Ich singe. Ich stehe auf der Bühne und singe, und ich weiß nicht, warum ich diesen uralten Song ausgegraben habe. »Child in time« von Deep Purple. Vielleicht weil retro gerade in ist. Vielleicht weil ich den Text nicht ganz kapiere und es trotzdem wehtut. Vielleicht als Kontrast zu der peinlichen Rap-Einlage von Ole, der mit Anzug und Krawatte mit Sicherheit als Unternehmensberater enden wird. Wie sein Vater.
Die beiden stehen vor der Bühne. Mit Wunderkerzen. Arm in Arm. Schwankend. Besoffen. Vereint. Das Leben kann so vorhersehbar sein. Und diese Veranstaltung ist der Gipfel der Durchschnittlichkeit. Alles schon da gewesen. Eine Kopie. Genau wie unser lächerliches Abi-Motto:
ABI 2019, THE WINNER TAKES IT ALL
Die Mehrheit hat gesiegt. Leider. Sogar Kugelschreiber tragen unseren Spruch. Damit wird unser Jahrgang sicher nicht in die Geschichte eingehen. Eigentlich schade. Wollen wir doch alle ein bisschen berühmt sein. Aber wir sind so langweilig, so angepasst, so durch und durch normal, dass man die Szene problemlos in die Timeline Tausender Teenager auf der ganzen Welt einfügen könnte, die dieses Jahr Abiball feiern. Und nächstes Jahr. Und übernächstes. Und bis in alle Ewigkeit. Amen.
Die Welt steht uns offen: studieren, jobben, reisen, rumhängen, helfen, träumen, lachen, ficken.
#abiforever #kiffenundsaufen #stretchlimo #ichwarauchdabei
Tippende Finger. Leuchtende Handydisplays, als wir am Ende des offiziellen Programms unseren Song anstimmen. Den Song des Abi-Jahrgangs 2019: »We are the Champions«. Das ist kein Scherz. Ich wäre froh, wenn es einer wäre, aber nein, das hier ist die Wirklichkeit, und ich bin ein Teil davon.
Ich singe mit. Wodka ist die Lösung. Die Zeit ist stehen geblieben. Und die Eltern lieben uns dafür. Sie können mitsingen, mitschwingen, mit uns auf einer Wellenlänge liegen. Ich verdrücke mich hinter die Bühne. Meine Mutter ist schon gegangen. Sie war müde, und jetzt ist es nach Mitternacht. Ich glaub, sie war glücklich, als sie mich da oben gesehen hat. Mit der Party und den Leuten konnte sie nicht ganz so viel anfangen. Das weiß ich. Auch wenn sie sich Mühe gegeben hat, nicht aufzufallen. So angepasst schick hab ich sie selten gesehen. Sie ist eine Rebellin. Performance-Künstlerin. Durch und durch. Nicht so erfolgreich wie ihre Vorbilder, aber sehr gut, sehr ehrlich in dem, was sie tut. Sie hat mich und meine Schwester durch dieses Leben gezogen und gezerrt. Der einzige Fehler war vielleicht diese spießige Schule. Aber freie Schulen, die nichts kosten, gibt es in unserer Gegend nicht. Und irgendwie glaub ich, dass sie Martha und mir wünscht, dass wir uns einfügen in das »Konzept«, wie sie das Erwachsenenleben an schlechteren Tagen nennt.
