»Ich habe nicht viel Bargeld im Haus«, sagt der Mann. Für jemanden, der gerade mit dem Tod bedroht wird, klingt seine Stimme ausgesprochen ruhig. »Meine Frau hat teuren Schmuck. Jede Menge. Den können Sie gerne haben. Der Safe ist unten. Wir müssten nur gemeinsam …« Der Mann will sich erheben. Die Gestalt im Overall schnellt hoch und rammt ihm die Tischkante in den Magen. Man sieht die Augen des Mannes hervorquellen. Er schnappt nach Luft. Auf dem gebräunten Gesicht spiegeln sich Überraschung und Wut. Lautes Keuchen ist zu hören.
»Sitzen bleiben!«, brüllt der Maskierte. »Ich sage, wie das hier läuft!« Die Stimme ist mehrfach verfremdet. Sie klingt metallisch und tief und fügt wie zufällig Obertöne an einzelne Silben. Ob Mann oder Frau, lässt sich nicht sagen. Maske und Kapuze verhindern, dass man Gesicht oder Haare erkennen kann.
Das Bild stockt, die Pixel verschieben sich. Der Ton bricht ab. Kurz wird das Display dunkel. Ein Rascheln ist zu hören. Dann kehrt das Bild wieder zurück. Eine neue Perspektive. Nur der Mann ist zu sehen, Oberkörper und Gesicht. Eine Kamera muss vor ihm auf dem Tisch liegen. Nun wirkt er nicht mehr ganz so selbstsicher. Wie bei einem Fernsehinterview erscheint im unteren Drittel des Bildes eine Bauchbinde, in der der Name des Mannes zu lesen ist. Hajo Weidmann. Irgendwoher kenne ich den Namen. Ich komme nicht darauf. Unter dem Namen setzt sich eine Laufschrift in Gang, die aus Firmennamen und ihren Logos und Ministerien mit Bundes- oder Landeswappen besteht. Dahinter Bezeichnungen wie »Aufsichtsrat«, »Verwaltungsratspräsident«, »CEO« und »Berater«. Zum ersten Mal richtet sich der Maskierte direkt ans Publikum. In Nahaufnahme. Wahrscheinlich über die Handykamera. »Liebes Publikum, zum Auftakt unserer Reihe ›Wölfe im Schafspelz‹ haben wir heute einen der einflussreichsten inoffiziellen Lobbyisten des Landes zu Gast. Ob Bank oder Versicherung, ob Regierung, Tech-Konzern oder Elite-Hochschule. Dieser Mann beweist seine Expertise auf allen Gebieten. Sein gegenwärtiges Vermögen beträgt sagenhafte zweihundertvierundachtzig Millionen Dollar. Im vergangenen Jahr hat er großzügigerweise einhundertsiebenundneunzig Euro für den örtlichen Handballverein gespendet. Weitere Infos findet ihr unter den eingeblendeten Links.«
»War es das jetzt?«, fragt der Mann. »Sind Sie nun fertig mit Ihrer Show?«
»Nein«, antwortet die Stimme und richtet die Handykamera auf den Mann. »Ich denke, wir fangen jetzt erst an.« Man sieht einen dunklen Rucksack. Der Maskierte zieht eine Mappe heraus. »Ich würde Ihnen gerne ein paar E-Mails zeigen, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen.«
Der Mann lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. »Sie machen einen großen Fehler.«
Erneuter Perspektivwechsel. Jetzt wieder die Weitwinkelaufnahme. Lichter gehen an. Die Kamera zieht die Blende nach. Der weite Overall erzeugt weiterhin ein konturloses Flirren. Was die schmale Statur angeht, könnte es Sun sein. Ich hoffe, dass ich mich täusche und sie »nur« den Youtube-Kanal zur Verfügung stellt und Bildregie führt. Aber auch das dürfte genügen, um im Gefängnis zu landen.
»Ich bin noch verabredet«, sagt der Mann. Seine Stimme klingt nicht mehr ganz so selbstsicher wie vor einer Minute. »Lesen Sie endlich Ihre Forderung vor. Sagen Sie, was Sie von mir wollen. Entführen lasse ich mich nicht, das kann ich Ihnen gleich sagen. Da bin ich nicht dabei.«
Der Maskierte lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zieht ohne Eile Blätter aus einer Klarsichtfolie, geht um den Tisch herum und breitet sie vor dem Mann aus. Der schüttelt widerwillig den Kopf, zieht aber schließlich doch seine Lesebrille auf und beugt sich über die Schriftstücke.
