PETER BIERI
und der angeeignete Wille

Unter dem Titel 180° strahlt der Musik- und Jugendsender VIVA seit dem Herbst 2012 eine Doku-Serie aus, in der es um Frauen und Männer geht, die ihr Leben grundlegend verändert haben. Auf der VIVA-Homepage heißt es: »Ob Drogenkrimineller oder Sektenaussteiger, Essgestörte oder Straßenkind – wir wollen wissen, wie junge Menschen das Ruder rumreißen und ihrem Leben aus eigener Kraft eine 180°-Wendung geben konnten«. Einer dieser jungen Menschen ist der vierundzwanzigjährige Danny aus Cottbus. Vor der Kamera erzählt er von seiner Kindheit, insbesondere von dem Bruch, den der Übergang von der Grund- zur Gesamtschule in seinem bis dahin recht behüteten Leben darstellte. Auf der Gesamtschule, so berichtet er, fand er schnell Anschluss, und in dem neuen Freundeskreis gehörten Rauchen, Trinken und Kiffen zu den üblichen Freizeitaktivitäten. Danny machte ohne zu zögern mit, denn: »Das war schon cool damals«. Und weil er sich unter dem Einfluss von Drogen wohl(er) fühlte, reifte in ihm nach und nach der Gedanke, was Drogen betrifft, alles einmal auszuprobieren – »Hauptsache immer rin in’en Kopp«. Alkohol und Marihuana waren für den Schüler schnell zum Standard geworden. Und so begann er mit Kokain, LSD, Ecstasy und Crystal Meth zu experimentieren. Schließlich wurde er – mit 15 Jahren – heroinabhängig. Seine Drogensucht finanzierte der Schüler hauptsächlich mit Diebstählen, Einbrüchen und Überfällen. Erst durch die Beschaffungskriminalität wurden Dannys Eltern auf die Sucht ihres Sohnes aufmerksam und forderten von ihm einen Entzug. Die Entgiftungskur traf den Jugendlichen härter als erwartet. Sie sollte die erste von vielen sein. Danny wurde bald klar, dass es mit der Entgiftung des Körpers nicht getan sein würde: »Du musst echt dein ganzes Leben auf’n Kopp stellen«. Dieses Projekt nahm er im Alter 20 Jahren in Angriff – mit Erfolg, wie man von VIVA erfährt.

Kann man sein ganzes Leben »auf’n Kopp stellen«? Und wenn ja, wie ist das möglich? Aus philosophischer Sicht schließt sich hier unmittelbar die Frage an, wie es mit der Freiheit des Menschen bestellt ist. Sind wir frei, uns für ein ganz neues Leben zu entscheiden? Können wir uns von Zwängen, Süchten, vielleicht sogar von bestimmten Charaktereigenschaften befreien? Oder ist Freiheit nur ein leeres Wort, eine Illusion, die sich spätestens mit den Erkenntnissen der modernen Neurobiologie als obsolet herausgestellt hat? Sind wir im Grunde nichts anderes als die Sklaven unserer neuronalen Verschaltungen und merken es nicht? Der Schweizer Philosoph Peter Bieri ist in seinem Buch Das Handwerk der Freiheit diesen Fragen auf den Grund gegangen. Seine befreiende Einsicht lautet: Freiheit ist keine Illusion. Der Freiheit kommt vielmehr eine Vollzugswirklichkeit zu, d.h. sie ist in dem Maße wahr, wie wir sie nutzen und an ihr arbeiten. Wer frei(er) sein will, muss etwas dafür tun!

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Unter der Schädeldecke eines Menschen befindet sich ein Gehirn, und dieses Organ ist irgendwie »zuständig« für das Denken ebenso wie für das Bewusstsein. Darüber herrscht seit langem ein Konsens. Was sich allerdings in neuerer Zeit verändert hat, sind die technischen Möglichkeiten, das Gehirn zu untersuchen. Als die Revolution in der Hirnforschung wird die funktionelle Magnetresonanztomografie betrachtet, ein bildgebendes Verfahren, das es sozusagen erlaubt, dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen. Mit Hilfe dieser Untersuchungstechnik, die auch als Hirnscan bezeichnet wird, trat die Hirnforschung im letzten Jahrzehnt einen regelrechten Siegeszug an. Von Neuroangelegenheiten ist seitdem allenthalben die Rede. Der Bluff beim Pokerspiel, das Böse im Menschen, das Wesen der Religion, ein Talent für Mathematik – nichts bleibt dem Hirnscan verborgen. Auf diese Weise, so scheint es, lassen sich restlos alle Fragen über das Wesen des Menschen beantworten und lassen sich sämtliche menschlichen Verhaltensweisen erklären.

Unser Denkorgan hat es im frühen 21. Jahrhundert zu einer beeindruckenden Popularität gebracht. Zahllose Bucherscheinungen sind dem Gehirn gewidmet. Ihre Titel sind mitreißend (Wir sind unser Gehirn: Wie wir denken, leiden und lieben), abenteuerlich (Das kleine Buch vom Gehirn: Reiseführer in ein unbekanntes Land), verstörend (Das Gehirn – ein Unfall der Natur: Und warum es dennoch funktioniert), nervenaufreibend (Inkognito: Das geheime Eigenleben unseres Gehirns) oder schlicht und sachlich (Das Gehirn: Eine Einführung). Krimifans haben die Qual der Wahl – wessen Gehirn soll im Mittelpunkt der spannenden Unterhaltung stehen: Gottes Gehirn, Einsteins Gehirn oder Kennedys Hirn? Passend zur Lektüre empfiehlt sich ein T-Shirt mit der Aufschrift In Brains We Trust. Und wer nicht gerne liest, sieht sich einfach einen der unzähligen Dokumentarfilme an, in denen das Gehirn die Hauptrolle spielt. Wie wäre es z. B. mit einer Expedition ins Gehirn? Auch die Kleinen werden bereits neuromäßig eingestimmt mit Büchern wie Gehirnforschung für Kinder – Felix und Feline entdecken das Gehirn oder Was passiert in meinem Kopf? So funktioniert dein Gehirn. Zeitschriften und Magazine, die etwas auf sich halten, widmen dem Gehirn regelmäßig Titelstorys und Sonderausgaben oder sie nennen sich gleich Gehirn und Geist. Zu alldem gibt es ein erfreuliches Merchandising-Angebot: Pudding in Gehirnform, Gehirn-Puzzles, künstliche Gehirne in Einmachgläsern, gehirnförmige Eiswürfel und Handtaschen, Gehirne zum Aufblasen und Gehirn-Lutscher mit Apfelgeschmack. Wer könnte (oder wollte) sich diesem ausgeprägten Kult um das Gehirn entziehen? Und kann es unter diesen Umständen überhaupt noch Zweifel an den Einsichten der Neuroforschung geben?

