Wir wechseln uns mit dem Fahren ab. Sun erzählt von ihrem Vater. Dass er dachte, seinen Traumjob gefunden zu haben, bis man ihm einen Chef vor die Nase gesetzt hat, der ihm das Leben zur Hölle machte. »Er hat nicht mit uns darüber geredet, wie der Typ ihn bei Meetings vorgeführt, angeschrien und in Mails als unfähigen Manager beleidigt hat. Das haben wir erst hinterher von seinen Kollegen erfahren. Viele von denen haben nach seinem Tod gekündigt. Einer hat sich zwei Jahre später in seinem Büro erhängt.«
»Und wieso sagst du, dass es bei deinem Vater kein richtiger Selbstmord war?«
»Weil dafür ein wichtiges Merkmal fehlt: die Freiwilligkeit. Wenn dich jemand so unter Druck setzt, wie es dieser selbstgerechte Wichser getan hat, dann kannst du nicht mehr klar denken. Die Spirale führt immer weiter abwärts. Mein Vater hat bis zuletzt geglaubt, auch vor uns, vor seiner eigenen Familie den starken Mann markieren zu müssen. Ja keine Hilfe zulassen. Er muss panische Angst gehabt haben, als Versager dazustehen.« Sun knetet ihre Finger. »Mein Vater hat zwei Abschiedsbriefe hinterlassen. Den Brief für uns, für meine Mutter und mich, den hat er am Computer geschrieben, nicht mit der Hand, was man doch erwarten könnte, und seine Geschäftsunterschrift daruntergesetzt. Das sagt doch schon alles. Und dieser Brief bestand vor allem aus Handlungsanweisungen für meine Mutter, einer Auflistung von Eigentumswerten, Aktien und dem Hinweis, dass die Lebensversicherung auch bei Selbstmord zahlen würde. Das war ihm wichtig. Ist es nicht verrückt, dass ihm das Scheißgeld wichtiger war als seine Familie?«
»Ja, schon.« Ich zucke leicht mit den Schultern. »Und er hat nicht geschrieben, dass er euch liebt? Dass es ihm leidtut oder so?«
»Doch, schon, aber das war mehr so eingeschoben. Dass wir das Beste in seinem Leben waren, das hat er geschrieben. Er konnte nicht gut über Gefühle sprechen, aber das war selbst für seine Verhältnisse zu nüchtern.«
»Und wieso ein zweiter Abschiedsbrief?«
»Der war nicht für uns, sondern für einen Journalisten, dem er einige Wochen vor seinem Tod ein Interview gegeben hat. Es war eine Art Richtigstellung. Er hat den Journalisten darum gebeten, das Interview zu löschen und stattdessen seinen Chef zu befragen. Den macht er im letzten Abschnitt ganz direkt für seinen Selbstmord verantwortlich. Er hat sich — in dem Fall hoch emotional — darüber beklagt, wie sehr sein Auftreten und die neue Ausrichtung der Versicherung das gute Betriebsklima zerstört haben.«
»Krass«, sage ich, weil mir kein besseres Wort einfällt. Danach hören wir schweigend Musik. Bis Sun an einem Parkplatz rausfährt, sich die Seele aus dem Leib kotzt und mich darum bittet, weiterzufahren. Kaum dass ich am Steuer sitze, schläft sie auch schon ein. Während ich den Kilometern dabei zusehe, wie sie sich ausdehnen, denke ich an Anne. Ich traue mich nicht, ihr zu schreiben, dass ich mit Sun unterwegs bin. Noch immer. Jetzt auf dem Weg nach Hamburg. Das kann sie nur missverstehen. Es würde zu lange dauern, alles zu erklären, ohne dass sie mich für einen abgebrühten Arsch hält. Sie hat mir mehrere Sprachnachrichten geschickt. Ihre Stimme klang resigniert und traurig. Als würde sie davon ausgehen, dass ich mich gegen sie — gegen uns — entschieden hätte. Sie hat sich dafür entschuldigt, gesagt zu haben, dass wir in zwei Welten leben. Selbst wenn das so ist, würde das nicht heißen, dass es so bleiben muss, hat sie beteuert. »Ich vermisse dich«, hat sie am Ende der letzten Nachricht gesagt und mich darum gebeten, sie zu treffen. Ich habe ihr geschrieben, dass ich sie heute Abend anrufen werde. Ich komme mir schäbig vor, sie noch länger warten zu lassen. Aber es geht nicht anders. Ich habe das Gefühl, dass Sun mich braucht. Nicht nur als Fahrer, sondern als Freund. Alleine am zwanzigsten Geburtstag auf der Autobahn, das wünscht sich kein Mensch.