»Können Sie bestätigen, dass Sie diese Mails geschrieben haben? Dass Sie die IT-Abteilung angewiesen haben, die Algorithmen so zu erweitern und anzupassen, dass dadurch bestimmte Personengruppen schlechteren beziehungsweise in manchen Sparten gar keinen Versicherungsschutz mehr erhalten?«
»Das ist normales Geschäftsgebaren, daran ist nichts Unlauteres. Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen, nicht die Caritas. Wir müssen auf einem internationalen Markt konkurrenzfähig bleiben.«
»Sie sagen also, dass es normal ist, dass ethnische Zugehörigkeiten oder — wie in manchen Fällen — lediglich ausländisch klingende Namen ausreichen, um diesen Menschen den Zugang zu Versicherungsschutz zu verweigern oder zu erschweren?«
»Ich kann mich nur wiederholen: Wir sind ein Wirtschaftsunternehmen. Unsere Aufgabe ist es, Gewinne zu machen und zu wachsen. Wir können nicht in fremde Häuser einbrechen und Robin Hood spielen. Wir haben die Verantwortung für Tausende Angestellte und unzählige Aktionäre, die auf unsere strategische Ausrichtung vertrauen.«
»Sie würden also bestätigen, dass türkisch- oder iranischstämmige Menschen eine größere Gefahr für den Straßenverkehr darstellen als Menschen, deren Wurzeln in Deutschland liegen und die somit der von Ihnen und Ihrem Algorithmus bevorzugten Kategorie A angehören? Ach ja, und dass ein homosexueller Mensch ein höheres Risiko trägt, psychisch zu erkranken, als ein heterosexueller und deshalb Aufschläge ein legitimes Mittel sind, um Risiken abzufedern?«
»Das sagt die Mathematik. Das ist Statistik.«
»Verstehe. Die Mathematik ist also schuld an allem Übel. Nicht derjenige, der die Parameter festlegt.« Der Maskierte hält dem Mann einen Ausdruck vor die Nase. Auch jetzt lässt sich nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. »In diesem Mailwechsel steht leider etwas anderes. Hier werden Sie von einem Mitarbeiter der Rechtsabteilung darauf hingewiesen, dass diese Art der Risikoeingrenzung Sie und den ganzen Versicherungskonzern, ich zitiere, ›in Teufels Küche bringen kann‹. Weil die von Ihnen eingeforderte Berücksichtigung weiterer Kriterien wie Herkunft, sexuelle Identität, Einkommen, Familienstand für bestimmte Produkte unzulässig seien und die von Ihnen zusätzlich von Drittanbietern erworbenen umfangreichen Datensätze nicht ohne Zustimmung des Kunden verwendet werden dürfen.«
»Das alles müssen Sie erst einmal beweisen. Können Sie jetzt bitte Ihr Handy weglegen. Mir reicht’s.«
»Den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun. Das Publikum interessiert mit Sicherheit, wie Sie die Bilanz Ihres Unternehmens in den letzten vier Jahren zum Wohl der Aktionäre steigern konnten, wer dafür die Rechnung bezahlt hat und wer aus dem Kollektiv der Versicherten leider als Verlierer hervorging. Um Ihr zugegeben klischeehaftes und für die Gemeinschaft der Menschen schädliches Managerverhalten vollständig zu dokumentieren, haben wir hier auch noch den Mailverkehr mit einem exklusiven Escort-Service, inklusive einiger Videos, die zeigen, wie sehr Sie auch auf anderer Ebene als moralische Instanz glänzen.«
»Ohne Leute wie mich, die Steuern bezahlen und dafür sorgen, dass es diesem Land so gut geht, würden Sie hier gar nicht stehen. Das sei Ihnen gesagt. Eine stabile Demokratie braucht eine ebenso starke, funktionierende Wirtschaft. Sonst übernehmen Populisten das Ruder.«
»So hängt das alles zusammen. Sie sind also eine Stütze der Demokratie.« Der Maskierte nickt kaum merklich. »Und Sie bezahlen Steuern. Interessant. Befindet sich Ihr Erstwohnsitz nicht in der Schweiz, im Kanton Zug? Und da wären noch ein paar Konten in ferneren Ländern, für die sich das Finanzamt mit Sicherheit interessiert. Schließlich wollen Sie doch nur das Beste für diesen Staat und seine Mitbürger.« Der Maskierte wendet sich wieder der Kamera zu. »Ihr könnt nun abstimmen, für welche Strafe ihr euch entscheidet. Sollte der Live-Stream unterbrochen werden, klickt auf den unten stehenden Link oder wechselt auf einen unserer anderen Kanäle.«
Auf dem Bildschirm erscheinen drei Kästchen, darüber stehen die jeweiligen Optionen in Großbuchstaben: EXPOSE, DISARM, KILL.
