alle Menschen gleichermaßen Geltung beanspruchen kann? Kants Antwort lautet: Absolut und uneingeschränkt gut ist ein Wille, wenn er sich nach dem kategorischen Imperativ bestimmt. Der kategorische Imperativ ist also das gesuchte objektive und allgemeingültige Prinzip guten Handelns.

»Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV, AA V 30), so lautet der kategorische Imperativ. Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man sich klarmachen, was Kant unter Maximen, unter Imperativen und speziell unter einem kategorischen Imperativ versteht. Maximen sind handlungsleitende Regeln, die der einzelne Mensch sich selbst setzt und die einen bestimmten Lebensbereich bzw. eine bestimmte Art von Situation betreffen. Als Beispiel für eine Maxime nennt Kant den (nicht besonders tugendhaften) subjektiven Handlungsgrundsatz, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden. Imperative sind Vorschriften der Vernunft, die das Handeln betreffen. Ein Imperativ fordert uns auf, in einer bestimmten Weise zu handeln. Kant unterscheidet zwischen zwei Arten von Imperativen, hypothetischen und kategorischen (wobei es genau genommen nur einen kategorischen Imperativ gibt). Hypothetische Imperative sind bedingt, d.h. sie bestimmen den Willen »nur in Ansehung einer begehrten Wirkung« (KpV, AA V 20). Ein hypothetischer Imperativ drückt eine Vorschrift der Vernunft aus, die von einer bestimmten Bedingung, nämlich einem angestrebten Resultat abhängt. Das lässt sich sprachlich dadurch verdeutlichen, dass sich hypothetische Imperative in eine »Wenn … dann«-Form bringen lassen: Wenn du gesund bleiben willst, dann iss viel Gemüse und bewege dich ausreichend; wenn du gut Klavier spielen willst, dann übe mehrere Stunden in der Woche; wenn du im Alter nicht darben willst, dann arbeite und spare in deiner Jugend! Diese Vorschriften sind zwingend, unter der Voraussetzung, dass man den jeweiligen Zweck – gesund zu bleiben, gut Klavier zu spielen, im Alter nicht darben zu müssen – akzeptiert und zu seinem macht. Ob aber jemand einen bestimmten Zweck verfolgt, das hängt von der jeweiligen Person selbst ab. Hypothetische Imperative unterliegen somit einer subjektiven Bedingung und können daher nicht unbedingt allgemeingültig sein: Zwar muss jeder, der gut Klavier spielen will, üben, aber das bedeutet nicht, dass jeder Klavier üben soll. Da die hypothetischen Imperative Handlungsaufforderungen beinhalten, die nicht bedingungslos, ohne Einschränkung gut, sondern immer gut für etwas sind, können sie dem Kantischen Kriterium für das sittlich Gute nicht genügen. Ein Wille, der sich nach einem hypothetischen Imperativ bestimmt, ist also nicht der gesuchte gute Wille.

Was nach wie vor gesucht wird, ist ein praktischer Grundsatz, der »als objectiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird« (KpV, A V 19), der also ausnahmslos den Willen eines jeden bestimmen soll. Nach dem, was er über die hypothetischen Imperative gesagt hat, kann Kant nun zunächst eine negative Bestimmung des gesuchten praktischen Gesetzes vornehmen: »Alle praktische Principien, die ein Object (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesammt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben« (KpV, AA V 21). Das bedeutet: Wenn es von meinen persönlichen Vorlieben, Neigungen, von meinen Lust- und Unlustempfindungen und meinen Vorstellungen eines glücklichen, gelungenen Lebens abhängt, ob ich mir einen Handlungsgrundsatz aneigne, ist dieser Handlungsgrundsatz nicht dazu geeignet, als unbedingt allgemeingültiges praktisches Gesetz zu fungieren. Wann immer es aber in meinen Handlungsgrundsätzen um eine »Materie des Begehrungsvermögen« geht, wie etwa um meine Wünsche nach Reichtum, Ruhm oder Gesundheit, hängen diese Grundsätze eben von meinen (zufälligen) Vorlieben, Neigungen etc. ab. Daraus folgt ganz logisch: Wir müssen uns der Materie entledigen, um unbedingte Allgemeingültigkeit zu erreichen. Zur sprachlichen Verdeutlichung könnte man sagen: Wir müssen über die »Wenn … dann«-Vorschriften hinauskommen, um zu einer unbedingten (d.h. kategorischen) Handlungsvorschrift zu gelangen.

