Der nächste Morgen. Ohne Regen. Ohne das fast schon vertraute Geräusch von Tropfen, die irgendwo aufschlagen. Auch kein Vogelgezwitscher. Stattdessen Helligkeit und Wärme. Wärme und Helligkeit, die hinter meinen Augenlidern von einem sonnigen Reisetag künden. Sun muss die Vorhänge geöffnet haben — und die Balkontür. Das Säuseln der Klimaanlage und der kühle Windhauch fehlen. Entferntes Hupen und Sirenengeheul verscheuchen die Illusion, noch in den Bergen, in der Natur zu sein. Nach wie vor unentschlossen, wie ich den Wechsel vom Land in die Stadt finden soll, blinzle ich in den neuen Tag und versuche, stufenweise mehr Licht an meine Netzhaut zu lassen. Ich fühle mich wie ein Schiffbrüchiger. Von einer Welle an Land gespült, unsicher, wie es sich anfühlen wird, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Ich bin glücklich, dass es nichts zu bereuen gibt. Keine falschen Entscheidungen. Kein unnötiger Schmerz. Keine neue Kreuzung, an der ich stehe und nicht weiterweiß. Vielleicht habe ich mir das gestern auch nur eingebildet, dass Sun es darauf angelegt hat, mit mir Sex zu haben. Ich kenne sie nicht gut genug, um ihr Verhalten zu deuten.
Sie sitzt leicht nach vorne gebeugt am Fußende des Betts und tippt etwas in ihr Handy. Sie ist ein Schemen im flirrenden Gegenlicht. Ihr blasses Gesicht im harten Kontrast zu ihren schimmernden Kupferhaaren. Es dauert einen Augenblick, bis mich mein Bewusstsein endgültig in die Wirklichkeit entlässt. Dann bemerkt mich Sun, lehnt sich zu mir herüber, berührt mich am Arm und vertreibt das taube Gefühl auf meiner Haut. »Guten Morgen.« Sie lächelt zaghaft. Ich werde sie nicht auf gestern Nacht ansprechen. Ich lasse sie kommen. Wenn sie nicht darüber reden will, will ich das auch nicht. So betrunken, wie sie war, ist es ihr jetzt bestimmt peinlich, dass sie sich vor mir ausgezogen hat. Aber gekotzt hat sie nicht. Sie ist einfach an meiner Schulter eingeschlafen — und hat geschnarcht.
»Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr aufwachen«, sagt sie mit rauer Stimme und räuspert sich. »Hast ewig geschlafen.«
»Wie spät ist es?« Ich setze mich auf und klemme mir ein Kissen in den Rücken.
»Kurz vor zwölf.«
»Schon?«
»Hast leider das Frühstück verpasst.« Sie macht eine ausladende Handbewegung zum Couchtisch. Ihre kurzen Fingernägel sind frisch lackiert. Dezent. Sandfarben. »Gibt nur noch die Reste von gestern.«
»Das reicht.« Ich muss gähnen.
»Hand vor den Mund!«
Ich weiß nicht, wie Sun das macht, aber sie sieht überhaupt nicht mitgenommen aus. Obwohl sie kaum Schminke benutzt. Sie trägt ein blassgrünes Kleid aus einem festen Stoff, der träge nachwippt, als sie aufsteht, sich ein Glas Wasser einschenkt, es leer trinkt und sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette dreht.
»Ich soll dich von meinen Eltern grüßen.«
»Du warst bei deinen Eltern?«, frage ich in ihren Rücken. In dem Outfit, die Haare hinter dem Kopf hochgesteckt, mit kurzen Rüschenärmeln, könnte Sun als weibliche Hauptfigur in einer Jane-Austen-Verfilmung durchgehen. Vielleicht ist das ihr Business-Look. Vielleicht kommt die harte Geschäftsfrau in Gestalt eines zarten Mädchens daher. Sie steckt sich die Zigarette an, stellt sich vor die geöffnete Balkontür, pustet den Rauch nach draußen und dreht sich ins Profil. Sogar Schmuck hat sie angelegt. Ein Goldkettchen baumelt an ihrem Hals und verleiht ihrem Aufzug eine beinahe festliche Note. »Hab meinem Vater die Unterlagen gebracht. Damit er sich vorbereiten kann.« Im Job hätte ich sie mir eher in einem Hosenanzug vorgestellt, in Grau oder Schwarz. Etwas strenger, weniger mädchenhaft. Sun scheint für Klischees nicht viel übrigzuhaben.
»Hast du dich für den Investor so in Schale geworfen?«, frage ich. »Ist das Treffen hier in der Nähe?«
Sie zieht an der Zigarette, schüttelt den Kopf und lässt den Rauch durch die Nase entweichen. Die Zeichen stehen eindeutig auf cool. Cool und distanziert.