Die aufstrebende Hirnforschung hat unter anderem einem philosophischen Klassiker neue Aufmerksamkeit beschert, nämlich der Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt oder nicht. Die Antwort wortführender Vertreter der Neurowissenschaften fiel dabei unbarmherzig negativ aus. »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden!« – so lautete z. B. Wolf Singers eindrückliches Resümee in dieser Angelegenheit. (Die Frage, was wir als unfreie Wesen mit einem solchen Appell anfangen sollen, sei einmal dahingestellt.) Und weil die erwähnten Wortführer über die neuesten wissenschaftlichen Methoden verfügten, um ihre Behauptungen zu stützen, konnte ihnen scheinbar niemand ernsthaft widersprechen – oder höchstens ein paar renitente, unbelehrbare Philosophen.

Tatsächlich waren Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer nicht die Ersten, die versucht haben, uns die Freiheit auszureden, und sie werden ganz sicher nicht die Letzten sein. Berühmte Vertreter einer pessimistischen Position zur Freiheitsfrage sind z. B. Pierre Simon de Laplace und Arthur Schopenhauer. Was sich allerdings bei den Bestreitern der menschlichen Freiheit durch die Jahrhunderte und Jahrtausende geändert hat, sind die Faktoren, die der Freiheit im Wege stehen sollen. War es in der Antike noch das Schicksal, das sich nicht mit der Freiheit vereinbaren lassen wollte, so stand für den mittelalterlichen Freiheitsskeptiker fraglos die Allmacht Gottes im Mittelpunkt der Problematik. Später wurde dann mit den Produktionsverhältnissen, den Trieben oder den Strukturen gegen die Freiheit argumentiert. Und heute ist es das Gehirn, dessen Aktivitäten sich angeblich nicht mit der Idee der Freiheit vereinbaren lassen.

Wenn man sich nun vor Augen führt, dass das Bestreiten der Freiheit eine lange Tradition hat, dann wird man der Fairness halber auch zugeben müssen, dass die Gegenseite bislang zu keiner finalen oder allgemein akzeptierten Lösung des Problems der Willensfreiheit gelangt ist, obwohl es eine Reihe von interessanten und einflussreichen Freiheitstheorien gibt. Das Thema Freiheit ist offenbar nicht so unkompliziert, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Als daher zu Beginn des neuen Jahrtausends die Freiheitsdiskussion durch Behauptungen wie »Verschaltungen legen uns fest«, »Der Mensch ist nicht frei« oder »Ich bin mein Gehirn« wieder einmal so richtig in Schwung kam, stellte sich der Philosoph Peter Bieri selbst die Frage: »Was hast du an dem Thema nun eigentlich verstanden?« (HF, Vorwort). Sein Buch Das Handwerk der Freiheit ist, wie er schreibt, das Resultat des Versuchs, sich diese Frage zu beantworten. Um dies zu tun, unterzieht Bieri unter anderem das Phänomen des als unfrei empfundenen Willens einer eingehenden Analyse. Was ist eigentlich gemeint, wenn von einem zwanghaften Wollen und Handeln die Rede ist? Und was müsste passieren, damit an die Stelle der Erfahrung von Unfreiheit Freiheit treten könnte?

Zwanghaftes Wollen

»Nehmen Sie an, Sie sind einer Sucht verfallen. Stets von neuem greifen Sie zur Zigarette, Tablette oder Flasche. Vielleicht ist es auch eine Spielsucht, die Sie immer wieder ins Casino treibt. […] Oft schon war Ihnen danach endlich aufzuhören. […] Doch es hat nichts genützt. […] Sie sind unfrei, ein Sklave Ihrer Sucht. […] Schließlich enden Sie im Krankenhaus oder im Armenhaus« (HF 96 f.). Wen soll man nun für dieses traurige Ende der Geschichte verantwortlich machen? Einerseits gehört die Annahme, eine Sucht schließe Freiheit schlechterdings aus – zumindest im Hinblick auf die suchtbedingten Handlungen –, zum Common Sense. Wir sprechen davon, dass Süchtige »nicht anders können«, dass sie ihre Handlungen unter einem unwiderstehlichen inneren Zwang ausführen. Der Begriff »Sucht« ist ja geradezu dadurch definiert, dass wir es hier mit einem Gegensatz zu freien Entscheidungen und Handlungen zu tun haben. Andererseits wird man zugeben müssen, dass der Trinker trinken will, dass der Raucher rauchen will usw. Das traurige Ende im Kranken- oder Armenhaus müsste somit als das Resultat einer Reihe von Willensäußerungen des Süchtigen betrachtet werden. »,Bedauerlich‹, sagt man zu Ihnen, ›aber Sie wollten es ja so.‹ […] ›Schließlich wird niemand zum Trinken gezwungen‹, sagt man Ihnen weiter, oder: ›Für Sie bestand, wie für jeden anderen, die Möglichkeit, einen Bogen um das Casino zu machen‹. […] Das stimmt, und es stimmt nicht. Aber wie sollen Sie erklären, daß es so einfach nicht ist?«, fragt sich Bieri (HF 97).

Wer jemals versucht hat, sich von einer Sucht zu befreien, weiß, dass es so einfach nicht ist. Auf der einen Seite steht der Wille zum Spielen, Trinken usw., der den Süchtigen in Bewegung setzt, »gepaart mit routinierten Überlegungen und einer erstaunlichen Bereitschaft, das Nötige auf sich zu nehmen, auch wenn es unangenehme Dinge bedeutet, wie etwa ständigen Geldmangel« (HF 96) oder gewohnheitsmäßiges Lügen und Verheimlichen. Auf der anderen Seite steht die Einsicht des Süchtigen, dass das eigene Verhalten selbstdestruktiv ist, dass er sich systematisch in den körperlichen oder finanziellen Ruin treibt, dass er sich selbst um des Suchtmittels willen erniedrigt und mithin der Wunsch, sich von der Sucht zu befreien. Aber, und das ist das eigentliche Problem, die Einsicht in die negativen Folgen und der Wunsch, sich anders zu verhalten, werden nicht handlungswirksam. Das eigene Verhalten widersetzt sich den vernünftigen Überlegungen und folgt allem gegenteiligen Wünschen zum Trotz einem irrationalen inneren Zwang. Wer einer Sucht verfallen ist, ist mit seinem eigenen Handeln und Wollen nicht einverstanden und fühlt sich gleichzeitig außerstande, sich von dem Willen, den er ablehnt, zu befreien. »Die Ohnmacht des Zwanghaften besteht darin, daß er seinen Willen nicht zu lenken vermag. Er mag über ihn denken und urteilen, wie er will, der aufsässige Wille bleibt völlig unbeeindruckt davon und setzt ihn in die immer gleiche Richtung in Bewegung« (HF 99). Der zwanghafte Wille ist in diesem Sinne ein nicht kontrollierbarer Wille.