Das waren Suns Worte. Das heute im Hotel war also der Probelauf gewesen. Trotzdem muss das nicht heißen, dass sie es ist, die unter diesem Overall steckt. Es besteht immer noch die Chance, dass sie nur von außen agiert. Auch wenn das für einen Richter vermutlich keinen großen Unterschied macht. Sie ist Teil dieser Terrorzelle.
»Euch bleiben sechzig Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen, welche Strafe ihr für gerecht haltet«, sagt der Maskierte — ich will nicht wahrhaben, dass es Sun ist — in die Handykamera. Das Bild zittert leicht.
»Ich möchte an dieser Stelle abbrechen«, ruft der Mann mit harter Stimme dazwischen. »Sie haben meine Zeit lange genug vergeudet.«
Bildwechsel in die Totale. Der Maskierte lehnt sich über den Tisch und greift blitzschnell nach der Pistole. Die Übertragung stockt und friert ein. Ich halte den Atem an. Die letzte Gewissheit im Standbild, in Full HD: Es ist Sun. Ich sehe eine rote Haarsträhne, die hinter der Maske hervorquillt, und eine Sekunde später, als die Übertragung weiterläuft, ihre glänzenden Fingernägel. Sandfarben. Sie hält dem Mann die Waffe an den Kopf und filmt sein Gesicht aus nächster Nähe. Schweißperlen auf der Stirn. Selbstsicherheit in Auflösung. Den Blick auf ein mögliches Ende gerichtet.
»Noch dreißig Sekunden«, sagt Sun. Der Countdown wird an der Unterseite eingeblendet. Dann bricht die Übertragung ab. Das Youtube-Logo erscheint.
Ich aktiviere den M2M-Modus der MASCHINE. »Kannst du mir sagen, wo sich Sun aufhält?« Die Sanduhr beginnt sich zu drehen.
Aufenthaltsort gefunden. Entfernung ein Kilometer.
»Bitte Kartenausschnitt anzeigen«, sage ich. Ein roter Punkt leuchtet auf. Ich lasse meine Sachen liegen und renne los. Ich überquere die Straße, laufe beinahe vor ein Auto und folge den Treppenstufen, die nach oben in ein Wohngebiet führen. Sun darf den Mann nicht erschießen. Egal, was er getan hat. Auch wenn er es ist, den sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich macht. Außer Atem erreiche ich eine Anhöhe. Ich muss kurz stehen bleiben, weil mir mein Herz sonst aus der Brust springt. Dann gehe ich weiter. Mehr als Dauerlauf ist nicht mehr drin. Ich erreiche eine breite Straße und entdecke Suns Auto, das an der Ecke steht. Die MASCHINE sagt, dass es nur noch zweihundert Meter sind. Der dunkle Betonquader mit vorgelagertem erstem Stock muss es sein. Von der Straßenseite lässt sich das Grundstück nicht einsehen. Die Hecken sind blickdicht und drei Meter hoch. Das Schiebetor zur Einfahrt ist einen Spaltbreit geöffnet. Da pass ich nicht durch. Vor der Garage steht ein schwarzer Porsche Cayenne. Der Aufkleber am Heck des Wagens, das Schwert-Logo, bestätigt, dass es die richtige Adresse ist. Ich klingle Sturm. Nichts regt sich. Wenn es nur nicht schon zu spät ist. Dann öffnet sich die Haustür. Sun tritt heraus. Sie trägt noch den Overall, nimmt die Maske ab und verstaut beides im Rucksack. Sie muss die Überwachungskamera deaktiviert haben. Trotzdem wundere ich mich, dass sie sich so viel Zeit lässt und nicht sofort abhaut. Vielleicht heißt das, dass sie den Mann getötet hat.