»Ich lauf gerne so rum. Manchmal. Sind Klamotten, mehr nicht. Und als Frau spielt es eh keine Rolle, was man anzieht. Männer unterschätzen einen so oder so. Ob sexy, verschlossen, sportlich, elegant oder öko. Man muss den selbst ernannten Alphatieren vor den Bug schießen, damit sie kapieren, was man draufhat.« Sie sieht mir direkt in die Augen. »Nicht wahr?«
»Ich trau dir alles zu.«
Sie schmunzelt, dann verhärten sich ihre Gesichtszüge, und sie strafft den Rücken. »Außer auf eigene Faust zu töten, habe ich recht?«
Ich kann ihrem Gedankensprung nicht folgen. Soll das eine Anspielung auf den Wolf sein? Den haben wir doch gemeinsam getötet? Nein, eigentlich war es mein Finger am Abzug.
»Töten?«, frage ich irritiert. »Was meinst du damit? Einen Menschen töten?«
»Ja, vielleicht«, sagt sie mit tonloser Stimme. »Jemanden, der es verdient hat.«
Ich lächle verunsichert. »Ich glaub nicht, dass das der richtige Weg ist, um deine Geldgeber zu überzeugen«, versuche ich es mit einem Witz.
Sun ignoriert ihn und lässt die Zigarette in das Wasserglas fallen. Ein Zischen. Dann formt sie mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zielt auf einen imaginären Feind auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Ich frage mich, was mit ihr los ist. Vielleicht gab es Streit mit ihren Eltern. Ihre Mutter kann bestimmt ziemlich streng sein.
»Expose, disarm or kill«, sagt Sun mit unbewegter Miene.
»Was heißt noch mal ›expose‹?«, will ich wissen.
»Entlarven. Demaskieren.«
»Man lernt nie aus.«
Es entsteht eine Pause. Sun greift zu ihrem Handy und checkt die Nachrichten. Ich frage mich, was das eben war.
»Hast du eigentlich einen Künstlernamen?« Sie blickt ausdruckslos auf das Display und textet in beeindruckender Geschwindigkeit. »Bekomme ich noch eine Antwort?«, fragt sie, ohne aufzublicken. »Ich kann gleichzeitig reden und tippen.«
»Nein«, sage ich. »Ich hab keinen Künstlernamen.«
»Seltsam.« Sun legt ihr Handy neben sich.
»Was ist daran seltsam?«
»Weil es von deiner Musik gar nichts auf Youtube gibt, außer einem etwas angesäuselten Auftritt beim Abiball. Auch nicht auf Spotify. Bist du auf irgendeinem anderen Kanal unterwegs?« Sie grinst. »Auf TikTok?«
»Ich bin noch nicht so weit. Ich will noch warten, bis meine Songs so klingen, dass ich damit klarkomme, wenn die Leute sagen, an welchen anderen Künstler ich sie erinnere.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Weil sie das immer tun. Gibt einfach schon zu viel Musik. Zu viel gute Musik.«
»Da spricht der Pessimist. Du solltest weniger nachdenken und einfach machen. Es kommt, wie es kommt. Ist doch vor allem wichtig, dass du an deine Sachen glaubst. Dann findet sich auch ein Publikum. Da bin ich mir sicher.«
»Danke für den Rat.«
»Wann ist denn der große Tag?«, fragt sie ironisch. »Wann hast du vor, mit deiner Musik an die Öffentlichkeit zu gehen? Noch in diesem Leben? Oder willst du abwarten, was die Maschine dazu sagt?«
Ich weiß nicht, warum sie so fies ist. Vielleicht hat sie ja doch einen Kater. »Ende des Jahres wollen wir zwei, drei Songs rausbringen. Ein Video drehen und schauen, wie sich die Klickzahlen entwickeln.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Yosh und ich. Mein bester Kumpel. Er hat zu Hause ein kleines Tonstudio und kümmert sich darum, dass man den Sound wiedererkennt.«
»Und auf der Straße? Spielst du da wenigstens deine eigenen Sachen?«
»Das würde nichts bringen. Wenn keiner den Song kennt, bleibt keiner stehen. Die Leute wollen das hören, was sie kennen. Dafür bezahlen sie. Ist wie bei Coverbands.«
»Gehört das auch zu deinen Regeln? Keine Experimente?«
Ich pariere ihren Angriff mit einem Lächeln. »Es geht um Erinnerungen.«
»Ah, Erinnerungen. Fast hätte ich’s vergessen. Aber denen kann man doch nicht trauen. War das nicht auch eine deiner Theorien? Dass alles irgendwann zu einem undurchlässigen Brei wird? Fiktion und Wirklichkeit? Offline, online, alles nur Geschichten?« Ich sehe ihr an, dass sie keine Antwort erwartet. Ihr Blick wandert zu einem Landschaftsfoto, das seitlich neben dem Bett hängt. Baumkronen, die zentimeterdick mit Schnee bedeckt sind. Aus der Vogelperspektive aufgenommen. »Wie wäre es mit Jonas Alaska?«, sagt sie wieder freundlicher.