Ein Wille, der uns immer wieder in die gleiche Richtung in Bewegung setzt, muss nun nicht unbedingt mit dem Konsumieren von Suchtmitteln in Zusammenhang stehen. Ein zwanghafter Wille muss auch nicht in jedem Fall Konsequenzen haben, die Außenstehende verurteilen oder die den Wollenden unübersehbar schädigen. Es ist gar nicht so außergewöhnlich, dass ein Mensch bestimmte Verhaltensmuster aufweist, die sich durchaus im Bereich des für normal Erachteten, wenn nicht gar des gesellschaftlich Angesehenen bewegen und die nichtsdestoweniger in einem zwanghaften Willen wurzeln. »Es kann ein zwanghafter Wille sein, von dem andere profitieren und für den Sie Applaus ernten. Etwa ein Leistungszwang« (HF 98). Stellen Sie sich vor, Ihr Wollen und Handeln sei stets darauf ausgerichtet, die Beste zu sein. Die Ansprüche, die Sie an sich selbst stellen, sind enorm hoch, und alles, was dahinter zurückbleibt, betrachten Sie als persönliches Versagen. Eine Aufgabe nicht perfekt zu erfüllen, in einem Handlungsbereich schlechter als hervorragend zu sein, das können sich vielleicht die anderen erlauben, aber für Sie kommen solche Halbheiten überhaupt nicht in Frage. Zur Ruhe kommen Sie eigentlich nie, denn sobald Sie eine Aufgabe mit der Ihnen eigenen Perfektion erfüllt haben, »müssen Sie sofort die nächste Leistung wollen« (HF 98), auch wenn Sie insgeheim von einer Verschnaufpause träumen oder sich zuweilen fragen, warum Sie sich bei allem, was Sie erreicht haben, ausgebrannt und unglücklich fühlen.

Möglicherweise ist der Ursprung Ihres Strebens nach Erfolg in der Beziehung zu Ihren Eltern zu suchen, die ihre eigenen unerreichten Ziele und Ambitionen auf Sie, ihr Kind, übertragen haben. Kinder haben ein ausgesprochen feines Gespür dafür, welche – oft unbewussten und unausgesprochenen – Forderungen die Erwachsenen an sie stellen und welche Rolle sie innerhalb der Familie zu spielen haben. So haben auch Sie bereits sehr früh gelernt, dass sportliche Erfolge, gute Schulnoten oder andere Leistungen Ihnen die Zuneigung Ihrer Eltern sicherten. Sie lernten, sich nie mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben. Sie entwickelten sich zu einer Perfektionistin, die sich auch nicht die kleinste Nachlässigkeit durchgehen lassen konnte, die sich niemals eine Schwachheit erlaubte. Nun sind Sie zwar mittlerweile kein Kind mehr, aber vielleicht ist es nichtsdestoweniger so, »daß vieles von dem, was Sie tun, von Ihnen deshalb getan wird, weil Sie immer noch der verinnerlichten elterlichen Autorität gehorchen« (HF 98). Ohne zu wissen, woher Ihre Motivation eigentlich kommt, lassen Sie sich nach wie vor von dem Willen antreiben, die Beste zu sein. Ein solches zwanghaftes Verhaltensmuster kann, bei allem beruflichen Erfolg und gesellschaftlichem Ansehen, die daraus resultieren mögen, die Quelle von tiefem psychischem Leiden sein. »Sie sind nicht glücklich, denn Sie sind ständig außer Atem. Aber Sie können es nicht lassen« (HF 98).

Der Schwächling des Willens

Die Beschreibung des Leistungszwanges ermöglicht es, besser zu verstehen, worin genau die Problematik eines zwanghaften Willens besteht. Wir hatten uns zunächst mit Süchten beschäftigt, und einen Süchtigen, so Bieri, bezeichnet man gerne als willensschwach. An dem Beispiel der Leistungssklavin lässt sich jedoch zeigen, dass diese Einschätzung missverständlich ist. Einen ehrgeizigen, nach Erfolg strebenden Menschen würden wir nicht als willensschwach bezeichnen. Im Gegenteil: »Einen Leistungssklaven […] preisen wir als den Inbegriff der Willensstärke: Er gibt nie auf« (HF 100). Es sind nicht etwa Disziplin oder Selbstkontrolle, die dem zwanghaft Erfolgssüchtigen fehlen, er hat keine Probleme damit, ein einmal ins Auge gefasstes Ziel beharrlich und systematisch zu realisieren. Er wird sich unter Umständen auch durchbeißen und sich selbst alles abverlangen, um eine perfekte Leistung abzuliefern. Der Begriff der Willensschwäche hilft uns hier also nicht wirklich weiter, wenn wir die innere Dynamik des Zwanges verstehen wollen – zumindest nicht in seiner herkömmlichen Bedeutung. Man muss viel eher versuchen, die Problematik des zwanghaften Willens etwas differenzierter zu fassen. Die entscheidende Frage hierbei lautet: Was ist es, das dem Zwanghaften nicht gelingt? Bieri führt aus: »Was ihm nicht gelingt, ist nicht, einen anfänglichen Willen aufrechtzuerhalten, sondern einen alten durch einen neuen Willen zu ersetzen, der seinem Urteil entspräche. Sein Scheitern besteht nicht in der Kraftlosigkeit seines Wünschens, sondern in der Kraftlosigkeit seines Überlegens und Urteilens. Statt zu wollen, was er für das Beste hält, will er etwas, das er verurteilt« (HF 100). Der Zwanghafte wünscht sich, nicht trinken zu wollen oder nicht nach ständiger Perfektion streben zu wollen, aber er will es dennoch. Aus diesem inneren Widerspruch resultiert das Leiden des Zwanghaften: Er muss etwas wollen, das er nicht wollen will, da er es aus vernünftigen Gründen ablehnt. Es ist, als würde ein Fremdkörper in ihm sein Unwesen treiben und das Wollen und Tun des Zwanghaften auf eine Weise manipulieren, die diesen regelrecht zur Verzweiflung treibt. Wenn man daher einen zwanghaft Handelnden als willensschwach bezeichnet, so muss man den Begriff »Willensschwäche« in einem ganz bestimmten Sinne verstehen: »Was ihn [den Zwanghaften] zu einem Schwächling des Willens macht, ist, daß er es nicht schafft, den Willen zu entwickeln, den er im Lichte seines Überlegens haben möchte« (HF 101). Das rationale Überlegen und Entscheiden wird nicht handlungswirksam, wird also nicht zu einem Willen, der den Zwanghaften tatsächlich in Bewegung setzten würde. »Seine Schwäche, könnte man sagen, ist eine Entscheidungsschwäche« (HF 101), und zwar nicht im Sinne einer Unfähigkeit, sich zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden, sondern in dem Sinne, »daß ihm nicht gelingt, was ein Entscheiden ausmacht: als Erkennender und Urteilender über seinen Willen Regie zu führen« (HF 101). Das Resultat dieser Entscheidungsschwäche ist, dass der zwanghaft Handelnde von einem Willen geleitet wird, der sich konträr zu seinem Überlegen und Urteilen verhält.