Die Materie, der Gegenstand des Wollens, wurde als dasjenige identifiziert, das einen Imperativ unter eine subjektive Bedingung stellt und damit seine Allgemeingültigkeit verhindert. »Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung« (KpV, AA V 27). Ein guter Wille zeichnet sich demnach nicht durch seinen Gegenstand, sondern durch seine Form aus, d.h. die Basis der Sittlichkeit besteht nicht darin, dieses oder jenes Gute zu wollen, sondern gut zu wollen. Mein Wollen ist dann gut, wenn es die Form einer allgemeinen Gesetzgebung hat oder anders gesagt: wenn ich so handle, »als ob die Maxime [m]einer Handlung durch [m]einen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (AA IV 421). Der kategorische Imperativ, der im Gegensatz zu hypothetischen Imperativen ein absolutes, unbedingtes Sollen ausdrückt, dient nun als Prüfstein für die Maximen, die meinen Willen bestimmen. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass die Vernunft, anstelle von zufälligen Neigungen und subjektiven Wünschen, die volle Herrschaft über meinen Willen haben soll. Der sittlich Handelnde hat sein Wollen vollkommen der Vernunft unterstellt. Wie das im konkreten Fall vonstattengeht, lässt sich an einem Beispiel erläutern: Angenommen jemand befindet sich in einer Notsituation und sieht sich gezwungen, sich Geld zu leihen. Er weiß zwar, dass er das Geld voraussichtlich nicht zurückzahlen können wird, aber er weiß auch, dass er die Rückzahlung versprechen muss, wenn er zu dem Geld kommen will. »Er hat Lust, ein solches Versprechen zu thun; noch aber hat er soviel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Noth zu helfen?« (AA IV 422). Die Beantwortung dieser Frage erfolgt in zwei Schritten: »Ich verwandle also die Zumuthung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz und richte die Frage so ein: wie es dann stehen würde, wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde.« (AA IV 422). Das Ergebnis lautet nun nicht etwa: »Wenn jeder ein falsches Versprechen abgeben würde, sähe es in der Welt schlecht aus«. Es geht vielmehr darum: Ein falsches Versprechen als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes beinhaltet einen Widerspruch, denn es bedeutet, eine Verpflichtung einzugehen, und sie doch nicht einzugehen. Die Maxime hält der Prüfung durch das Vernunftgesetz also nicht stand und taugt damit nicht zu einem sittlichen Wollen.

So folgerichtig Kants Neubegründung der Moral auch sein mag, so hat sie doch etwas Widerspenstiges an sich. Sie fügt sich nicht ohne Weiteres in unsere moralischen Intuitionen und Vormeinungen. Es ist das Absehen vom Gefühlsmäßigen, das viele Leser Kants irritiert oder sogar abgestoßen hat: Ein Mensch handelt nicht dann gut, wenn er besonders mitfühlend oder großzügig ist oder wenn er besonders viel Liebe zu verschenken hat, sondern wenn die Form der Maxime seines Willens derjenigen eines allgemeinen Gesetzes entspricht. Das wirkt auf den ersten Blick zugegebenermaßen etwas unterkühlt, um nicht zu sagen herzlos. Aber Kant argumentiert anders: Die Moral kann nicht auf das launische und unstabile Fundament eines Gefühls gegründet werden. Denn es ist klar, dass gute Handlungen andernfalls eine Frage des Charakters, der Tagesform oder der Sympathie für bestimmte Menschen wären und damit letztlich in den Bereich des Zufälligen fallen würden. Gutes Handeln kann demgegenüber für Kant nur einen zuverlässigen Maßstab haben, und das ist die Vernunft.

