»Ist das Ecstasy?«, nuschle ich meine Vermutung etwas lauter. Die Pille liegt noch immer auf meiner Zunge, was meine Aussprache undeutlich macht. Yara ignoriert mich. Sie tippt eine Nachricht in ihr Handy, die vor allem aus Emojis mit Herzaugen besteht.
»Ecs-ta-sy?«, wiederhole ich meine Frage zum dritten Mal, Silbe für Silbe. Der Groschen ist gefallen. Das Mädchen reißt erschrocken die Augen auf. Ihre Hand landet unsanft auf meinem Mund. Ihre Finger duften nach Sanddorncreme. Reflexartig schlucke ich die Pille hinunter. Die raue Oberfläche kratzt über meine Speiseröhre und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.
»Vierzig«, flüstert Yara, dicht an meinem Ohr, nachdem ich mit ihrem Cocktail nachgespült habe. »In einer halben Stunde wirst du die Welt umarmen. Liebe, verstehst du, Liebe.«
Ich bin kurz fassungslos. So habe ich mir eine Dealerin nicht vorgestellt. Aber sie macht das ja auch nur nebenberuflich.
»Im Ernst? Du willst Kohle?«, frage ich leicht angesäuert. »Wäre cool gewesen, wenn du das vorher gesagt hättest.«
Sie lächelt meine Kritik weg. »Was nichts kostet, ist nichts wert. Alte chinesische Weisheit.«
»Klar.« Das Letzte, wofür ich auf meiner Reise Geld ausgeben will, sind Drogen, deshalb versuche ich es mit einer Ausrede und sage: »Hab mein Bargeld leider im Auto.«
Ihr Dauerlächeln verhärtet sich. »Paypal«, sagt sie und tippt fordernd auf mein Handy, das auf dem Tresen liegt. »Du willst doch kein Schmarotzer sein? Das ist nicht gut für dein Karma.«
Ich gebe mich geschlagen, nehme das Handy und wähle den Unterpunkt »Geld an Freunde oder Familie senden«. Yara gibt routiniert ihre Mailadresse und den Betrag ein. Das war’s. Schon bin ich vierzig Euro ärmer.
»Danke«, sagt sie und streicht mir über den Arm. »Wenn du oder Freunde von dir noch was brauchen, ich bin draußen am Pool bei den Einhörnern.«
»Einhörner? Okay.«
»Und jetzt viel Spaß.«
Sie will weitergehen. Ich halte sie an der Schulter fest. »Was wäre in der anderen Hand gewesen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Bitte«, sage ich.
»Acid«, flüstert sie so leise, dass mein Gehirn einen Augenblick braucht, um die Bewegung ihrer Lippen und den schwachen Zischlaut zu einem Wort zusammenzufügen.
»LSD?«, sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich bin überrascht, dass die Hippie-Droge bei solchen Partys im Umlauf ist. Aber vielleicht läuft draußen bei den Einhörnern passendere Musik.
»Brauchst du ein Mikrofon?«, sagt Yara. Sie will sich die Kette mit dem Medaillon wieder umhängen.
»Sorry.« Ich tätschle ihren Arm. Ihre Haut fühlt sich kühl und trocken an, wie bei einem Reptil. »Darf ich es sehen?«
»Nein.«
»Bitte.«
Sie schaut sich um, ob die Luft rein ist, zieht mich näher heran und klappt das Herz-Medaillon auf. In der oberen Hälfte klemmt das Schwarz-Weiß-Foto eines sitzenden Buddhas, in der unteren ein fingernagelgroßes Stück Löschpapier. Ich muss lachen. Darauf zu sehen: die knallbunte Illustration des verrückten Hutmachers aus Alice im Wunderland. Die Geschichte verfolgt mich. Das ist kein Zufall.
Ich bin unberechenbar, sagt meine innere Stimme.
Ich bin unberechenbar.
Auch für mich selbst.
Sei unberechenbar!
»Wow«, sage ich, feuchte meinen Zeigefinger an, tippe auf das Papierstückchen, das an meiner Fingerkuppe haften bleibt, und lege es auf meine Zunge. Das alles geschieht so schnell, dass Yara keine Chance hat zu reagieren.