Die Fremdheit des eigenen Willens

Dass der zwanghafte Wille im Gegensatz zu den Überlegungen und Urteilen eines Akteurs steht, hat, wie bereits angedeutet wurde, ein Gefühl der Selbstentfremdung zur Folge. Ein zwanghafter Wille wird, »auch wenn er formal gesehen ohne Zweifel der eigene ist« (HF 102), als fremd erlebt. Wie ist diese Erfahrung zu deuten? Zunächst einmal muss man den richtigen Gegensatz zu der beschriebenen Fremdheit finden. So stellt der fremde Wille nicht etwa den Kontrast zu einem vertrauten Willen dar. »Der Leistungswille, den Sie als etwas Fremdes abschütteln möchten, hat Sie das ganze Leben lang begleitet und ist Ihnen bis zum Überdruss vertraut« (HF 102). Tatsächlich müssen wir die Fremdheit des zwanghaften Willens als den Gegensatz nicht zur Vertrautheit, sondern zur Zugehörigkeit betrachten. Obwohl dieser Wille formal betrachtet mein eigener ist, obwohl er also in gewissem Sinne zweifellos zu mir gehört, erlebe ich den Willen nicht als zu mir gehörig. »Was Sie, wenn Sie unter einem zwanghaften Willen leiden, zornig und verzweifelt macht, ist, daß der fragliche Wille zwar in Ihnen ist, daß er aber von Ihnen abgespalten und Ihnen äußerlich ist. Deshalb kommt er Ihnen unfrei vor« (HF 102). Erinnern Sie sich an die eingangs formulierte Besonderheit, dass das Handeln z. B. eines Süchtigen zwar unzweifelhaft auf seinem eigenen Willen beruht, dass es aber gleichwohl aus dem Bereich der Freiheit und mithin der Eigenverantwortlichkeit herauszufallen scheint. Dieser merkwürdigen Zweideutigkeit begegnet man nun wieder: Der zwanghafte Wille, unter dem ich leide, ist mein Wille – wessen Wille sollte er auch sonst sein? –, aber irgendwie ist er es auch nicht – warum sollte ich sonst unter ihm leiden? Als einen freien Willen erleben wir demgegenüber einen Willen, der in einem emphatischen Sinne zu uns gehört, einen Willen also, mit dem wir uns identifizieren. Solange ich aber einen Willen, den ich habe, auf einer rationalen Ebene ablehne, kann von einer solchen Identifikation keine Rede sein.

Sprachlich kann man das Erlebnis der inneren Unfreiheit recht gut zum Ausdruck bringen durch Formulierungen wie: »Es kommt einfach über mich, ich kann nichts dagegen machen« oder »Es ist stärker als ich«. In der Unterscheidung zwischen ich und es »spiegelt sich einfach die Tatsache, daß wir uns wünschend zu unseren Wünschen und unserem Willen verhalten können« (HF 103). Mit »ich« bezeichnen wir nun dasjenige in uns, das wir auf einer höheren Ebene des Wollens und Urteilens bejahen, während wir »es« dasjenige nennen, das wir auf dieser höheren Ebene des Wollens und Urteilens ablehnen. Nehmen wir an, ich fände in mir unter anderem den Willen, einen beruflichen Aufstieg zu erreichen, sowie den Willen, in regelmäßigen Abständen eine Zigarette zu rauchen. Aufgrund meiner Überlegungen und Wertungen bin ich mit meinem Willen, meine Karriere voranzutreiben, absolut einverstanden. An der Aussicht auf neue Herausforderungen, auf mehr Erfolg und mehr Geld kann ich nichts Schlechtes finden, und den Verlust von freier Zeit bin ich bereit in Kauf zu nehmen. Ich bejahe diesen Willen und identifiziere mich mit ihm, und das lässt mich ihn als einen freien Willen erleben. Den Willen, regelmäßig zu rauchen, hingegen lehne ich aufgrund meines rationalen Urteilens ab. Rauchen ist ungesund, sage ich mir, zudem ist es teuer, und es schlägt mir auf den Kreislauf. Ich muss unbedingt damit aufhören! Aber es ist so schwierig … Der Wille, zu rauchen, wird auf der Grundlage meiner Überlegungen von mir als störend und quälend erlebt. »Es« drängt mich zu dieser Angewohnheit, die »ich« ekelhaft und nervend finde. Ich fühle mich fremdbestimmt und somit unfrei im Hinblick auf meinen Zigarettenkonsum. Dabei entstammen beide, der Wille und die rationale Überlegung, mir selbst.

Ob wir uns frei fühlen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unsere Freiheit kann zum einen von außen beschränkt werden, durch Umstände und Ereignisse, auf die wir oft keinen Einfluss haben: Meine Kurzsichtigkeit erlaubt es mir nicht, als Pilotin zu arbeiten; das schlechte Wetter lässt meine geplante Grillparty ins Wasser fallen; mein leeres Konto steht mir bei der Erfüllung so mancher materieller Wünsche im Wege; mein fehlendes musikalisches Talent vereitelt meinem Traum von der Gesangskarriere. Die Beschränkung des Freiheitsspielraums, genauer gesagt des Handlungsspielraums, besteht in diesen Fällen darin, dass ein bestimmter Wille nicht realisiert werden kann, aufgrund der Beschaffenheit der Welt, aufgrund der Beschränktheit von Mitteln oder aufgrund fehlender Fähigkeiten.

Die Freiheit kann zum anderen von innen her beeinträchtigt werden, wie uns die Beschreibung des zwanghaften Willens gezeigt hat. Hier geht es nun nicht mehr darum, dass ein Wille nicht verwirklicht werden kann, weil bestimmte äußere Bedingungen es nicht zulassen, sondern es geht darum, dass ein handlungswirksamer Wille resistent bleibt gegenüber unserem Überlegen und Urteilen. Wir erfahren unsere Freiheit in diesem Fall als eingeschränkt durch einen Willen, der zwar der unsrige ist, den wir aber gleichzeitig ablehnen und als irgendwie abgespalten und nicht zu uns gehörig empfinden. Die Freud‹sche Rede vom »inneren Ausland« umschreibt diese Erfahrung recht treffend.

Bieri fasst die Charakteristik des zwanghaften, unser Freiheitserleben von innen her bedrohenden Willens folgendermaßen zusammen: »Die Erfahrung des inneren Zwanges […] setzt sich aus zwei Elementen zusammen: der Unbeeinflußbarkeit eines Willens und seiner Fremdheit im Sinne der Ablehnung« (HF 103). Was können wir nun gegen diese innere Einschränkung unserer Freiheit tun? Gibt es für Bieri überhaupt die Aussicht auf eine (Wieder-)Gewinnung unserer inneren Freiheit und mithin auf ein philosophisches »Heilmittel« gegen das Leiden an den Gefühlen der Fremdbestimmtheit?