Jetzt blickt sie in meine Richtung und erstarrt. Im selben Augenblick geht die Alarmanlage los. Der Lärm ist ohrenbetäubend laut. Blinklichter. Rote Blinklichter, an der Garage und über der Terrasse. Sie schleudern ihren Hilferuf über die Hecken, in die Nachbarschaft und auf die Straße. Ihr harter Takt multipliziert sich mit dem An- und Abschwellen des kreischenden Sirenentons. Sun rennt auf mich zu, zwängt sich durch das Schiebetor und brüllt: »NICHT JETZT!« Dann packt sie mich am Arm, zieht mich mit hinein in den Untergang, und wir rennen gemeinsam die Straße hinunter. Sun und ich, wie ein Gangsterpärchen, wie Bonnie and Clyde, denke ich unpassenderweise, während mein Herzmuskel kurz davor steht, den Dienst einzustellen. Es bleibt keine Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir springen in den Wagen. Suns Hände zittern wie verrückt. Sie schafft es kaum, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Sun startet den Wagen. Das Radio brüllt los.
Nachrichtensprecher: »Der Dax steht im Minus.«
Ich: »Worauf wartest du?«
Sun: Ein Faustschlag. Das Radio ist aus. Sie drückt das Gaspedal durch, und wir rauschen davon. Um die Kurve. In eine Seitenstraße. Raus aus dem Wohngebiet. Dann auf die Hauptstraße. Langsamer. Richtung Osten, Richtung Hafen. Als ich zu einer Frage ansetze, bringt sie mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Später!«, zischt sie und blickt gehetzt in den Rückspiegel. Ein Polizeiauto mit Blaulicht und eingeschalteter Sirene kommt uns auf der Gegenfahrbahn entgegen. Sun behält die Nerven. Sie geht auf die Bremse und ordnet sich auf einer Abbiegespur hinter einem Lastwagen ein.
Ich will nicht wissen, wofür sich die Zuschauer entschieden haben. Ich will nicht hören, dass Sun eine Mörderin ist. Sie telefoniert. Sagt, dass alles nach Plan gelaufen sei und man jetzt mit der Aussendung beginnen könne. Weder am Klang ihrer Stimme noch an ihrem Gesichtsausdruck lässt sich erkennen, was passiert ist. Die Pistole muss im Rucksack sein, der halb geöffnet auf der Rückbank liegt. Ich frage mich, ob man es riechen würde, wenn daraus ein Schuss abgegeben wurde. Bei dem Jagdgewehr hat man es gerochen. Ich hatte sogar den Eindruck, den Geruch an meinen Händen zu haben.
»Ich habe ihn nicht umgebracht«, erlöst mich Sun schließlich aus der Ungewissheit. »Obwohl er es verdient hätte«, fügt sie mit eisiger Stimme hinzu. Dann zündet sie sich eine Zigarette an, lässt die Scheibe runter und schweigt.
»Glaubst du nicht, dass sie den Wagen schon suchen?«, frage ich.
»Und wenn schon. Allein im Großraum Hamburg gibt es mehr als siebzig Minis, die aussehen wie der hier. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.«
»Verrückt«, sage ich. »Das, was ihr da tut, ist völlig verrückt. Auch wenn ihr nicht vorhabt, Leute umzubringen, werden sie euch jagen. Wie Terroristen.«
»Ja, das werden sie.«
Aus irgendeinem Grund macht mich Suns abgeklärtes Verhalten wütend. »Warum hast du den Mann nicht getötet, nach dem, was er deinem Vater angetan hat?«, frage ich kühl.