Tugend und Glückseligkeit – ein ungleiches Paar

Was einen Willen gut macht, ist laut Kant seine Form, während die Materie sich nicht als Kriterium für die Sittlichkeit eignet. Jegliche materialen Bestimmungsgründe des Willens aber sind »insgesammt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit« (KpV, AA V 22). Mein Streben nach Reichtum, nach Bildung oder nach Gesundheit und die entsprechenden Bestimmungen meines Wollens und Handelns lassen sich alle einem übergeordneten Ziel zuordnen, nämlich dem Glücklichsein oder der »Glückseligkeit«, wie Kant es nennt. »Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens« (KpV, AA V 25), und das ist genau, was wir Menschen sind: vernünftige, aber endliche, d.h. in unserem Wollen nicht ausschließlich durch die Vernunft, sondern auch durch mehr oder weniger profane Bedürfnisse bestimmte Wesen. Glückseligkeit strebt also jeder Mensch notwendigerweise an, auch wenn die Vorstellungen darüber, was einen glücklich macht bzw. was einem zum Glück fehlt, weit auseinandergehen. Gerade weil aber die Meinungen über das Streben nach Glück inhaltlich sehr verschieden sind, eignet sich das Glücksstreben nicht als allgemeingültiger Maßstab des Handelns. Kurz: Das Verlangen nach Glückseligkeit, von dem wir uns als Menschen nicht verabschieden können, ist im Namen der Moralität dem Vernunftgesetz (also dem kategorischen Imperativ) unterzuordnen.

Kants Neubegründung der Moral führt auf diese Weise zum Bruch mit einem Denken, das »zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend Identität zu ergrübeln« (KpV, AA V 111) versuchte. Kant spielt hier auf zwei antike Positionen an, die davon ausgehen, dass derjenige, der gerecht und tugendhaft lebt, eben dadurch auch zu wahrer Glückseligkeit gelange. Er fasst diese Positionen folgendermaßen zusammen: »Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit« (KpV, AA V 111). Kant hingegen durchtrennt mit seinen Überlegungen das auf die eine oder andere Art geknüpfte Band zwischen Tugend und Glückseligkeit rigoros, denn für ihn besteht weder das sittlich gute Handeln im Suchen nach Glück, noch bedeutet Glück, sich seines sittlich guten Handelns bewusst zu sein. Tugendhaftigkeit ist, wie wir gesehen haben, durch einen Abgrund vom Handeln aus Eigeninteresse – und nichts anderes ist ja die Glückssuche – getrennt, und Glück hängt laut Kant von äußeren Chancen und inneren Neigungen ab, aber nicht von der Reinheit unserer Maximen. Sittliche Vollkommenheit und vollendete persönliche Glückseligkeit sind somit zwei Ideale, die uns in unserem Wollen leiten, ohne dass auf den ersten Blick klar wäre, wie beides unter einen Hut gebracht werden kann. Wir streben diese beiden Ideale als die »Bürger zweier Welten« an, die wir als Menschen wesenhaft sind: Die Sittlichkeit als Vernunftwesen, die Glückseligkeit als sinnliche Wesen. Dabei müssen wir mit Kant davon ausgehen, dass beide Komponenten unserer Lebenswirklichkeit – das Sittengesetz als unbedingt geltende Handlungsvorschrift ebenso wie das Verlangen nach Glückseligkeit – mit permanentem Druck auf unser Entscheidungsvermögen einwirken.