Die Arbeit an der Freiheit

Wie wollen wir leben? Dieser existenziellen Frage hat Bieri eine Reihe von Vorlesungen gewidmet, die 2010 als Buch erschienen sind. Der erste Satz darin lautet: »Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen« (WL 7). Das bedeutet zum einen, dass wir nicht möchten, »daß uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben« (WL 8). Es geht also um die Freiheit von äußerer Tyrannei. Aber Selbstbestimmung ist auch in einem anderen Sinne zu verstehen, nämlich als »innere Lebensregie« (WL 9). In dieser zweiten Lesart geht es nicht um Unabhängigkeit gegenüber anderen, sondern darum, »der Autor und das Subjekt meines Lebens zu werden: indem ich Einfluß auf meine Innenwelt nehme, auf die Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, aus der heraus sich meine Handlungen ergeben« (WL 9). Innere Selbstbestimmung verträgt sich nicht mit Phänomenen wie dem oben beschriebenen zwanghaften Wollen, das man eigentlich ablehnt, aber dennoch nicht loswird. Selbstbestimmt ist unser Leben nämlich dann, »wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten« (WL 13).

Nun ist es zweifellos so, dass wir »nicht nach Belieben, ohne Vorbedingungen und aus dem Nichts heraus, darüber bestimmen, was wir denken, fühlen und wollen« (WL 9). Unser Innenleben ist schließlich wesentlich beeinflusst und geformt durch Faktoren, die wir nicht gewählt haben, z. B. durch unsere Ursprungsfamilie. Vieles von dem, was uns – und mithin unsere neuronalen Verschaltungen – geprägt hat, hat sich in unserer frühesten Kindheit abgespielt. Und an manchen Faktor, der sich bis heute in unserem Erleben und Wollen niederschlägt, werden wir uns gar nicht mehr erinnern können. Innere Freiheit ist vor diesem Hintergrund etwas, das einem nicht automatisch gegeben ist, sondern »das man sich erarbeiten muß. Man kann dabei mehr oder weniger erfolgreich sein, und es kann Rückschläge geben« (HF 383). Die Arbeit an der Willensfreiheit ist somit nicht als einmaliges Ereignis zu verstehen, sondern als eine langfristige, vielleicht lebenslange Bemühung um ein »zerbrechliches Gut« (HF 383), das aufgrund seiner Fragilität und seiner Kostbarkeit gehegt und gepflegt werden muss. Zudem bleibt es fraglich, ob die innere Freiheit jemals vollständig zu erreichen ist, ob es uns also gelingen kann, uns von jeglichen als fremd empfundenen und unkontrollierten Aspekten unseres Innenlebens zu befreien. »Vielleicht ist sie [die Willensfreiheit] eher wie ein Ideal, an dem man sich orientiert, wenn man sich um seinen Willen kümmert« (HF 383).

Wie man sich nun um seinen Willen kümmert, das führt Bieri im abschließenden und für unseren Zusammenhang zentralen Kapitel von Das Handwerk der Freiheit aus. Unter dem Titel Die Aneignung des Willens präsentiert er »die Gesamtheit der Dinge, die man unternehmen kann« (HF 383), um dem Ideal der Willensfreiheit näherzukommen. Die Arbeit an der inneren Freiheit, so zeigt sich dabei, hat drei Dimensionen: Artikulation, Verstehen und Bewerten. Die entsprechenden Aspekte der Unfreiheit, die es demnach zu »bearbeiten« gilt, sind die Ungewissheit über das, was man eigentlich will, das Unverständnis gegenüber dem eigenen Willen, den man daher als fremd empfindet, und die Missbilligung eines handlungsleitenden Willens, wie wir sie bereits am Beispiel der Leistungssklavin kennengelernt haben.

Die Artikulation des Willens

»Es ist erstaunlich schwierig zu wissen, was man will« (HF 385). Sicher, das alltägliche, kurzfristige Wollen stellt in der Regel kein allzu großes Mysterium dar: Ich will den 8-Uhr-Bus zur Arbeit nehmen, ich will mir morgen einen neuen Laptop kaufen, ich will heute Abend Spaghetti kochen. Aber wenn es um die Fragen geht, was wir eigentlich mit unserem Leben als Ganzem anfangen wollen und was die allgemeine, übergeordnete Motivation unserer täglichen Handlungen ist, dann fällt es uns oft überraschend schwer, hierauf eine Antwort zu finden. »Es ist vor allem der langfristige Wille, über den wir oft im Unklaren sind. Wenn wir innehalten und uns fragen, was uns insgesamt antreibt und welche Wünsche es sind, die unserem Leben gerade diese Gestalt geben, so kann es uns vorkommen, als stünden wir vor einer undurchdringlichen Wand der Unwissenheit« (HF 385). Um aber an seinem Willen arbeiten zu können, muss man ihn zuallererst kennen. Man muss wissen, womit man es überhaupt zu tun hat.

Wie verschafft man sich Klarheit über seinen Willen? Eine direkte Innenschau ist offenbar nicht möglich, andernfalls bestünde das Problem der Undurchsichtigkeit des langfristigen Willens ja gar nicht. Man muss sich seinem Willen also auf Umwegen nähern, um ihn artikulierend fassen zu können. Hierzu muss man zunächst einmal Abstand nehmen zum alltäglichen Handeln, Wünschen und Urteilen, dessen übergeordneter und impliziter Sinn der in Frage stehende Wille ist. Die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, »einen Schritt hinter sich selbst zurückzutreten und einen inneren Abstand zum eigenen Erleben aufzubauen« (WL 12) ist für die Arbeit an innerer Selbstständigkeit von zentraler Bedeutung. Wir Menschen können uns selbst zum Thema werden und uns auf dieser Basis »um uns selbst kümmern« (WL 12).

Wir müssen also – vielleicht zum ersten Mal – aus unserer üblichen Geschäftigkeit bewusst heraustreten und uns selbst aus dieser Abständigkeit heraus die Frage stellen: Was tue ich hier eigentlich? Worauf läuft mein Handeln auf lange Sicht hinaus? Welche Situationen schaffe ich damit? »Wichtig ist dabei, daß der Gehalt des Willens durch die Worte äußerlich gemacht wird. Wenn man ihn in Worte gefaßt hat, kann er einem gewissermaßen von außen entgegentreten, und nun hat man etwas vor sich, das man überprüfen, korrigieren und genauer machen kann« (HF 385). Erst wenn man weiß, mit welchem Willen man es zu tun hat, kann man diesen »bearbeiten«.