Als wir in Hamburg ankommen, dirigiert mich Sun durch die Stadt zum Elbstrand. Sie hat wieder diesen fahrigen Blick. Spielt nervös mit den Händen und schickt vorweg, dass sie nur noch eine Stunde hat, bevor sie sich auf den Weg zu dem Treffen machen müsse. Sie trifft den Investor in einem Restaurant an der Außenalster.
An ihrem Geburtstag mit einem Fremden, um über Geschäfte zu reden. Eine seltsame Art, sich abzulenken. Auch wenn Sun zweifellos zäh ist, bin ich mir nicht sicher, ob sie sich damit zu viel zumutet. Aber ich kenne sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht von ihren Plänen abbringen lässt.
Unterdessen ist es Abend geworden. Gut gelaunte Menschen, mit Handtüchern, Sonnenschirmen, Kühltaschen und jeder Menge aufblasbarer Gummitiere, kommen uns entgegen, als wir hinunter zum Elbstrand gehen. Sun hat mich darum gebeten, meine Sachen aus dem Auto zu nehmen. Sie wollte mir allen Ernstes Geld für ein Taxi geben, das mich zum nächsten Hostel bringt. Das fand ich schon fast beleidigend.
Ich stelle mich in die Schlange vor der Strandbar und sehe den Möwen dabei zu, wie sie neben einem überfüllten Mülleimer nach ihrem Abendessen suchen. Im Hintergrund die riesigen Kräne des Containerhafens, ein Schnellboot, das gerade von Helgoland zurückkehrt. Sun stapft barfuß durch den Sand und setzt sich etwas abseits auf eine Decke. Obwohl sie die meiste Zeit geschlafen hat, wirkt sie erschöpft. »Nur ein Getränk«, hat sie gesagt. »Dann muss ich wirklich los.« Und kein Alkohol. So heftig, wie sie sich vorhin übergeben hat, wundere ich mich, dass sie überhaupt noch genügend Energie hat, mit mir hierherzukommen, und nicht direkt in das Hotel einchecken wollte, das sie für heute Nacht gebucht hat, um sich vor dem Treffen auszuruhen. Bisher habe ich Sun noch nicht zum Geburtstag gratuliert. Aber mit den Getränken in der Hand will ich das nun nachholen.
Als ich bei ihr ankomme, starrt sie auf den Fluss, der vom Wind und den vorbeiziehenden Schiffen Wellen ans Ufer treibt. Sie lassen einen die Nähe zur Nordsee erahnen.
»Auf deine Reise«, sagt Sun, als wir anstoßen. »Dass sie dich dorthin führt, wo du hinwillst.«
»Auf dich.« Ich zögere, dann umarme ich sie und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag.« Ich drücke sie ganz fest. Dann überreiche ich ihr einen türkisfarbenen Glasstein, den ich am Strand gefunden habe.
»Danke.«
»Ich weiß, du magst keinen Kitsch«, verteidige ich mein Geschenk. »Aber …«
»Nein, das ist toll«, unterbricht sie mich. »Der Stein ist sehr schön. Ein Andenken.« Sie hält den Stein in die Sonne und kneift ein Auge zu. Ich sehe ihr an, dass sie kurz davor steht zu weinen, deshalb erzähle ich den schlechtesten Witz, der mir einfällt, und habe damit Erfolg. Sun fängt an zu lachen. Kriegt sich gar nicht mehr ein, hält sich den Bauch. Und ich lache mit ihr und wünsche mir, dass wir uns wiedersehen. Irgendwann.
Die zweite Verabschiedung geht ähnlich schnell wie die erste. Kaum dass wir ausgetrunken haben, steht Sun auf. Sie sagt, nein, sie befiehlt mir, sitzen zu bleiben, weil sie sonst losheulen muss und ihre Schminke nicht wasserfest sei. Also bleibe ich im warmen Sand sitzen und blicke ihr nach, wie sie ihrem langen Schatten folgend am Ufer entlanggeht und sich zwischen den Sonnenschirmen des Strandcafés verliert. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gleichzeitig glücklich und traurig gewesen zu sein, versuche, stark zu sein, und muss dann doch weinen. Sun wird mir fehlen. Sie ist wirklich beeindruckend. In mir steigt das wärmende Gefühl auf, einem großartigen Menschen begegnet zu sein. Ich bin dankbar. Dem Zufall oder dem Schicksal, wer auch immer seine Finger im Spiel hat.
