Das Fell ist an mehreren Stellen regelrecht aufgerissen, von geronnenem Blut und Eiter verkrustet. Vom Rücken bis hinunter zu den Hinterläufen zieht sich eine klaffende Wunde, die einen unangenehm fauligen Geruch verströmt — und nach Urin riecht es auch. Wie lange sich der Wolf wohl durch den Wald geschleppt hat, bis ihn die Kräfte verlassen haben?
»Du armes Tier«, sage ich, um sicherzustellen, dass meine Stimmbänder noch funktionieren. Ich weiß nicht, ob das wieder eine Nachwirkung der Drogen ist, aber die Situation erscheint mir mehr und mehr wie ein Traum, ein absurder, aber sehr realistischer Traum, der sich wie ein Parasit über die Wirklichkeit stülpt. Ich muss unwillkürlich blinzeln, weil ich damit rechne, jeden Moment aus dem Schlaf hochzuschrecken.
Der Wolf versucht erneut, den Kopf zu heben, aber er schafft es nicht. Dafür blinzelt auch er jetzt in ungleichmäßigen Episoden. Wahrscheinlich vor Schmerz. Oder um die kleinen Mücken zu verscheuchen, die sich auf seinen tränenden Augen niederlassen wollen.
Ich behalte meinen Sicherheitsabstand bei. Traue mich nicht, ihn zu berühren, obwohl ich es vielleicht tun sollte. Wenigstens an einem Bein. Damit er weiß, dass ich keine Gefahr für ihn darstelle. Aber vielleicht existieren Berührungen, die Fürsorge bedeuten, gar nicht in der Welt von Wölfen, die ihr Rudel verlassen haben. Und Annäherungen, die von einer anderen Spezies ausgehen, münden grundsätzlich in Kampf und Verteidigung. Vielleicht ist diese Mensch-Tier-Schnittstelle nur ein Wunschtraum. Er weiß nicht, dass ich mit ihm fühle, und hat einfach nur Angst vor dem, was als Nächstes kommt.
Der Wolf schiebt seine weiß belegte Zunge quer aus dem Maul. Sein Atem raschelt, die verletzte Flanke hebt und senkt sich zitternd. Unter seinem Fell winden sich die Muskeln wie riesige Würmer, die kurz davor stehen, ihren ausgesaugten Wirt zu verlassen.
»Ich hole Hilfe«, sage ich und erhebe mich in Zeitlupe aus der Hocke. Darauf gefasst, von dem Wolf attackiert zu werden, falls er seine letzten Kräfte mobilisiert, um sich an mir, als Stellvertreter der menschlichen Rasse, dafür zu rächen, dass es Zäune, Wege und Hütten gibt, wo eigentlich sein Revier sein sollte.
»Ich bin gleich wieder da.« Ich versuche, das Maximum an Freundlichkeit in jedes Wort zu legen, traue mich nicht, dem Tier den Rücken zuzukehren. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Der Wolf schnappt einmal nach Luft, als wollte er mir sagen, dass ich mich nicht vor ihm zu fürchten brauche. Zumindest hilft mir diese Interpretation dabei, nicht an Ort und Stelle zu erstarren, sondern weiterzugehen. Oben auf dem Erdwall atme ich tief durch, dann klettere ich über den umgestürzten Baum und setze dahinter zu einem kurzen Spurt an, bevor mir klar wird, dass ich nicht verfolgt werde.
Ich stoße das Gartentor auf, rufe Suns Namen und kicke die verdreckten Badelatschen von mir. Unter der Haustür klemmt ein Keil. Ich gehe rein, eile durch den Gang bis zum Treppenabsatz, der in den Keller führt. Dort bleibe ich stehen, horche kurz in die Stille, rufe erneut nach Sun, warte vergeblich auf Antwort und marschiere weiter ins Wohnzimmer — wie in Trance. Ich bleibe stehen und spüre den Holzboden, wie er unter meinen Füßen vibriert. Die Plexiglasoberfläche des Couchtisches flimmert grell, wird unscharf und fleckig, sodass ich reflexartig die Augen zusammenkneife und mir ein heißkalter Schauer über den Rücken läuft. Vielleicht bin ich unterzuckert. Bis auf die Birnenhälften habe ich heute noch nichts gegessen. Und auch gestern war der Tisch nicht gerade reichlich gedeckt. Plötzlich habe ich Heißhunger auf Süßigkeiten und spüre leichten Schwindel in mir aufsteigen, der mich schwanken lässt. Ich hole mehrmals hintereinander tief Luft und stütze mich am Türrahmen ab.