Es bedarf gewissermaßen einer Außenwendung statt einer Innenwendung, um zu erkennen, welcher Wille uns langfristig antreibt. Wenn ich mich nun einer solchen Selbstbetrachtung offen und aufrichtig zuwende, kann dabei die eine oder andere Selbsttäuschung zu Tage treten. So war ich beispielsweise bisher stets der Meinung, mein langfristiges Ziel sei beruflicher Erfolg – dieses Ziel verfolgt doch schließlich fast jeder, also warum nicht auch ich? Eine distanzierte Betrachtung meines täglichen Wünschens und Handelns lässt mich aber erkennen, dass es sich hierbei um einen Irrtum (oder eine Lüge?) handelt, denn faktisch tue ich nichts, was auf einen Willen zu beruflichem Erfolg schließen ließe. Eher im Gegenteil: Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich beruflichen Herausforderungen aus dem Weg gehe und keine Ambitionen verspüre, meine Position zu verbessern. Die Bemühung, mir Klarheit über meinen Willen zu verschaffen, führt somit zu einer realistischeren Sicht auf mich selbst: Mein Wille richtet sich nicht auf beruflichen Erfolg, wie es mir spontan in den Sinn kam, sondern darauf, ein ruhiges Leben zu führen mit viel freier Zeit für meine Familie und Freunde. Bieri stellt fest: »Artikulation als der erste Schritt der Aneignung ist unter anderem die Anstrengung, Lebenslügen, sofern sie den Willen betreffen, aufzulösen und durch eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme des eigenen Wünschens zu ersetzen« (HF 388). Ehrlichkeit gegenüber sich selbst ist unabdingbar für die innere Selbstbestimmung, denn Selbsttäuschungen und Rationalisierungen verstellen den Blick auf die wahren Wünsche und damit »rauben sie mir die Chance, mich damit auseinanderzusetzen und zu einem realistischen Selbstbild zu gelangen, wie es für Freiheit Voraussetzung ist« (WL 388).

Wie Bieri betont, sind es nicht nur oder nicht primär Worte, die bei der Artikulation des Willens helfen. »Was ich will, kann sich auch in den Bildern zeigen, die ich male, und in den Bildern, die meine Phantasie und meine Träume bestimmen. Worauf es ankommt, ist die Zeichen richtig zu deuten« (HF 386). Die entscheidende Frage lautet also nicht nur: Was tue ich?, sondern auch: Wovon träume ich?

Das Verstehen des Willens

Einen Willen, den wir zwar artikulieren können, dessen Existenz wir aber nicht verstehen, empfinden wir als einen Fremdkörper in unserem Inneren, der unsere Freiheit bedroht. Aber was bedeutet es eigentlich, den eigenen Willen nicht zu verstehen? Bieri führt ein weiteres Beispiel an, um zu verdeutlichen, worum es ihm geht: »Nehmen Sie an, Sie sind jemand, der die Nähe anderer sucht, auch die körperliche Nähe in ihren vielen Ausprägungen. Ein großer Teil ihres Handelns ist um diese Art von Wunsch herum angelegt. Doch dann, als käme es von einem anderen Stern, überfällt Sie immer wieder das übermächtige Bedürfnis nach viel leerem Raum um sich herum, Sie suchen das Weite und kommen erst am Rande eines großen, leeren Platzes zur Ruhe« (HF 389). Dieses Gefallen an leeren Plätzen »gibt Ihnen das Gefühl, in ihrem Willen zutiefst unfrei zu sein« (HF 389). Der Grund dafür ist, dass der als fremd empfundene Wunsch nach leerem Raum »seinem Gehalt nach nicht zum sonstigen Wunschprofil der Person paßt« (HF 391). Dieser Wille lässt sich scheinbar nicht mit den übrigen Wünschen vereinbaren. Ein unverstandener Wille passt anders gesagt nicht zu dem Bild, das eine Person von sich selbst hat. Der Versuch, sich den ungereimten Willen verstehend anzueignen, muss folglich darin bestehen, sich einen Reim darauf zu machen, d.h. den Sinn dieses scheinbar sinnlosen Willens zu entdecken. Die entsprechende Suche richtet sich auf »eine Interpretation, die den zunächst unverständlichen Willen für das Verstehen öffnet« (HF 391).

Um sich dem unverstandenen Willen interpretierend zu nähern, bedarf es zunächst einer genaueren Betrachtung und Artikulation desselben. Man könnte auch sagen, dass es eine eingehendere Selbstanalyse erfordert. Bei dem Beispiel von Bieri müsste es darum gehen, den Wunsch, sich auf leeren Plätzen aufzuhalten, zu spezifizieren: »Ist es leerer Raum überhaupt, den Sie sich um sich herum wünschen? Oder ist es die Abwesenheit bestimmter Dinge, um die es Ihnen geht? […] Oder sind es im besonderen Menschen, die Sie nicht da haben wollen?« (HF 392) usw. Durch diese Untersuchung und Selbstbefragung gelangt man zu größerer Klarheit und kann dann versuchen, den genauer bestimmten Willen zu interpretieren. Dabei kann es aufschlussreich sein, seiner Entstehung nachzuspüren. Welche Umstände, welche Ereignisse in der persönlichen Entwicklungsgeschichte lassen den Willen möglicherweise verstehbar werden – »als bedeutungsvolle Antwort auf eine bedeutungsvolle Situation« (HF 391)? Auch kann es nötig sein, sich mit den scheinbar verstandenen, unproblematischen Wünschen zu beschäftigen, denn »vielleicht kennen Sie sich einfach in der inneren Landschaft Ihrer Wünsche nicht genügend aus, um erkennen zu können, daß der Wunsch nach Abstand ganz gut hineinpaßt« (HF 392). Sie könnten z. B. herausfinden, dass Ihr Bedürfnis nach Nähe ambivalent ist und die Angst vor Abhängigkeit beinhaltet. Ihre Fluchtreflexe wären dann verstehbar als ein Ausdruck dieser Angst.

Was auch immer als Sinn des unverstandenen Willens zu Tage tritt, die verstehende Annäherung wird dem zunächst als störend empfundenen Willen Stück für Stück seine Fremdheit nehmen. »Es ist, als rückte der Wunsch durch das wachsende Verstehen näher an Sie heran, so daß Sie ihn immer mehr als etwas erleben können, das zu Ihnen gehört, und immer weniger als etwas, das Ihre Freiheit bedroht« (HF 393). Wenn es gelingt, dem Sinn eines unverstandenen Willens auf die Spur zu kommen, dann vergrößert das den Spielraum der inneren Freiheit. »Das ist in einem doppelten Sinne so. Zum einen verschwindet der Eindruck, daß ein Riß durch uns hindurch geht und daß es Wünsche gibt, die als Fremdkörper in uns wuchern. […] Zum anderen kann das Verstehen zu einer inneren Umgestaltung führen, die den Wunschkonflikt zum Verschwinden bringt« (HF 395). Das Benennen und das Verstehen des Willens lassen das eigene Innenleben nicht unberührt, wie Bieri betont, sondern setzen eine Dynamik der Umgestaltung in Gang. Die Arbeit an sich hat damit begonnen, und es sind zwei wichtige Voraussetzungen dafür erfüllt, dass der betreffende Wille zu einem solchen werden kann, mit dem ich mich identifiziere. Auf dem Weg zum angeeigneten Willen und mithin zur inneren Freiheit ist mit der ehrlichen Selbstanalyse bereits ein großer Schritt getan.