»Idiot!«, herrscht sie mich an. »Das ist scheiße. Spuck es wieder aus! Sofort.«
Ich halte ihre Fäuste fest, bevor sie mich treffen. Das Papier, die Pappe schmeckt metallisch. Wie frisches Blut. Ich schlucke sie hinunter. Damit konnte die MASCHINE nicht rechnen. Punkt 8 meines Manifests: Sei die mutigste Version deiner selbst.
»Wie viel?«, frage ich meine fassungslose Nachwuchsdealerin und gebe ihre Fäuste wieder frei.
»Nichts!«, schnappt sie wütend und kommt näher. »Dafür … dafür übernehme ich nicht die Verantwortung.« Sie bohrt mir den Finger in die Schulter. »Du bist so krank, weißt du, so krank. Einen schönen Abend noch.«
Die Dealerin verschwindet in der Menge. Ich mache es mir wieder auf dem Barhocker bequem und warte, dass etwas passiert. Ich schaue auf mein Handy und wische im Akkord Frauenporträts nach rechts. Immer wieder ein »Pling«. Ein Match. Ein Treffer. Das fühlt sich gut an. Wie bei einem Spiel, wenn man einen Lauf hat und sich unaufhaltsam dem Highscore nähert. Ich bin zu träge und zu glücklich, um mich von der Stelle zu rühren. Sollen sie doch zu mir kommen, all die schönen Wesen, denke ich und bestelle edlen Grey Goose Wodka und einen Energydrink, um mein Guthabenkonto zu leeren. Meine Zunge glaubt, Erdbeere und Melone zu erkennen.
Minutenlang sitze ich einfach nur da und warte darauf, dass die Neuronen unter meiner Schädeldecke explodieren und mich aus der Realität in eine andere Welt reißen. Ich beobachte, wie der sonnenstrahlenförmige Minutenzeiger an der gold leuchtenden Wanduhr nicht von der Stelle kommt, bilde mir ein, das Ticken der Sekunden durch den Lärm zu hören. Tick, tick, tick. Ich frage mich, ob der Alkohol die Wirkung von Ecstasy und LSD beeinflusst, vielleicht sogar neutralisiert, und spüre, dass ich nichts spüre. Vielleicht war alles nur Show. Vielleicht hat mich diese Yara verarscht.
Ich nippe gelangweilt an einem extrem sauren Mojito, den mir der Barkeeper ungefragt hingestellt hat, streiche mit den Fingern über die haarigen Pfefferminzblätter, die angestrahlt vom Deckenlicht sattgrün leuchten. Von innen heraus, fluoreszierend. Dann bin ich weitere zehn Minuten enttäuscht, bevor sich endlich was tut und sich das Tor zur anderen Seite öffnet.
Zuerst muss ich lachen wie verrückt. Ohne Grund. Einfach so, weil mir danach ist. Der Geschmack des Löschpapiers will nicht verschwinden. Ich stürze den Drink hinunter, bilde mir ein, dass die Farben im Raum greller werden. Das Rot der Ledersessel beginnt zu flirren, als würde jemand die Farbsättigung auf Maximum drehen. Auf dem polierten Tresen spiegeln sich unzählige Augenpaare, die mich anstarren, mir folgen, als ich vom Barhocker aufstehe und ein paar Meter nach rechts gehe. Und Münder sehe ich, die aus dem Spiegel hinter dem Tresen wachsen. Fett geschminkte volle Lippen, die sich in Zeitlupe öffnen und schließen, ohne ein Wort von sich zu geben. Die Lippen werden praller, werden zu Kelchen, zu fleischfressenden Pflanzen mit winzigen Zahnreihen. Ich sehe darin Hände, ganze Arme verschwinden. Ich will wegrennen, aber ich kann mich nicht bewegen. Meine Hand steckt im Maul einer Killerpflanze. Eine Invasion von einem fremden Stern. Aliens, die die Menschheit verdauen und als Brei wieder ausscheiden. Wie viele Mägen hat eine Kuh? Wie viele Leben eine Katze? Sieben oder neun? Und plötzlich sind da keine Köpfe mehr um mich herum, sondern nur noch schwankende Fleischfresser-Pflanzen, die wie wild durcheinanderplappern. In der Ferne eine einzelne Orchidee, die ihre dürren Arme nach mir ausstreckt, meinen Namen ruft. Plötzlich steht Maja neben mir. Sie ist schön. Alle Menschen sind schön. Sie ist keine Pflanze. Sie hakt sich bei mir unter, zieht mich vom Barhocker, durch die Menge, auf die Tanzfläche. Ein Teil von mir wehrt sich gegen die kalte exakte Musik. Doch der andere Teil hakt sich in die Synthie-Melodie ein.