Wie lange war ich weg? Zwanzig Minuten? Eine Stunde? Ich weiß es nicht, fühle mich zu schwach, mein Handy aus der Gesäßtasche zu fingern. Vielleicht hat Sun die Unterlagen für ihren Vater zum Wagen gebracht. Das wollte sie tun. Oder sie sucht nach mir, weil ich meinen Posten verlassen habe.
Benommen stapfe ich in die Küche, halte den Kopf unter den harten und eiskalten Wasserstrahl und spüre, wie die Kälte in Wellen durch meinen Körper schwappt und die Wirklichkeit zurückholt. Wie ein Junkie auf Entzug suche ich nach etwas Essbarem und stoße in einer Schublade auf eine angebrochene Packung Proteinriegel, auf der eine joggende Frau abgebildet ist. Obwohl das Mindesthaltbarkeitsdatum mehr als zwei Jahre zurückliegt, reiße ich die Packung auf, schiebe mir einen Riegel in den Mund, wo er zerbröselt, und schlinge den sandigen, nach muffigem Apfelaroma schmeckenden Brei herunter. Dann warte ich ein paar Sekunden und schiebe mir den nächsten hinterher. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass mein Kreislauf sich stabilisiert und das Summen in meinem Kopf nachlässt. Nur der Schwindel und die wandernde Unschärfe wollen nicht verschwinden.
Ich ziehe die Besteckschublade auf. Wie groß muss ein Messer sein, um damit gezielt zu töten? Ein Gemüsemesser wird es, wenn überhaupt, gerade mal durch das dicke Fell schaffen. Und ich glaube kaum, dass mir mehr als ein Versuch bleibt, um den Wolf zu erlösen. Wo genau liegt bei dem Tier eigentlich das Herz? Direkt hinter dem Brustfell oder weiter hinten? Ich hätte in Bio besser aufpassen sollen. Vielleicht ist es das Beste, ihm die Kehle aufzuschlitzen. So von hinten kommend. Ich glaub, ich hab das mal in einem Film gesehen. Mit einer Hand den Kopf hochreißen und mit der anderen das Messer quer über die Halsschlagader ziehen. Ist bestimmt eine Riesensauerei. Und dass der Wolf stillhält, während ich an ihm das Töten übe, wage ich zu bezweifeln. Eine neue Strategie muss her.
Ich mache die Schublade wieder zu, ziehe ein Tranchiermesser mit schwarzem Griff aus dem Granitblock neben dem Herd und streiche mit dem Daumen über die lange, schimmernde Klinge. Damit müsste es gehen. Erneut jagt mir ein Schauer über den Rücken. Ich betrachte mein hageres Gesicht in den Faltungen der Klinge. Will ich allen Ernstes einen Wolf töten? Kann ich überhaupt einen Wolf töten? Mit den Händen? Mit einem Messer? Auch wenn es sich um einen Gnadenakt handelt, erscheint mir die Vorstellung mit einem Mal völlig absurd. Wie von einem fremden Menschen gedacht. Hat mich der Drogentrip schizophren gemacht. War das eben mein persönlicher Mr Hyde? Die dunkle Seite meines Charakters, die bisher im Verborgenen geschlummert hat? Ich hoffe, dass die Ursache für meine blutrünstigen Vorstellungen wirklich nur der niedrige Blutzuckerspiegel war und diese Aussetzer nicht zur Regel werden. Was meine algorithmische Berechenbarkeit angeht, würde ich der MASCHINE damit zwar ein Schnippchen schlagen, aber wer will sich schon vor sich selbst fürchten? Der Preis ist eindeutig zu hoch. Nein! Ich kann und will den Wolf nicht töten.