»Weil es nicht um meine persönliche Rache geht, nicht um mich und meine Gefühle, sondern um die Ziele unserer Gruppe.« Die Ampel schaltet auf Grün. Ich rechne immer noch damit, dass wir gleich in eine Polizeisperre geraten und festgenommen werden. Sun fährt langsamer als die vorgegebene Geschwindigkeit, obwohl die Straße frei ist.
»Wir wollen den Menschen ihre moralischen Verfehlungen aufzeigen«, redet Sun weiter. »Und sie dazu zwingen, sich einem öffentlichen Urteil zu stellen. Dafür leaken wir die entsprechenden Dokumente oder leiten sie direkt an die zuständigen Stellen weiter.«
»Es gab also gar keine Abstimmung? Das mit den Kästchen war nur Fake?«
»Die Abstimmung gab es, aber die letzte Instanz, das sind wir. Und unsere Gruppe sieht das Töten nicht als probates Mittel an, um Ziele durchzusetzen.«
»Aber wozu lasst ihr die Leute überhaupt abstimmen, wenn ihr das Ergebnis ignoriert?«
»Um Aufmerksamkeit zu bekommen und den Menschen das Gefühl zu geben, dabei zu sein. Anders lässt sich dieses Spiel leider nicht spielen. Man muss die Leute in den Entscheidungsprozessen einbinden oder wenigstens so tun, damit sie aus ihrer Lethargie erwachen und ihre Macht begreifen. Nur so wird unsere Gruppe schnell genug wachsen, um fatale Entwicklungen aufzuhalten, bevor es zu spät ist.«
»Deshalb die Guy-Fawkes-Maske? Um den Leuten zu zeigen, dass ihr für die Unterdrückten kämpft. Als Symbol des Widerstands.«
»Das ist Don Quijote. Nicht Guy Fawkes.«
Ich runzle die Stirn. »Willst du damit sagen, dass ihr gegen Windmühlen kämpft? Das klingt aber nicht gerade zuversichtlich.«
Sun pustet den Rauch nach draußen. »Nicht wir sind diejenigen, die gegen Windmühlen kämpfen. Es sind die Multimilliarden-Konzerne und Regierungen, die glauben, dass sie das Recht haben, das Internet für ihre Zwecke zu missbrauchen. Sie werden unseren Widerstand auf allen Ebenen zu spüren bekommen. Wir werden sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.«
Wir biegen in ein Industriegebiet ein, das weit draußen im Hafengebiet liegt. Überall Brücken, Lastwagen und riesige Öltanks. Suns Gesichtszüge entspannen sich. Offensichtlich haben wir es aus der Gefahrenzone geschafft.
»Hat die Mehrheit für das Töten gestimmt?«, will ich wissen.
Sun nickt wie in Zeitlupe. »Das kann man den Leuten nicht zum Vorwurf machen. Sie haben die Angst des Mannes nicht mit eigenen Augen gesehen und sein Flehen nicht gehört. Und sie wissen nicht, was es bedeutet, abzudrücken. Sie können nicht ahnen, dass dieser Moment sich auch in ihr Leben für immer einbrennen wird. Schuld kann man nur verdrängen, nicht vergessen.«
Wir fahren auf das Firmengelände einer ehemaligen Spedition. Ausgemusterte Container, Holzpaletten, Stahlfässer, riesige Kabelrollen und jede Menge Kanister stehen herum. Sun öffnet das Tor zu einer Lagerhalle, wo wir das Auto abstellen. Sie nimmt ihre Sachen aus dem Kofferraum, zieht eine dunkle Plane über den Wagen, schlüpft aus dem Overall und stopft ihn in den Rucksack. Alles ist perfekt vorbereitet. Dann gehen wir aus der Halle. Sun bittet mich zu warten, während sie zum Telefonieren in ein leer stehendes Pförtnerhäuschen verschwindet. Ich habe unzählige Fragen, die mir im Kopf herumschwirren.
»Gibt es dein Start-up überhaupt?«, überfalle ich sie, als sie zurückkommt.