Das Bewerten des Willens

»Wachsende Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit« (HF 397). Ein zentraler Aspekt innerer Selbstbestimmung fehlt aber noch. Man kann ihn als Einverständnis mit sich beschreiben. Einen Willen, den man hat, zu identifizieren und zu verstehen ist der unabdingbare Anfang der Arbeit an der Freiheit, doch »die denkende und verstehende Einstellung ist nicht die einzige, auf die es ankommt. […] Was hinzukommen muß, ist ein innerer Abstand zu unserem Willen, der darin besteht, daß wir ihn bewerten« (HF 398). Nur wenn man einen artikulierten und verstandenen Willen auch gutheißt, kann davon gesprochen werden, dass dieser Wille im emphatischen Sinne der eigene ist.

Wenn nun Bieri davon spricht, dass es nötig ist, seinen Willen zu bewerten, dann wirft das die Frage auf, von welchem Standpunkt aus diese Bewertung stattfindet. Wo kommen die Bewertungen her, und was ist das Kriterium dafür, dass man einen Willen ablehnt oder gutheißt? Eine denkbare Möglichkeit wäre es, den eigenen Willen zu bewerten, indem man seine Funktionalität einschätzt. Die leitende Frage würde dann lauten: »Welche meiner Wünsche sind funktional günstig, welche dagegen störend und schädlich? Dieser Blickwinkel bedeutet eine nüchterne Bilanzierung der Art und Weise, wie ich mit meinen Wünschen in der Welt, wie sie nun einmal ist, zurechtkomme« (HF 398). Ich will immer und bei allem die Beste sein? Gut so, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der Ehrgeiz und Konkurrenzdenken wichtige Erfolgskriterien sind. Ich will lieber wahrhaftig sein, als mich überall beliebt zu machen? Das ist zweifellos ungünstig in einer Welt, in der Selbstmarketing eine große Rolle spielt und in der man sich mit kritischem Denken unbeliebt macht. Aber würde eine derartige, rein funktionale Bewertung des eigenen Willens wirklich zu einem Mehr an innerer Selbstbestimmung führen? Kaum, denn maßgeblich für die Arbeit an sich sind in dieser Betrachtungsweise gesellschaftliche Gegebenheiten und Normen. Das Kriterium für das Gutheißen eines Willens läge mithin außerhalb unserer selbst, so dass es hier viel eher um eine möglichst reibungsfreie Anpassung als um eine eigenwillige Selbstbestimmung ginge. Bieri schlägt daher eine »ganz andere Form der Bewertung« vor, deren leitende Fragestellung lautet: »Welchen Willen möchte ich haben, und welchen nicht, gleichgültig, was er mir nützt? Hier geht es um die Frage, was für eine Art Person ich sein möchte. Es geht, wie wir sagen, um mein Selbstbild« (HF 398). Diese Betrachtungsweise wirft vielleicht ein ganz anderes Licht auf das eigene Wollen. Wenn die Funktionalität nicht das entscheidende Kriterium ist, »stört es mich nicht, daß mich meine einzelgängerischen Wünsche ins Abseits treiben, und mein Leistungswille, obgleich zweckmäßig, geht mir auf die Nerven« (HF 399).

Wie man wird, wer man sein will

Unser Leben ist selbstbestimmt, wenn es uns gelingt, es im Einklang mit unserem Selbstbild zu leben. Selbstbestimmt sind wir also dann, wenn wir mit unserem Wollen einverstanden sind, weil es unserer Vorstellung davon entspricht, wer wir sein möchten. Selbstbestimmung ist also eine Art von Einverständnis mit sich. Dabei gilt es allerdings Folgendes zu bedenken: Das Selbstbild ist zwar der Maßstab für die Bewertung und Aneignung von Wünschen, aber dieser Maßstab ist nicht unveränderlich und unanfechtbar. Es ist deshalb nicht so, »daß es eine Beeinflussung nur in der einen Richtung gibt, indem das Selbstbild die bewerteten Wünsche zur Anpassung zwingt. Es gibt auch die umgekehrte Erfahrung: Selbstbilder verändern und entwickeln sich unter dem Einfluß von Wünschen, die nicht zu ihm passen. Das ist die Erfahrung, daß sich in mir ein Wille herausbildet, der nicht mehr zum bisherigen Selbstbild paßt, der aber deswegen nicht als fremd gebrandmarkt wird, sondern umgekehrt eine Überprüfung des Selbstbilds erzwingt« (HF 402). Erinnern Sie sich zur Veranschaulichung noch einmal an den Wunsch, sich auf leeren Plätzen aufzuhalten. In Bieris Beispiel wurde dieser Wunsch als Fremdkörper empfunden, weil er nicht mit den übrigen Wünschen bzw. mit dem Selbstbild der betreffenden Person zusammenpasste. Für die Erfahrung der inneren Freiheit wäre aber gerade ein solches Zusammenpassen die Voraussetzung. Nun scheint es auf den ersten Blick so zu sein, dass der widerspenstige Wunsch, sich auf leeren Plätzen aufzuhalten, das eigentliche Problem ist. Möglicherweise wird sich aber im Laufe einer eingehenden Reflexion herausstellen, dass es eigentlich das Selbstbild ist, das nicht mehr so recht passen will, während der als fremd empfundene Rückzugsimpuls Ausdruck eines authentischen Erlebens ist. Das Selbstverständnis, eine Person zu sein, die menschliche Nähe sucht und liebt, entpuppt sich dann vielleicht als eine Fortführung von Vorstellungen und Anforderungen, die von außen an einen herangetragen wurden. Jemand wurde beispielsweise als Kind dazu angehalten, lieb, hilfreich und umgänglich zu sein, und war schließlich der Überzeugung, diese Eigenschaften würden sein innerstes Wesen ausmachen. Der irritierende Wunsch, auszubrechen und alleine zu sein, kann dann zum Anlass werden, das eigene Selbstbild auf den Prüfstand zu stellen und unter Umständen zu revidieren. Plötzlich wird dem Betreffenden klar: Dieser Mensch möchte ich eigentlich gar nicht (mehr) sein! Deswegen ist für die Arbeit an der Freiheit das Verstehen so wichtig: »Die bewertende Übereinstimmung mit mir selbst muß, wenn sie zur Erfahrung der Freiheit beitragen soll, etwas sein, […], das sich aus dem Verstehen meiner selbst ergibt« (HF 404).