Und wenn ich das Tier einfach seinem Schicksal überlasse? Warum nicht diese Option wählen? Wie lange wird es noch dauern? Stunden, Tage? Ist der Wolf vielleicht schon tot?
Sun betritt die Küche. »Ach, hier bist du«, sagt sie und hält inne, als sie das Messer in meinen Händen sieht. In meinen zitternden Händen. »Ich … ich hab dich schon vermisst. Hast du geduscht?«
»Nein, war nur … mir war irgendwie schwindelig. Unterzucker.« Meine Stimme klingt heiser.
»Aha.«
»Ich … ich war im Wald«, antworte ich. »Da war ein Geräusch, dem bin ich gefolgt.«
»Im Wald? Ein Geräusch?« Suns Blick hat nun etwas Ängstliches. »Könntest du bitte das Messer aus der Hand legen? Das sieht echt creepy aus.«
»Ja, klar, natürlich.« Ich lege das Messer auf den Küchentisch. »Ich hab einen verletzten Wolf gefunden«, platzt es aus mir heraus. »Er ist schwer verletzt. Liegt im Sterben. Wir … wir müssen einen Jäger benachrichtigen. Der Wolf leidet.«
»Wölfe?«, sagt Sun ungläubig. »Hier oben? Soll das ein Witz sein? Darüber wäre längst was in den Nachrichten gekommen. Hast du wieder irgendwelche Drogen genommen? Deine Pupillen sehen ziemlich groß aus. Oder war das ein Flashback?«
»Nein, war es nicht.« Ich schnalze mit der Zunge. »Das ist mein Ernst. Der Wolf liegt etwa dreihundert Meter von hier. Er hat Wunden. Offene, eitrige Wunden. Und er atmet kaum noch.«
»Und was wolltest du mit dem Messer? Ihn massakrieren?«
»Ich hab dich nicht gefunden. Ich dachte, ich bekomme das alleine geregelt.«
»Sicher. Klar doch. Ist ja kein großes Ding. Mal kurz einen Wolf zu töten. Das kann man schon machen. Du bist wirklich immer für eine Überraschung gut.«
Ich nehme ein Geschirrtuch und trockne mein Gesicht ab. »Was schlägst du denn vor?« So richtig da bin ich immer noch nicht. Die Szene, das Gespräch mit Sun. Das alles fühlt sich wie ein Traum an. Als stünde zwischen mir und der Welt, zwischen mir und Sun eine Wand aus Glas.
»Erst mal vermute ich, dass wir es nicht mit einem Wolf zu tun haben«, sagt Sun, nimmt das Messer vom Tisch und wiegt es in den Händen. »Ich tippe eher auf einen verwilderten Schäferhund oder einen Hybriden, den irgendein Idiot ausgesetzt hat.«
»Halb Wolf, halb Hund?«
Sun nickt. »Entweder Zufall oder Züchtung. Ein bisschen zu viel Wolf in den Genen, und schon war’s das mit dem Vorzeigevierbeiner, und zu Hause geht die Post ab.«
»Und was sollen wir jetzt tun?«
Sun schiebt das Messer zurück in den Granitblock. »Das Tier auf humane Weise von seinem Leiden erlösen.«
Sun trägt ein Jagdgewehr über dem Rücken. Es wirkt nicht wie aus dem Nachlass ihres schwedischen Urgroßvaters, sondern wie ein neueres Modell. Mattsilber lackiert, mit einem kantigen Schaft aus dunkelbraunem Holz. Im Keller gibt es einen Tresor mit weiteren Gewehren, der in die Wand eingemauert ist. Auch eine Pistole habe ich gesehen, als Sun das Gewehr vor meinen Augen mit Patronen gefüllt hat. Zwei Schuss. Zur Sicherheit hat sie mir zwei weitere Patronen in die Hand gedrückt.
Wir erreichen den umgestürzten Baum. Sun dreht sich zu mir um. »Dahinter?«
Ich nicke. Wir klettern einer nach dem anderen über den Stamm. Sun ist geschickt, sie muss dafür nicht mal die Waffe vom Rücken nehmen, als hätte sie eine militärische Ausbildung absolviert. Dazu passt das Holster mit dem Jagdmesser, das sie sich um die Hüfte geschnallt hat.