»Als Künstlername?«
»Ganz genau. Als Baustein zum Erfolg.«
Ich zucke mit den Schultern. »Jonas Alaska«, sage ich Silbe für Silbe, um dem Klang nachzuspüren. »Nicht schlecht.«
»Na, also.«
Ich lächle matt. »Gibt’s bestimmt schon.«
Wir nehmen das Auto, weil Sun nachher gleich weiterwill und darauf besteht, ihr Versprechen einzulösen, für mich mit dem Hut herumzugehen. Sie will mich unbedingt singen hören — auf der Straße singen hören —, das macht mich nervös. Beim Geldsammeln wird sie in den Klamotten nicht viel Erfolg haben. Zu teuer, zu edel. Die Leute haben ein bestimmtes Bild von Straßenmusikern und deren Begleitern im Kopf. Wenn man zu sehr aus dem Rahmen fällt, macht sich das bei den Einnahmen bemerkbar. Der Dresscode ist backpackermäßig verratzt, aber auch nicht so versifft, dass potenzielle Zuhörer ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie einen während des Auftritts mustern. Es ist ein Fehler, die Laufkundschaft zu unterschätzen, wenn man sich auf der Straße verdingen will. Junge, auf Öko und Fairtrade getrimmte Hipster, die mit dem neuesten iPhone rumknipsen, ihre Sachen in Fjällräven-Rucksäcken durch die Gegend tragen und handgeknüpfte Kettchen und Umarmungen für den Weltfrieden verkaufen, haben es mittlerweile schwerer, damit durchzukommen. Der größer werdende Teil der Bevölkerung, der zwei Jobs braucht, um den Kopf über Wasser zu halten, weiß, dass Kinder aus ärmeren Familien Besseres zu tun haben, als bettelnd mit ihren Followern durch die Welt zu reisen.
Irgendwie hat sich die Stimmung zwischen mir und Sun verändert. Sie wirkt wieder verschlossen, als wollte sie uns den Abschied dadurch leichter machen. Vorhin war sie auf dem Balkon und hat telefoniert. Ich habe nur die Begrüßung mitgekriegt, weil sie die Tür zugezogen hat. Es war ihre Mutter. Sun machte kein allzu glückliches Gesicht, als sie wieder hereinkam. Die beiden scheinen sich doch nicht so gut zu verstehen wie gedacht.
Jetzt nähern wir uns der letzten gemeinsamen Etappe: dem Domplatz. Sun wollte unbedingt mit dem Auto fahren, obwohl einige Straßen wegen einer Demo von Ford-Mitarbeitern gesperrt sind und wir zu Fuß schneller wären. Eine von Suns »Abkürzungen« führt uns vor einen Mannschaftswagen der Polizei. Wir müssen unter den Augen von Polizisten in Kampfmontur wenden. Als ihr ein Uniformierter mit Sturmhaube zulächelt, habe ich kurz Angst, Sun könnte ihm den Mittelfinger zeigen, aber sie bleibt ruhig.
»Ich fahr ins Parkhaus«, sagt Sun, als wir wieder in eine Sackgasse gelangen. »Von da aus sind es nur noch fünf Minuten zu Fuß.«
»Ich habe es nicht eilig.«
Unter meinem Sitz lugt die Spitze eines einzelnen Eichenblatts hervor. Ich hebe es auf. Es ist noch feucht. Ich halte es in den Fahrtwind, damit es trocknet.
»Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war«, sagt Sun zerknirscht. »Ich hab mich nur nach Nähe gesehnt. Das musst du mir glauben. Ich hoffe, dass du jetzt nichts Falsches von mir denkst. So bin ich nicht, so egoistisch. Das ist nicht meine Art. Ich wollte dich nicht verführen, falls du das denkst.«
»Wolltest du mich testen?« Keine Ahnung, warum mir diese Frage über die Lippen rutscht.
»Nein, das wollte ich nicht!«, zischt sie. »Auf keinen Fall. So bin ich nicht. Ich war einfach in einer merkwürdigen Stimmung. Hast du dich noch nie verloren gefühlt?«
»Doch, klar.« Ich war dabei nur nicht halb nackt, denke ich.
»Du bist also nicht sauer?«
»Nein.« Ich reibe das Eichenblatt vorsichtig an meiner Hose ab, lege es in mein Notizbuch und grinse in mich hinein, als ich daran denke, wie Sun vor mir getanzt hat. »Du hast mich ja vorgewarnt«, sage ich.
»Was soll das denn heißen?«
»Du hast doch gesagt, dass Liebe und Sex für dich nicht zwangsläufig zusammengehören.«
»Aus deinem Mund klingt das irgendwie bitchy, als wäre ich eiskalt. Das bin ich nicht.« Sie fährt vor die Schranke und hält ihr Handy mit dem QR-Code vor den Scanner. Der Schlagbaum öffnet sich. »Nur zur Info: In den letzten beiden Jahren hatte ich genau zwei One-Night-Stands. Ist also nicht so, dass ich mich quer durch die Welt vögle, falls du das jetzt denkst. Und das gestern war definitiv nicht der Auftakt zu Sex. Die Illusion muss ich dir leider nehmen.«