Ich ziehe mich an glimmenden Lichtseilen entlang, sehe die Vibration, das Auf und Ab, in extremer Zeitlupe. Sechs fingerdicke Saiten wie bei einer Riesengitarre. Ich höre und spüre jeden Ton. Und dann sehe ich die Töne! Sie wachsen wie Früchte, wie schnell reifende pralle Früchte an den Seilen und lassen sich verschieben. Nach oben, nach unten, nach rechts, nach links. Ich ordne eine neue Melodie an. Sechzehntelnoten. Triolen. Ich bin Mozart! Sie gehört mir, diese Melodie. Jemand, ein Mädchen, das wie meine Schwester, wie Martha aussieht, drückt mir einen Drink in die Hand, der grün leuchtet. Photosynthese. Die Flüssigkeit flutet meine Lungen wie Sauerstoff. Ich spüre das flackernde Licht auf meiner Haut. Ich tanze weiter auf den schwingenden Seilen, balanciere die Töne mit meinen Händen, werfe sie in den Raum und erwarte ein Echo, eine Antwort auf all meine Fragen. Schweiß rinnt von meiner Stirn, kalter klebriger Schweiß, weil ich spüre, dass die Melodie noch nicht rund ist, dass sie stottert und aus dem Takt gerät, je stärker ich sie verändere. Die Pflanzen spüren den Fehler und verdorren vor meinen Augen. Im Zeitraffer. Ich bin verzweifelt. Ich gehe zu ihnen, will sie trösten, sie in die Arme nehmen. Versichern, dass alles gut wird. Dass ich die Melodie reparieren kann. Aber sie wollen sich ihrem Schicksal ergeben. Ich muss das Licht umleiten. Ich nehme die hellsten Töne von den Seilen und werfe sie ihnen entgegen. Die Pflanzen leuchten auf. Entfalten ihre Blüten. Strecken sich dem Leben entgegen. Ich bin erschöpft. Ich schließe die Augen. Mein Atem geht schnell, mein Herz rast. Die Blüten schnurren zusammen, sie kollabieren. Schwarzbild. Druck auf der Brust, Stimmengewirr und Musik. Ein harter, stampfender Beat, der sich zu einem Rattern steigert. Kleine Schläge, Stromstöße auf der Haut. Und Nebel, überall Nebel, der juckend in meine Nase steigt. Der Geruch von Schmieröl. Das Ticken von Uhren. Es kommt näher und entfernt sich wieder. Eine Zeitreise. Ein Uhrwerk. Ein warmer Luftschwall fegt über mich hinweg und nimmt mir den Atem.
WUSCH!
Szenenwechsel. Harter Schnitt in den Bauch eines Computerspiels. Ich trage einen Blaumann und Arbeitsschuhe. Es ist kalt. Ich bin in der MASCHINE. Ich habe eine Waffe, ein Gewehr. Ich befinde mich in einer stillgelegten Fabrik. Überall riesige Zahnräder, die sich schnaubend in Gang setzen und einen Höllenlärm verbreiten. Dampf, metallisch schmeckender Dampf, der einem die Sicht nimmt. Endlose Reihen aus Neonröhren flackern über mir auf. Überall Klicken und Sirren. Auf der Innenseite meiner Schutzbrille sehe ich meine Optionen. Eine flackernde Grafik. Mein Leben, ein Computerspiel. Auf Leben und Tod. Panik steigt in mir auf. Mein Herz beginnt zu rennen.
»Atme«, sagt eine Stimme.
Ich atme, ich habe das Gefühl, dass kein Sauerstoff in meinen Lungen ankommt.
Bin ich getroffen?
Werde ich sterben?
»Hilfe«, sage ich. »Hilfe.« Meine Stimme kaum mehr als ein Säuseln.
»Ruhig. Ganz ruhig.«
Etwas Kühles legt sich auf meine Stirn. Ich werde aufgerichtet. Ich sehe die faustgroße Knospe einer Pflanze, die sich in meinen Mund schiebt, in mir erblüht, und muss würgen.