Wenn nun aber keine innere Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit besteht, wie können sie dann miteinander koordiniert werden – oder müssen wir uns etwa für eines von beiden entscheiden und uns von dem anderen verabschieden? Und wie sollte das überhaupt möglich sein, wo doch beide als anthropologische Konstanten aufzufassen sind? Tatsächlich besteht die Möglichkeit einer Verknüpfung, wie Kant fortfährt, denn »daß die Tugendgesinnung nothwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern nur so fern sie als Form der Causalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, und mithin, wenn ich das Dasein in derselben für die einzige Art der Existenz des vernünftigen Wesens annehme, also nur in bedingter Weise falsch« (KpV, AA V 114). Von den beiden Möglichkeiten einer Verbindung zwischen Glück und Tugend können wir also laut Kant eine mit Sicherheit ausschließen, dass nämlich das Suchen nach Glück uns tugendhaft macht. Was nun die andere Möglichkeit betrifft, dass also die Tugend uns das Glück hold sein lässt, so machen wir zwar faktisch die Erfahrung, dass dem nicht so ist, aber es wäre doch immerhin denkbar. Es wäre möglich, dass Tugend zu Glückseligkeit führt, unter der Bedingung, dass die Sinnenwelt mit ihren materiellen Bedingtheiten und ihren Naturgesetzen nicht die einzige Welt ist. In der Welt, so wie ich sie als Sinnenwesen erfahre, werden Tugendhafte nicht von Krankheiten, Naturkatastrophen oder Unglücksfällen verschont, auch wenn sie es zweifellos verdient hätten. Die Natur ist blind für die Glückswürdigkeit eines Menschen. Wenn es aber eine übersinnliche Welt und einen moralischen Weltschöpfer geben sollte, dann könnte es dennoch eine ausgleichende Gerechtigkeit geben. Wie genau wir uns diesen Ausgleich vorzustellen haben, lässt Kant konsequenterweise offen. Ob es sich um ein jenseitiges Gericht handelt, um ein Eingreifen Gottes in das diesseitige Leben oder um eine andere Art von gerechtem Lohn, das fällt in den Bereich der Spekulation, die uns theoretisch ins Dunkle führt und die für das Handeln keine Bedeutung hat. Dass wir hierüber nichts wissen können, hat laut Kant sogar einen Vorteil, denn wenn wir beispielsweise permanent in der Gewissheit eines bevorstehenden Jüngsten Gerichts leben würden, so wäre, wie man sich leicht vorstellen kann, unser Handeln durch nichts anderes als durch diese drohende oder verheißungsvolle Aussicht motiviert. Wie sollten wir unter diesen Umständen überhaupt noch in der Lage sein, rationale und sittlich gute Entscheidungen zu treffen?

Das absurdum practicum

Betrachten wir die Situation, in die die Überlegungen Kants uns als endliche Vernunftwesen manövriert haben: Das Sittengesetz fordert von uns, nach allgemeingültigen Maximen zu handeln. Das bedeutet, dass wir uns als sittlich Handelnde von jeglichem Eigennutzdenken loslösen und unsere persönlichen Neigungen der Vernunft unterordnen müssen. Als endliche Wesen sind wir aber zugleich glücksbedürftig und wünschen uns – vollkommen eigennützig – Zufriedenheit mit unserem Dasein. Nach Glück zu streben macht uns jedoch nicht tugendhaft, und umgekehrt vermag erfahrungsgemäß das tugendhafte Handeln nicht unser Glück zu befördern, da in der Natur keine Gerechtigkeit herrscht. Aus diesem existenziellen Dilemma scheint es nur einen Ausweg zu geben, nämlich das Dasein einer höchsten Macht und einer übernatürlichen Welt, in der für den gerechten Ausgleich gesorgt wird. Aber erinnern wir uns an Kants Kritik der traditionellen Metaphysik: Ein Wissen vom Übersinnlichen kann es für uns nicht geben, weil dies die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Wenn aber über Gott und eine jenseitige Welt nichts ausgesagt werden kann, und wenn somit ebenso viel für wie gegen die Existenz Gottes spricht, dann scheint doch die Aussicht auf eine jenseitige Verbindung von Glück und Tugend als äußerst fragwürdig.