Als ich durch das Halbdunkel hinter der Bühne stolpere, spüre ich die Kraft des Alkohols. Schwindel übernimmt die Kontrolle über mein schlingerndes Ich. Ich trinke einen letzten Schluck, stelle die Flasche ab und genieße den kurzen Moment der Stille. Das taube Gefühl. Arme, Beine, Gesicht, ein Körper, der meinen Geist spazieren trägt, mich zwischen Kleiderständern, knutschenden, fummelnden Pärchen, der kotzenden Sophie, Stühlen, Konfetti und Luftballons hin und her schubst. Ich überlege, in das Waschbecken zu pinkeln, das neben dem Aufgang zum Technikbereich wie ein schmutziges Taufbecken an der Wand hängt. Willkommen in der Zukunft, denke ich. Die Gemeinde der Erwachsenen will dich, lieber Jonas, in ihren Schoß aufnehmen, dich begleiten auf dem Weg in die Anständigkeit. Welche Rolle möchtest du haben? Oder dürfen es gleich mehrere sein? Auch das ist beliebt. Suche dir dein Profil aus, und wir sagen, wie deine Chancen stehen, ein glücklicher Mensch zu werden. Wir haben den passenden Algorithmus. Danke, dass du so fleißig auf Netflix, Google, Instagram, Twitter, Spotify und Amazon unterwegs warst.
Ich stütze mich an einem Pfeiler ab, an dem die Seile der Vorhangtechnik zusammenlaufen. Die Schwerkraft reißt an meinem schwankenden Körper. Ich stemme mich dagegen und überlege, was das Schlimmste wäre, das dieser Party passieren könnte.
Ein Feuer? Zu krass. Ein Erhängter? Zu krass. Ein Filmchen der kotzenden Sophie auf Youtube? Zu langweilig. Meine Blase ist übervoll, und ich pisse in das »Taufbecken«. Dann torkele ich weiter zu einem stählernen Treppenaufgang, der steil nach oben auf die Beleuchterbrücke führt, wo Ole und Emma heute Mittag das Netz mit den Ballons befestigt haben. Ich nehme zwei, drei Stufen, spüre das Schwingen der Metalltreppe am ganzen Körper und setze mich hin. Ich schließe die Augen, die Welt ist ein Karussell. Mir wird übel, und ich reiße meine Augen wieder auf. Wie aus dem Nichts steht Frau Perousse vor mir, meine Deutschlehrerin. Eine Erscheinung. Wünsche gehen manchmal doch in Erfüllung. Heute Abend trägt sie ein eng anliegendes Etuikleid mit spitz zulaufendem Dekolleté und hochhackige Schuhe.
»Alles okay mit dir?«, fragt sie und beugt sich zu mir herunter. »Du hast toll gesungen. Wirklich toll.«
»Danke«, sage ich und schäme mich dafür, auf ihre Brüste zu starren. Sie sind unglaublich rund und wunderschön, und ich kann nicht anders. Aber ich blicke sie mit Respekt an. Das hat mir meine Mutter beigebracht. Schönheit jedweder Art, ob Mensch, Tier oder Objekt, mit Respekt anzuschauen.
»Vielleicht solltest du zwischendurch mal etwas Wasser trinken.« Frau Perousse deutet zu dem Taufbecken. Ich hoffe, ich bilde mir nur ein, meine Pisse riechen zu können. Ich muss würgen — bloß nicht kotzen. Nicht vor meiner Lehrerin. »Musst du spucken?« Sie legt mir die Hand auf den Rücken. Ich genieße die Berührung und inhaliere den Duft ihres Parfums. Dann richte ich meinen Oberkörper auf. »Es geht mir gut. Sehr gut.«
Ihre Hand gleitet über meinen Rücken, es fühlt sich an wie ein zärtliches Streicheln. Gänsehaut. Überall. Wahrscheinlich der beste Moment an diesem vorhersehbaren Abend. Jedenfalls der einzige, den ich für schlechtere Tage aufbewahren will.
»Vielleicht doch etwas Wasser?«, fragt sie.
Ich winke ab. »Alles okay«, sage ich leise. Es fällt mir schwer zu sprechen.
»Wie du meinst.«
Sie gehört zu den jüngsten Lehrerinnen an unserer Schule. Auf den Filmaufnahmen, die ich für unseren Trailer von ihr gemacht habe, hat meine Mutter sie für eine Schülerin gehalten. Ich erwarte, dass sie weitergeht, aber sie gibt der Szene eine überraschende Wendung und quetscht sich neben mich auf die Stufe.