Über innere Freiheit entscheiden nach Bieri nicht die Resultate eines Hirnscans oder der philosophische Streit um die Begriffe von Kausalität und Unbedingtheit. Freiheit als Selbstbestimmtheit ist viel eher ein Projekt, eine praktische Aufgabe, der man sich ernsthaft widmen muss. Freiheit ist keine Illusion, aber auch keine simple Gegebenheit. Sie kann Wirklichkeit werden, wenn man sich um sie kümmert – das ist Bieris optimistische Überzeugung. Bei der Arbeit an der Freiheit geht es um »Genauigkeit und Tiefe der Artikulation, die eine größere Reichweite des Verstehens vorbereitet, das wiederum zu einer Bewertung führen kann, die uns erlaubt, in größerem Umfang aus einem Willen heraus zu leben, den wir gutheißen können. Und dieser Zusammenhang gibt der Rede von der ›Identifikation‹ mit dem eigenen Willen und seiner ›Zugehörigkeit zu uns selbst‹, die zunächst wie eine hohle Beschwörung von Worten aussehen konnte, einen reichen und genauen Sinn« (HF 408).

Wenn man nun Bieris Ausführungen zur Arbeit an der Freiheit betrachtet, darf man nicht den Fehler machen, sich diese Arbeit mit ihren drei Schritten des Artikulierens, Verstehens und Bewertens zu schematisch vorzustellen. Insbesondere muss man sich klarmachen, dass es nicht um eine reine Bestandsaufnahme und »Sortierarbeit« gehen kann: Hier sind die guten Wünsch, mit denen ich einverstanden bin, und da sind die schlechten Wünsche, die meine Freiheit beschränken. Es gilt vielmehr eine Besonderheit zu beachten: »In den meisten Fällen verändert die Anstrengung, eine Sache zu erkennen, diese Sache nicht. Wenn wir versuchen, die Planeten und ihre Bahnen zu erkennen, so verändern sich die Planeten und ihre Bahnen dadurch in keiner Weise. […] Anders verhält es sich, wenn wir uns erkennend mit unserem Denken, Erleben und Wollen beschäftigen. […] Hier greift das Erkennen in das Erkannte ein« (WL 42f.). Selbsterkenntnis bringt Selbstveränderung mit sich. Die verschiedenen Aspekte der Arbeit an der Freiheit lassen den Willen und das Selbstbild nicht unberührt, sondern setzen eine Dynamik und einen Prozess der Selbsttransformation in Gang, dessen Ausgang unklar ist. Möglicherweise wird man sich von einem zwanghaften Willen befreien, vielleicht wird sich aber auch das Selbstbild ändern, und unter Umständen werden innere Konflikte zu Tage treten, von denen man gar nichts geahnt hat. In jedem Fall bringt die Arbeit an der Freiheit Bewegung in das eigene Innenleben: »Das Bröckeln alter Bewertungen und vermeintlicher Einsichten, den Willen betreffend, und das Entstehen neuer Strukturen – all das gleicht eher einer geologischen Umschichtung als einem planvollen Spiel« (HF 415).

Klar ist bei alldem, dass es auf die Frage nach der inneren Freiheit keine »verbindliche und endgültige Ja-nein-Antwort« (HF 409) gibt. Die Freiheit des Willens ist etwas, »das kommen und gehen, erreicht werden und wieder verloren gehen kann. Wie sollte es anders sein können, wo doch unsere Wünsche und alles, was wir über sie denken, offensichtlich in einem ständigen Fließen begriffen sind, weil wir uns in jeder Sekunde mit einer fließenden Welt auseinandersetzen müssen?« (HF 409). Freiheit ist auch nichts, was man ein für alle Mal erreichen könnte, um sich dann auf ihr auszuruhen. »Sich einen Willen anzueignen ist ein holpriger Prozeß mit Rückschlägen« (HF 415). Aber es lohnt sich, sich auf diesen holprigen Weg zu machen, denn mit der Arbeit an der Freiheit ist die Erfahrung verbunden, »daß wir uns ein größeres Stück der Innenwelt zu eigen machen. Wir breiten uns in unserem Subjektsein immer weiter nach innen aus, so daß das Erlebnis, von unseren Wünschen auf blinde Art und Weise bloß getrieben zu werden, seltener und das Bewußtsein, Herr der Dinge zu sein, häufiger wird« (HF 411).

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1944

Peter Bieri wird in Bern geboren.

1963

Bieri verlässt die Schweiz, um in London Indologie und Anglistik zu studieren. Ein Jahr später wechselt er an die Heidelberger Universität und belegt die Fächer Philosophie und Philologie.

1973 – 75

Forschungsaufenthalte in den USA, an den Universitäten Berkeley und Harvard.

1990 – 93

Bieri ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Marburg.

2001

11. September: Islamistisch motivierte Terroranschläge auf wichtige zivile und militärische Gebäude in den USA.

2004

Unter dem Pseudonym Pascal Mercier veröffentlicht Bieri den Roman »Nachtzug nach Lissabon«.

2007

Bieri zieht sich vorzeitig aus dem akademischen Betrieb zurück.

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Neuronale Plastizität

»Unser Gehirn ist nicht starr verdrahtet wie ein Computer. Es wird ständig umgebaut und an neue Erfordernisse angepasst – sei es als Reaktion auf Umweltbedingungen, weil wir etwas Neues gelernt haben, oder wenn sich das Gehirn von einer Schädigung erholen muss. Diese so genannte neuronale Plastizität begleitet uns ein Leben lang.

So ist laut Studien bei Londoner Taxifahrern das für die räumliche Orientierung zuständige Hirnareal vergrößert. Und wenn man Jonglieren lernt, verändern die für Bewegungen zuständigen Hirnareale ihre Gestalt. Es finden sich sogar zunehmend Hinweise darauf, dass selbst im Gehirn von Erwachsenen noch neue Nervenzellen entstehen – was lange als ausgeschlossen galt.«

Quelle: www.mpg.de

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Zum Nachlesen

Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main 2009 (HF).

Peter Bieri, Wie wollen wir leben?, St. Pölten/Salzburg 2011 (WL).

http://www.viva.tv/news/15501–180-wahrelebensgeschichten (letzter Abruf 17.5.2013).

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Zum Weiterlesen

Svenja Flaßpöhler, Neu anfangen, in: Philosophie Magazin, 05/2012, S. 46–51.

Volker Gerhardt/Gerhardt Roth, Wie flexibel ist mein Ich?, Gespräch mit Svenja Flaßpöhler, in: Philosophie Magazin, 05/2012, S. 52–57.

Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt am Main 2004.

Felix Hasler, Kritik an Neuroscans: »Hirnforscher sollten nicht überreizen«, Interview mit dem Spiegel, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kritik-anfmrt-hirnscans-interview-mit-felix-hasler-a-867591.html (letzter Abruf 15.07.2013).

Uwe an der Heiden/Helmut Schneider (Hrsgg.), Hat der Mensch einen freien Willen? Die Antworten der großen Philosophen, Stuttgart 2007.

Geert Keil, Willensfreiheit und Determinismus, Stuttgart 2009.

Birgit Recki, Freiheit, Stuttgart 2009.