Was geschieht mit mir, wenn ich unter diesen Umständen nicht an eine göttliche Gerechtigkeit zu glauben vermag? Kant erklärt es kurz und prägnant: »So müßte ich denn ohne Gott, entweder ein Phantast oder ein Bösewicht sein« (AA XXVIII 1072). Wenn es keinen moralischen Weltherrscher gibt und somit auch keine Hoffnung auf eine Versöhnung der Ansprüche des Vernunftgesetztes einerseits und unseres Glücksbedürfnisses andererseits, dann müssen wir uns, wie es scheint, entscheiden: Entweder bestimmen wir unseren Willen gemäß dem kategorischen Imperativ und verbannen damit die Glückseligkeit, nach der es uns verlangt und die wir durch unser gutes Handeln auch verdient hätten, ins Reich des Phantastischen oder wir bestimmen unseren Willen nach Lust und Laune, d.h. entsprechend unseres Glücksbedürfnisses und handeln damit unmoralisch.

Wer Kant vorwerfen wollte, seine Moralphilosophie sei in ihrem rigorosen Anspruch irgendwie weltfremd und erwarte vom Menschen schier Übermenschliches, wird hier eines Besseren belehrt, denn der Philosoph macht sich keine Illusionen über die Bedeutung, die die Selbstliebe bzw. der Wunsch nach Glückseligkeit für die Menschen als Sinnenwesen hat. Deswegen ist ihm auch klar, in welches Dilemma derjenige stürzt, der keine Hoffnung darauf hat, dass Rechtschaffenheit und Glück in irgendeiner Verbindung miteinander stehen: »Wenn kein Gott und eine andere Welt ist, so muß ich […] sehr standhaft die Tugendregeln befolgen, aber alsdenn bin ich ein tugendhafter Phantast, denn ich ginge der Glückseligkeit nach ohne zu hoffen, ihrer teilhaftig zu werden« (AA XXVIII 385 f.). Und an anderer Stelle: »Nimmst du die moralischen Gesetze an und handelst rechtschaffen; so hängst du einer Vorschrift nach, die dir keine Glückseligkeit erwerben kann, und die Tugend ist nur eine Chimäre; also verfällst du in ein absurdum practicum und handelst als ein Tor« (AA XXVIII 320). Wer tugendhaft, aber ohne Hoffnung ist, ist also nicht etwa besonders bewundernswert, sondern ein Narr, denn er handelt in der Überzeugung, dass seine Tugendhaftigkeit und d.h. auch seine Versuche, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, letzten Endes sinnlos sind, weil die Welt ohne göttliche Hilfe niemals zu einem guten Ort für glücksbedürftige Wesen werden wird. Der hoffnungslose Tugendhafte verfällt in ein absurdum practicum: Sein tugendhaftes Handeln erhält den Charakter grundlegender Sinnlosigkeit.

Ohne göttliche Beihilfe scheint es nur die Alternative zwischen dem Dasein eines Bösewichts und dem eines tugendhaften Narren zu geben. Aber die Absurdität geht für Kant noch tiefer, denn es stellt sich hier nicht nur die Frage, wie ich meine persönliche Glücksbedürftigkeit mit meiner Tugendhaftigkeit koordinieren soll. »Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit, glücklich zu sein) ausgetheilt«, diesen idealen Zustand einer völligen Angemessenheit des Glückes an die Tugend nennt Kant »das höchste Gut einer möglichen Welt« (KpV, AA V 110). Und diesen Zustand nach allen Kräften zu befördern, ist ein Gebot, das die praktische Vernunft uns auferlegt. Wenn wir aber nicht glauben, dass ein höheres Wesen uns bei der Verwirklichung dieser Aufgabe hilft, die das Menschenvermögen ganz offensichtlich übersteigt, dann sehen wir uns absurderweise mit einem Gebot konfrontiert, das Unmögliches von uns verlangt – zumal wir davon ausgehen müssen, dass längst nicht alle, ja nicht einmal die meisten unserer Mitmenschen uns bei der Beförderung des höchsten Guts helfen werden.