Hinter mir trommeln zwei Leute auf kleinen Cajons. Vor mir werden Sandburgen vom ansteigenden Wasser weggespült. Ich nehme mein Handy und mache ein Foto. Der vergebliche Versuch, diesen Moment in ein einziges Bild zu packen.
Dann rufe ich bei Anne an. Das Freizeichen dringt verzerrt durch die Leitung. Mein Puls beschleunigt. Ich bin beinahe erleichtert, als die Mailbox rangeht. Dennoch lege ich nicht auf, sondern räuspere mich. »Hallo, ich … ich bin’s.« Meine Stimme zittert. Aber meine Gedanken werden klarer. »Können wir uns … können wir uns treffen, um über alles zu reden? Das würde ich mir wünschen. Ich versuche es später noch mal. Ich … ich vermisse dich.« Ich beende das Gespräch und atme lange aus.
Dann vibriert mein Handy. Die MASCHINE. Ein neues Banner. Eine neue Nachricht.
Neue Informationen zu sun_k23 wurden gefunden.
Ich zögere. Vielleicht wäre jetzt auch der richtige Zeitpunkt, sich von der App zu verabschieden und Sun nicht mehr länger nachzuspionieren. Sie kann sich bei mir melden, wenn ihr etwas an unserer Freundschaft liegt. Sie weiterhin aus der Ferne zu beobachten, käme mir falsch vor. Und vielleicht ist es an der Zeit, anzuerkennen, dass es egal ist, ob mein Leben in irgendeiner Datenbank geschrieben steht. Ob es so oder so laufen wird. Welche Fehler ich mache, wie ähnlich ich meinem Vater bin oder meiner Mutter. Ob es ein schönes Leben wird oder nicht. Ob Träume in Erfüllung gehen oder nicht. Das muss ich selber herausfinden.
Mein Daumen schwebt zögernd über dem Display. Dann drücke ich das Icon der MASCHINE. Es fängt tatsächlich an zu zittern. Ich bewege es Richtung Papierkorb. Ein Warnhinweis erscheint.
Bist du dir wirklich sicher, dass du die Maschinen-App deinstallieren möchtest? Dabei gehen alle bisherigen Informationen verloren. Eine erneute Anmeldung ist nicht möglich.
Die MASCHINE zieht alle Register, um mich in ihrem Räderwerk zu halten. Das Icon beginnt zu blinken. Rot zu blinken. Plötzlich schiebt sich ein Banner über meinen Daumen.
Live-Stream zu sun_k23 auf Youtube gefunden.
Ein Live-Stream? Von Sun? Was hat das zu bedeuten? Ich breche den Löschvorgang ab, obwohl ich dieser Nachricht nicht traue. Vielleicht ist das ein Trick der MASCHINE, um mich zum Umdenken zu bewegen. Vielleicht will sie mir zeigen, was ich in Zukunft verpassen werde, wenn ich sie deinstalliere.
Ich klicke auf den Link und werde zu Youtube weitergeleitet. Ich halte das Handy waagerecht, und das Bild dehnt sich über das gesamte Display aus. Der Kanal nennt sich »The End of Mimikry«. Ich sehe einen Mann, der an einem langen Esstisch sitzt und redet. Vor ihm steht eine Obstschale, mit unnatürlich grünen Äpfeln und Kiwis. Im Hintergrund bodentiefe Fenster und ein Treppenaufgang. Die Tonqualität ist so schlecht, dass ich wegen des Winds nichts verstehe. Ich nehme die Ohrstöpsel. Die Perspektive ändert sich. Nun sieht man eine Weitwinkelaufnahme wie aus einer Überwachungskamera. Seitlich von oben. Eine zweite Gestalt in einem blendend weißen Maleroverall sitzt ebenfalls an dem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite. Das Gesicht ist hinter einer Guy-Fawkes-Maske verborgen. Auf einem quadratischen Porzellanteller davor: eine schwarze Pistole.