Sie bleibt auf dem Wall stehen, sondiert die Lage und signalisiert mit einem ernsten Nicken, dass es zumindest kein gewöhnlicher Schäferhund ist, der da zusammengekauert liegt. Der Wolf hat sich nicht bewegt. Aus dem unregelmäßigen Atmen ist ein Hecheln geworden. Vielleicht weiß er gar nicht, was das Ding in Suns Hand ist. Vielleicht hat er noch nie eine Waffe gesehen. Dann hätte er wenigstens keine Angst. Es ist windstill, und immer mehr Mücken setzen sich auf seine Wunde. Der Wolf blinzelt alle paar Sekunden. Sun nimmt das Gewehr vom Rücken und betätigt einen kleinen Hebel, der sich seitlich am Schaft befindet. »Entsichert«, meldet sie im Tonfall einer Soldatin. Sie hat sich die Fingernägel kurz geschnitten und den Lack entfernt. Das habe ich vorhin in der Küche gar nicht bemerkt. »Bleib ab jetzt bitte hinter mir«, sagt sie in scharfem Flüsterton. Ich nicke. Sun nimmt die Waffe in Anschlag und geht in kleinen Schritten voraus. Als wir beim Wolf ankommen, rechne ich damit, dass Sun sofort schießt. Doch stattdessen sichert sie das Gewehr wieder und legt es sachte neben sich auf den Boden. »Keine Angst«, sagt sie zu dem Wolf. »Du musst keine Angst haben. Wir tun dir nichts.« Sie geht in die Hocke und begutachtet die Verletzungen.
»Das sind Schussverletzungen.« Sie saugt geräuschvoll Luft ein. »Wer hat dir das angetan? Wer hat dich so zugerichtet? Wie lange liegst du schon hier? Ganz alleine, du armes Wesen.«
»Ist es ein richtiger Wolf?«, frage ich vorsichtig.
»Schwer zu sagen.« Sie zuckt mit den Schultern. »Der Brustkorb kommt mir etwas schmal vor, die Pfoten groß. Kann schon sein. Gewissheit könnte nur ein Gentest bringen.«
Bevor ich Sun daran hindern kann, streicht sie dem Wolf über den Kopf.
»Bist du wahnsinnig«, zische ich.
»Er wird mir nichts tun. Keine Panik. Er spürt, dass wir ihm helfen wollen.«
»Sicher?«
Sie nickt. »Wir müssen ihn erlösen.« Dann erhebt sie sich langsam, sehr langsam aus der Hocke, als würde sie ihren eigenen Worten misstrauen. Und dem Wolf, der zwischen zwei gedehnten Atemzügen ein leises, aber dennoch gut hörbares Knurren von sich gibt.
Sun zuckt zusammen und macht einen Schritt nach hinten. Jetzt steht sie neben mir, ihre Schulter berührt meine. »Auch wenn er es nicht zeigt, hat er bestimmt schlimme Schmerzen. Vielleicht schon seit Tagen.« Sie nimmt das Gewehr vom Boden, entsichert es wieder und richtet den Lauf auf den Kopf des Wolfs. Ich stelle mich hinter sie. Ich kann sehen, wie der Lauf zittert. Ihr ganzer Körper zittert. Der Zeigefinger schwebt unentschlossen über dem Abzug.
»Worauf wartest du?«, frage ich im Flüsterton.