Sie stabilisiert meinen Körper, aber nicht meinen Geist.
Alles ist möglich. Alles.
Über ihren schwarz bestrumpften Beinen liegt ein leichter Schimmer. Ich schließe kurz die Augen, weil ich trotz meines Promillespiegels einen Ständer bekomme. Übermäßiger Alkoholkonsum macht impotent, dachte ich. Aber wohl erst ab dreißig oder so. Unangenehm ist es trotzdem. Auch wenn die Anzughose die Beule kaschiert, suche ich nach der richtigen Sitzposition. Mikrobewegungen. Ich will auf keinen Fall, dass sie aufsteht.
»Sollen wir uns duzen?«, fragt sie. »Du bist ja jetzt nicht mehr mein Schüler.«
»Ähm, ja, ja, klar, gerne.« Ich rede nicht weiter, sondern reiche ihr die Hand und bemerke im selben Moment, wie unpassend diese Geste ist. Sie lächelt. »Angenehm, Anne«, sagt sie und kichert. Ja, sie kichert. Ihr Bier-Atem vermischt sich mit meinem Wodka-Atem. Mit Sicherheit werde ich rot. So viel Blut ist noch vorhanden. Schwach erhellt vom grünen Licht der Notausgang-Beleuchtung, wird sie die Fehlfunktion meiner Haut nicht erkennen. Rot und Grün. Grün und Rot. Ich glaub, die Mischung ergibt Gelb. Gelb ist okay.
Aus irgendeinem Grund lachen wir beide plötzlich auf. Anne und ich. Vielleicht weil die gedämpfte Musik, die vom Saal zu uns herübergetragen wird, eine Pause macht und Stille etwas ist, das es nur selten zwischen Lehrern und Schülern gibt. Genau wie das In-die-Augen-Schauen. Zehn Sekunden. Eine Ewigkeit.
Sie hält immer noch meine Hand fest. Ich muss mich beherrschen, sie nicht zu streicheln. Meine Hand, ihre Hand. Mein Daumen verkrampft sich, weil er ihre Haut — die Haut meiner Lehrerin — spüren will und ich ihm das nicht erlauben kann. Es ist eine Regel. Das Leben besteht aus Regeln, die andere sich ausgedacht haben. Und ich bin zu feige, sie zu brechen.
Noch.
»Du musst mir versprechen, etwas zu machen, was zu dir passt«, sagt sie wie aus heiterem Himmel. Sie lallt ein wenig. Ihre Zunge stößt gegen die Zähne. Ein Lispeln. »Keine faulen Kompromisse. Dein Leben. Deine Geschichte. Verstehst du?«
Ich verstehe. Ich nicke.
An dem Ausdruck in ihrem Gesicht erkenne ich, dass sie es ernst meint. Dass es keine Floskel ist, die sie zu allen Schülern sagt. Aber vielleicht wünsch ich mir auch nur, in ihren Augen etwas Besonderes zu sein. Nicht einer von vielen. »Bleib dir selbst treu. Das ist nicht immer einfach, aber wichtig, um ein glücklicher Mensch zu werden.«
»So wie Sie?«, rutscht es mir über die Lippen. »Ich … ich meine, so wie du?«
»So wie wenige.«
Stille.
»Was passt denn zu mir?«, frage ich herausfordernd.
Anne lässt meine Hand los. Schade, denke ich, seufze innerlich und merke an ihrem Blick, dass es wohl nicht nur innerlich war.