Ein tugendhafter Atheist ist ein zu bemitleidender Mensch, wie Kant findet, denn »Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, […], in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren« (KU § 87).

Was Kant hier beschreibt ist ganz zweifellos ein Leiden. Das Leiden, um das es ihm geht, ist dasjenige des rechtschaffenen Menschen in einer Gesellschaft, in der die Rechtschaffenheit eher die Ausnahme als die Regel ist, in der moralisch gutes Handeln nicht nur nicht belohnt wird, sondern einem allzu oft zum Nachteil gereicht. Es ist das Leiden an der Ungerechtigkeit, dass unmoralische Menschen von der Schlechtigkeit ihres Wollens und Tuns profitieren, während der Ehrliche meist zugleich der Dumme ist. Es ist das Leiden, das derjenige empfindet, dem klar wird, dass in einer Welt, in der die Klügeren, d.h. die vernunftmäßig Wollenden immer nachgeben, die Irrationalität zum faktisch vorherrschenden Prinzip wird und die Unklugen immer ihren Willen bekommen. Es ist das Leiden, das aus der Einsicht resultiert, dass alle meine – den Launen der Natur ausgesetzte – Versuche, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, nicht mehr sein können als ein winziger Tropfen auf den sprichwörtlichen heißen Stein und dass, während ich mich uneigennützig bemühe, Gutes zu bewirken, die Mehrheit der Menschen sich lediglich für ihren eigenen persönlichen Vorteil interessiert. Es ist das Leiden an der Erkenntnis, dass Fortuna offenbar blind ist für die Glückswürdigkeit eines Menschen und gute, glückswürdige Menschen ebenso von Schicksalsschlägen und Unglücksfällen getroffen werden wie glücksunwürdige. Es ist das Leiden desjenigen, dem es bei alldem an der Hoffnung auf eine übernatürliche Gerechtigkeit fehlt, die in der Hand eines höheren Wesens, eines moralischen Weltschöpfers liegen müsste. Es ist das Leiden desjenigen, der nicht glauben kann, dass alles einmal gut wird.

Das Leiden, mit dem wir es hier zu tun haben, unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von dem, was in der schulmedizinischen Seelenheil- bzw. -krankheitskunde unter einem seelischen Leiden verstanden wird, denn das Leiden, dem wir mit Kant nachspüren, hat seine Wurzel nicht in einem Defekt, einem Mangel oder einer Fehlfunktion auf Seiten des Leidenden, sondern in einer Mangelhaftigkeit der natürlichen wie der gesellschaftlichen Welt.

Die vernünftige Hoffnung

Die Frage, die sich nun stellt, ist die nach einem »Heilmittel« gegen das Leiden derjenigen, »die in sich eine Stimme wahrn[e]hmen, es müsse anders zugehen« (KU § 88, Anm.). Was also antwortet Kant dem rechtschaffenen Atheisten in seiner Verzweiflung oder Resignation? Er hält ihm entgegen: Was du dir aufgrund deines Unglaubens ausmalst, dass nämlich die Tugendhaften niemals belohnt werden, dass sie also »der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig« (KpV, AA V 110) werden, ist ein schlicht unvernünftiger Gedanke. Demgegenüber besteht laut Kant die vernünftig begründete Hoffnung – mehr noch: die Nötigung der Vernunft zu der Annahme –, dass ein allwissendes, allmächtiges und heiliges Wesen eine gerechte Verteilung der Glückseligkeit vornimmt, die ohne übernatürliche Mitwirkung nicht geleistet werden kann.