»Ja, das gibt es.« Sun öffnet die Rückseite ihres Handys, nimmt die SIM-Karte heraus, legt sie auf ein Stahlfass und hält ihr Feuerzeug an das Plastik. Ihre Hände zittern immer noch. »Nichts ist, wie es scheint.«
»Kannst du vielleicht etwas genauer werden?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Weil du mir nicht vertraust?«
»Weil ich nicht will, dass du irgendwann lügen musst, deshalb.«
»Ich bekomme also keine Antwort, wenn ich frage, was du jetzt vorhast? Und du wirst mich auch online weiterhin aussperren? Sehe ich das richtig?«
Sun nickt. »Es geht nicht anders. Ist nur zu deinem Schutz.«
»Und was ist mit deinen Freundinnen? Wissen Maja und Kim von deinen Plänen?«
»Nein. Sie sind aber eine gute Tarnung. Und sie haben einflussreiche Väter, die für uns später noch von Bedeutung sein könnten, wenn wir die nächste Stufe zünden.«
»Das ist also erst der Anfang?«
»So ist es.«
Ich sehe dabei zu, wie der Kunststoff Bläschen wirft und schwarz wird. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase. »Und werden wir uns irgendwann wiedersehen? Oder ist unser dritter Abschied endgültig?«
Die dünne Rauchfahne wird vom Wind davongetragen. Sun lässt sich Zeit mit der Antwort. Sie steckt das Feuerzeug in den Rucksack. »In einem Jahr in der Hütte. Ich werde meine Mutter davon überzeugen, sie nicht zu verkaufen. Natürlich nur, wenn du willst. Mit oder ohne Anne. Ihr seid beide willkommen.«
Ein schwarzer Volvo biegt in die Einfahrt. Ich rechne damit, dass gleich ein Sondereinsatzkommando der Polizei aus dem Wagen springt, aber stattdessen steigen zwei Mädchen aus, die etwas älter als Sun aussehen und wie Messehostessen gekleidet sind. Die beiden machen ein ernstes Gesicht, eine nickt Sun zu.
»Ich komme gleich«, ruft ihnen Sun zu. »Ich muss dann jetzt. Viel Glück auf deiner Reise.«
»Dir auch«, sage ich.
Wir umarmen uns.
»Hier, für dich«, sagt Sun, nachdem wir uns voneinander gelöst haben, und gibt mir die zerstörte SIM-Karte. »Für dein Notizbuch. Damit du dir weiterhin Geschichten ausdenken kannst. Für das Dazwischen und Danach.«
»Danke.«
»Kommst du alleine von hier weg?«, fragt Sun.
Ich grinse schief. »Ja, das müsste ich irgendwie hinbekommen.«
»Im Notfall hast du ja die Maschine.«
Ich nicke. »Genau.«
Sun geht zu den Frauen, umarmt sie, steigt in den Wagen und fährt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich bleibe ein, zwei Minuten stehen und inhaliere die Luft. Ich bilde mir ein, das Meer zu riechen. Mein Blick wandert zu meiner Gitarrentasche. Ich werde es versuchen. Ich werde versuchen, meine Musik zu machen.
Erleichtert, diese Entscheidung getroffen zu haben, lege ich meinen Daumen auf das Icon der MASCHINE und bewege es Richtung Papierkorb, der sich entgegen meiner Erwartung diesmal vorbehaltlos öffnet und von mir verlangt, dass ich die Deinstallation bestätige. Ich hole tief Luft, obwohl mir dieser Abschied nicht besonders schwerfällt. Das Display flackert und wird schwarz. Ein, zwei Sekunden. Dann betritt der Arbeiter in aufrechtem Gang die Bühne. Er dreht den Kopf in meine Richtung und öffnet den Mund zu einem kleinen Lächeln. Zoom auf sein Gesicht. Nahaufnahme. Kein Zweifel: Er ist ich. Ich bin er. Wir sind unser Spiegelbild. Ich nicke ihm zu und erwidere sein Lächeln. Er nickt zurück und sagt mit väterlicher Stimme: »Die Freiheit wartet auf dich.«
Dann fällt die Grafik in sich zusammen, und der Home-Bildschirm erscheint.
Die Maschinen-App ist verschwunden.
Die Freiheit wartet auf dich, hallt es in meinem Kopf wider.
Mein Handy klingelt. Es ist Anne. Ich zögere kurz, dann gehe ich ran. Es genügt, dass sie Hallo sagt, um zu wissen, dass ich in sie verliebt bin.
»Wir müssen uns sehen.«
ENDE