Sun lässt die Waffe sinken. »Ich … ich kann das nicht. Ich kann ihn nicht töten.« Sie dreht sich um und hält mir das Gewehr hin. »Bitte mach du das. Am besten, du schießt gleich zweimal, damit er nicht leiden muss.«
»Was?«, sage ich und mache einen Schritt nach hinten. »Ich? Ich soll den Wolf erschießen? Ich hab doch gar keine Ahnung, wie das geht. Ich … ich habe noch nie eine Waffe, eine echte Waffe in der Hand gehabt.«
»Du musst nur zielen und abdrücken. Einfach nur abdrücken. Mehr nicht.«
»Nein.«
»Willst du, dass der Wolf noch länger leidet?«
»Können wir nicht doch einen Jäger rufen?«
»Hast du zufällig eine Nummer dabei?«
»In der Hütte liegt bestimmt irgendwo ein altes Telefonbuch.«
»Der Wolf soll also liegen bleiben, bis in ein paar Stunden oder morgen oder wann auch immer ein Jäger aufkreuzt? Vielleicht genau der Typ, der ihn so zugerichtet hat? Willst du das wirklich? Dich so aus der Affäre ziehen?« Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. »Gut«, sagt sie und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wenn keiner von uns dazu bereit ist, es alleine zu tun, machen wir es eben gemeinsam.« Sie zieht mich unwirsch am Arm. »Stell dich neben mich.«
»Nein.«
»Bitte.«
Ich gebe nach. Wir stehen eine Weile reglos nebeneinander und sagen kein Wort. Der Wolf scheint unsere Unentschlossenheit zu spüren, er beginnt mit letzter Kraft zu winseln.
»Komm schon«, beendet Sun unser Schweigen. »Bitte. Ich will es nur nicht alleine machen. Das ist alles.«
»Okay.«
Bevor ich weiß, wie mir geschieht, übergibt mir Sun mit flehendem Blick das Gewehr und stellt sich dicht hinter mich. Dann löst sie den Sicherungshebel und führt meine rechte Hand — unangebracht zärtlich, wie ich finde — zum Abzug und legt ihre tastend darüber. Ihren Zeigefinger über meinen. Ein leichter Druck. Wortlos wie zwei Tänzer, die sich zum Ende der Choreografie in der Mitte der Bühne gefunden haben, verschmelzen wir zu einem langen Schatten und richten den Lauf der Waffe gemeinsam auf die Stirn des Wolfs, der uns mit glasigen Augen anstarrt. Ohne Furcht. Ohne zu blinzeln. Ohne zu verstehen, dass wir uns das Recht herausnehmen, über sein Ende zu bestimmen.
Meine Hand zittert. Sun streift mit dem Daumen über meinen Handrücken. Vielleicht ist es auch ein Streicheln. Ihr Zeigefinger zwingt meinen, sich abzuwinkeln, bis ich den Widerstand des Abzugs spüren kann. Den Druckpunkt. Die Grenze, hinter der es kein Zurück mehr gibt.
»Schlaf gut, du armes Wesen«, flüstert Sun. Ihr Finger drückt auf meinen Finger. Ich schließe die Augen und gehorche. Ein Impuls durchzuckt meine Sehnen. Ich reiße den Abzug nach hinten. Der Schuss löst sich. Eine unaufhaltsame Kettenreaktion setzt sich in Gang. Ein lautes Schnalzen wie von einer Peitsche. Gefolgt von einem harten Echo. Der Rückstoß der Waffe schlägt gegen meine Schulter. Ich öffne die Augen, muss hinsehen. Ein zweiter Schuss. Irgendwo flattern Vögel. Der Moment zerfällt in unzählige Bilder, die in Zeitlupe an mir vorbeiziehen. Sekunden, zerhackt in kleinste Einheiten. Gedanken, die nicht vom Fleck kommen. Der Blick von außen, durch ein drittes Auge, das alles beobachtet. Sun, den Wolf und mich.
Ich stehe da wie erstarrt. Das Gewehr in der Hand. Die Bernsteinaugen sind erloschen. Der Wolf ist tot. Kein Zittern, kein Zucken. Einfach erstarrt.
»Alles gut«, sagt Sun, halb zu sich selbst, halb zu mir, wischt sich Tränen aus den Augen und nimmt mir das Gewehr aus der Hand. Ich kann nicht weinen. Um den Wolf. Ich weiß nicht, ob das so sein müsste. Aber die Stille berührt mich, und mein Körper fühlt sich taub an. Meine Arme, meine Hände und meine Finger scheinen für Sekunden nicht mehr mir zu gehören. Sondern einem anderen Ich. Einem Fremden, dem ich heute zum ersten Mal begegnet bin.
»Und was jetzt?«, frage ich und mache mit meinen Händen Greifbewegungen, um die Kontrolle zurückzubekommen. Der Geist über den Körper.
Sun legt das Gewehr auf den Boden. »Der Wolf hat es verdient, ein ordentliches Grab zu bekommen.«