Kant, der die traditionellen Versuche, Gottes Existenz zu beweisen, samt und sonders verwirft, entwickelt hier eine ganz eigentümliche, von der Moral ausgehende Theologie, eine Moraltheologie also. Das moralische Gesetz, so seine Überzeugung, führt zwangsläufig zur Annahme eines höchsten Wesens, und das wie folgt: »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zweck) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein, zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d.i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion« (AA VI 7 f.). Es ist also gerade die Einsicht, dass wir dem Gebot, das höchste Gut zu befördern und es zu verwirklichen, nicht ohne übermenschliche Hilfe nachkommen können, die uns nötigt, eben diese Hilfe als gegeben anzunehmen. Die Irrationalität einer Welt, in der es keinerlei gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gibt, nötigt uns demnach, eine andere Welt oder eine andere Dimension der Welt anzunehmen, die dieser himmelschreienden Unvernunft entgegenwirkt. Bemerkenswerterweise kehrt Kant damit die herkömmliche Vorstellung um, denn die Religion ist für ihn nicht etwa die Grundlage der Moral, sondern deren Folge. Wir müssen nicht an Gott glauben, um moralisch zu handeln bzw. um zu wissen, was moralisch geboten ist, im Gegenteil: Es untergräbt die Moralität der Maximen, aus Angst vor göttlicher Strafe oder mit der Erwartung auf Belohnung zu handeln. Wenn man aber den letzten Zweck moralischen Handelns betrachtet – das höchste Gut –, dann führen einen vernünftige Überlegungen dazu, Gott als dessen notwendige Voraussetzung anzunehmen. Und noch eine Umkehrung herkömmlicher Vorstellungen lässt sich hier feststellen: Der Atheismus erscheint in dem skizzierten Zusammenhang nicht als die aufgeklärtere, sondern im Gegenteil als die unvernünftige, irrationale Alternative, wohingegen rationale Erwägungen laut Kant zu einem aufgeklärten Glauben führen.

Für Kant ist, wie wir gesehen haben, »die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße theilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein« (KpV, AA V 130). Die hoffnungsspendende Religion, von der in diesem Zitat die Rede ist, d.h. der Glaube an einen allwissenden und gerechten Gott und an eine übersinnliche Welt, ist für Kant keine Frage der persönlichen Weltanschauung oder der kulturellen Herkunft, sondern entspringt der Moral selbst und ist somit jedem endlichen Vernunftwesen ohne Weiteres zugänglich, ja mehr noch: sie drängt sich jedem endlichen Vernunftwesen auf.

Religion, das bedeutet für Kant, den Apologeten der Vernunft: die aufgeklärte, rationale Überzeugung von der Existenz eines gerechten Weltherrschers sowie von einer übersinnlichen Existenz unserer selbst und des Weiteren die Erkenntnis unserer moralischen Pflichten als Gebote Gottes. Denn wenn Gott dasjenige Wesen ist, das Glückswürdigkeit mit Glückseligkeit belohnt, dann müssen Gott und wir Menschen denselben Begriff von Glückswürdigkeit, also von Tugend, haben und das bedeutet wiederum, dass wir denselben Begriff vom sittlich Guten haben.