»Was mit Musik, was mit Schreiben, was, woran du glaubst«, sagt sie. »Was Kreatives. Was von Bedeutung vielleicht. Gibt ja viele Möglichkeiten.«
»Obwohl ich nur zehn Punkte von dir bekommen hab?«
»Das ist nur eine Schulnote, nichts weiter«, wehrt sie schmunzelnd ab. »Und du bist faul, das weißt du.« Sie tippt mir auf die Nase. »Ignorierst Anweisungen, wenn sie dir nicht in den Kram passen, und bereitest dich nicht vor, sondern improvisierst.«
»Und was ist mit dir?« Es fühlt sich komisch an, sie zu duzen. Obwohl ich sie sehr mag. Obwohl sie in den letzten beiden Jahren einer der wenigen Lichtblicke zwischen all den überflüssigen Kursen war. »Ist das hier jetzt dein Rest des Lebens? Schüler zum Abi zu bringen und dann wieder von vorne anzufangen?«
Ich bemerke zu spät, wie überheblich dieser Satz klingt. Suche nach einem Ausweg und stammle: »Wie, wie bei Sisyphos, der … Mythos.« Und habe das Gefühl, es damit nicht besser zu machen. Wahrscheinlich hab ich das mit dem Felsen und der Freiheit falsch verstanden. War ja auch nur ein Wikipedia-Eintrag.
»Der Fels ist nur ein Fels«, sagt sie, nachdem wir kurz geschwiegen haben. Im Tonfall eines Trinkspruchs. Sie hat ordentlich einen sitzen. »Und das Schicksal gehört dir.«
Um ihre Augen glitzert es. Ich tue so, als würde ich verstehen, was sie sagt. Und vielleicht ist das ja auch so. Nur nicht in meinem Kopf, sondern mehr in meinem Bauch. Dort, wo sich neben der Übelkeit auch die Angst sammelt, nicht zu wissen, was ich jetzt tun soll, wie das hier weitergeht, mit meiner Ex-Lehrerin.
Und die Welt dreht sich wieder. Ich schwanke, und Anne schlingt ihren Arm um meine Hüfte. Ich denke daran, wie das jetzt aussieht, wenn jemand vorbeikommt. Ich denke daran, dass ein Filmchen oder ein Foto genügen würde, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Das Blitzlicht eines Handys, und ihr Leben würde ein anderes sein, eine neue Abzweigung nehmen. Aber es kommt keiner vorbei, der den Moment zerstört und das Schicksal in eine neue Bahn lenkt.
»Das Leben ist absurd«, sage ich im Brustton der Überzeugung und beobachte meine rechte Hand, wie sie Anne über die Wange streicht. Und unter den Fingern spüre ich Tränen. Anne weint. Und ich weiß nicht, ob es meine Schuld ist oder die Schuld des Augenblicks oder des Alkohols oder von Camus, der mit Sicherheit unglücklich war, bei all den Gedanken, die er sich über den Sinn des Lebens gemacht hat.
Ich will nicht vorhersehbar sein, denke ich mein persönliches Mantra, sei nicht vorhersehbar. Dann beuge ich mich hinüber zu Anne und küsse sie. Anne erwidert meinen Kuss und macht uns beide zu dem, was wir sind: zu Menschen. Unberechenbar, einzigartig und nicht vernünftig, wenn wir dem folgen, was wir wirklich wollen, dem, was wir wirklich fühlen.
Und dieser lange Kuss gibt dem Moment einen Sinn, eine Auflösung. Es geht nicht um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit, nur um die Gegenwart. Denn das Schicksal gehört mir und keiner MASCHINE, keinem beschissenen Computerprogramm. Regeln sind Regeln, und Freiheit ist Freiheit. Auch deshalb küssen wir uns.
Die Angst in meinem Magen bleibt. Sie ist ein Geschwür, das ich bekämpfen muss, bevor es wuchert und die Führung übernimmt.
Wir lösen uns voneinander, Anne und ich. Um uns herum hat sich nichts verändert. Die Welt ist dieselbe. Das grüne LED-Licht spiegelt sich in Annes feucht glänzenden Augen. Sie steht auf und geht.
Wortlos.
Ich bleibe sitzen, weil das alles absurd ist. Diese Party und dieser Kuss, der noch immer auf meinen Lippen brennt.
Dann denke ich an die MASCHINE und weiß, dass der Kuss erst der Anfang war. Dass mein Leben so sein wird, wie ich es mir vorstelle: unberechenbar.