Kants Verständnis von Religion fällt, wenn man es mit den herkömmlichen Vorstellungen und Assoziationen zu diesem Thema vergleicht, recht karg aus. Es gibt moralische Vorschriften, und es gibt die Aussicht auf Gerechtigkeit, wobei offen bleibt, was genau man sich darunter vorzustellen hat. Keine Rede ist dagegen von Spiritualität, von kultischen Handlungen, von Gottesdiensten oder Heiligenverehrungen. Es gibt keine ausgeschmückten Versprechungen oder Drohungen das Jenseits betreffend, keine Ordensregeln und keine hierarchische institutionelle Organisation. Tatsächlich entwickelt Kant eine ganz spezielle Vorstellung von aufgeklärter Religiosität, die er in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft darlegt. Interessant für unser Thema ist dabei besonders der Gedanke eines »ethischen gemeinen Wesens«, d.h. einer Gemeinschaft von guten Menschen unter dem leitenden Ziel der Selbst- und Weltverbesserung. Um eine solche Gemeinschaft realisieren zu können, hat Kant einen ganz besonderen Plan vor Augen: Die (evangelisch-)christliche Kirche soll sukzessive vom »Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei« (AA VI 101) gereinigt werden, um so ihren genuinen, moralischen Kern, der in Jesus Christus personifiziert ist, freizulegen. Die von sämtlichen irreführenden Dogmen und überflüssigen Kulthandlungen gereinigte christliche Kirche soll dann nicht mehr und nicht weniger sein als die freie, nicht hierarisch, sondern eher familiär verfasste Vereinigung moralischer Menschen. Die Kirche als Gemeinschaft gut handelnder, aufgeklärter Menschen – eine Vorstellung, die (und das ist Kant natürlich vollkommen klar) nicht wenige Religiöse beschämen muss. Eine solche Gemeinschaft ist kein Selbstzweck, ebenso wenig wie sie dem Einzelnen zur Identitätsstiftung oder zur Entlastung von der persönlichen Verantwortung dient, und sie hat auch nichts mit schwärmerischer Weltflucht oder frommem Nichtstun zu tun, sondern dient den gutgesinnten Menschen zur gegenseitigen Unterstützung und zur gemeinsamen Beförderung des höchsten Guts. Der moralisch Handelnde findet hier einen weiteren Grund zur Hoffnung: Wir können nicht nur davon ausgehen, dass eine übersinnliche Macht uns Beistand leistet, sondern könnten uns (etwas handfester) in einem ethischen Gemeinwesen – um dessen Etablierung wir uns daher bemühen sollten – auch der diesseitigen Unterstützung durch Gleichgesinnte sicher sein. Wir müssten uns nicht mehr alleine um das Gute in der Welt bemühen, sondern könnten dies in einer Gemeinschaft tun. Auf diese Weise würden wir zudem die Unvernünftigkeit der Welt, die wir leidvoll erfahren müssen, vermindern können. Ein ethisches Gemeinwesen, das idealerweise einmal die gesamte Menschheit erfassen würde, würde die Welt (im Rahmen des Menschenmöglichen) zweifellos zu einem besseren und das bedeutet für Kant: zu einem vernünftigeren Ort machen.

image

1724

Immanuel Kant wird als viertes von neun Kindern im preußischen Königsberg geboren.

1740–46

Kant studiert Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften und Theologie. Nach seinem Studium arbeitet er als Hauslehrer, später als Privatdozent.

1770

Mit 46 Jahren erlangt Kant die von ihm lange ersehnte Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg.

1781

Die Kritik der reinen Vernunft erscheint, laut Schopenhauer das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben wurde.

1789

Französische Revolution.

1795

Kant entwickelt in Zum ewigen Frieden die einflussreiche Idee eines Völkerbundes freier Staaten zur Friedenssicherung.

1804

Kant stirbt in Königsberg.

image

Was dürfen wir hoffen?

image 43,3% der Deutschen glauben, dass die Welt von Gott erschaffen wurde.

image 38% der Deutschen glauben, dass Gott in den Lauf der Welt eingreift.

image 50,4% der Befragten sind der Meinung, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.

image 26% der Deutschen glauben, dass ein Mensch nach seinem Tod Rechenschaft für seine Taten ablegen muss.

image 40,2% der Deutschen glauben, dass man Glück bzw. Pech durch sein Verhalten beeinflussen kann.

image 32,2% der Deutschen glauben, dass höhere Mächte beeinflusst werden können.

Quelle: Statista, Statistisches Bundesamt

image

Zum Nachlesen

Immanuel Kant, Kants Werke, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (AA; KrV = Kritik der reinen Vernunft; KpV = Kritik der praktischen Vernunft; KU = Kritik der Urteilskraft).

image

Zum Weiterlesen

Lewis White Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, Stuttgart 1995.

Otfried Höffe, Immanuel Kant, München 1983.

Harold S. Kushner, Wenn guten Menschen Böses widerfährt, Gütersloh 2010.

Giovanni B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin/New York 1990.