11

Ich fahre zum Flughafen, um Margot und Ravi abzuholen, während Dad das Abendessen kocht und Kitty ihre Hausaufgaben macht. Ich gebe die Adresse ins Navi ein, nur für den Fall, und komme ohne Zwischenfälle an. Unser Flughafen ist recht klein, und so fahre ich ein paar Mal im Kreis, bis die beiden aus dem Gebäude kommen.

Als ich am Bordstein anhalte, sitzen Margot und Ravi schon auf ihren Koffern und warten. Ich springe aus dem Auto, renne auf Margot zu und schlinge die Arme um sie. Sie hat die Haare erst kürzlich auf Kinnlänge abgeschnitten und trägt ein Sweatshirt und Leggings. Ich drücke sie ganz fest und denke: Oh, wie habe ich meine Schwester vermisst!

Dann lasse ich sie los und begutachte Ravi, der größer ist, als ich dachte. Er ist lang und dünn und hat dunkle Haut, dunkle Haare und dunkle Augen mit langen Wimpern. Er sieht völlig anders aus als Josh, trotzdem passt er zu Margot. Er hat ein Grübchen in der rechten Wange.

»Schön, dich endlich persönlich kennenzulernen, Lara Jean«, sagt er, und ich bin gleich ganz hin und weg von seiner Sprechweise. Mein Name klingt richtig elegant, wenn er mit einem englischen Akzent ausgesprochen wird.

Erst bin ich ziemlich nervös, doch dann sehe ich sein T-Shirt mit dem Aufdruck Dumbledores Armee, und da entspanne ich mich sofort. Er ist ein Harry-Potter-Fan wie wir. »Ich freue mich auch, dich kennenzulernen. Und, welches Haus bist du?«

Er nimmt die Koffer und lädt sie in den Kofferraum. »Mal sehen, ob du es erraten kannst. Deine Schwester hat jedenfalls falsch getippt.«

»Nur, weil du mich im ersten Monat, nachdem wir uns kennengelernt haben, unbedingt beeindrucken musstest«, protestiert sie.

Ravi lacht und setzt sich auf den Rücksitz.

Ich finde, es spricht für ihn, dass er nicht automatisch vorne einsteigt.

Margot schaut mich an. »Soll ich fahren?«

Kurz bin ich versucht, Ja zu sagen, weil ich es lieber mag, wenn Margot fährt, stattdessen schüttele ich jedoch den Kopf und halte die Schlüssel in die Höhe. »Ich krieg das schon hin.«

Beeindruckt zieht sie die Augenbrauen hoch. »Das ist schön.«

Sie geht zur Beifahrerseite, und ich setze mich hinter das Lenkrad. Ich schaue Ravi im Rückspiegel an. »Bis du wieder abreist, weiß ich, welches Haus du bist.«

Daddy, Kitty und Ms. Rothschild warten im Wohnzimmer auf uns. Margot schaut etwas verblüfft, als sie Ms. Rothschild neben Dad auf dem Sofa sieht, ihre nackten Füße auf seinem Schoß. Ich habe mich daran gewöhnt, sie bei uns zu haben, für mich gehört sie quasi schon zur Familie. Aber ich habe gar nicht daran gedacht, wie irritierend es für Margot sein muss. Ms. Rothschild und sie kennen sich ja kaum, weil Margot die ganze Zeit über in Schottland auf dem College war. Sie war nicht dabei, als die Sache mit Ms. Rothschild und Dad anfing, und ist seitdem nur kurz an Weihnachten zu Hause gewesen.

Sobald Ms. Rothschild Margot sieht, springt sie auf, drückt sie und lobt ihre Frisur. Sie umarmt auch Ravi. »Meine Güte, bist du ein heißer Feger!«, scherzt sie, und er lacht, doch Margot lächelt nur steif.

Dann sieht sie Kitty und umarmt sie ganz fest. Sekunden später kreischt sie: »Oh mein Gott, Kitty! Trägst du etwa schon einen BH?« Kitty fährt zusammen und blitzt Margot mit zornesroten Wangen an. Beschämt haucht Margot lautlos: Sorry.

Ravi tritt hastig vor und schüttelt Dad die Hand. »Guten Tag, Dr. Covey. Ich bin Ravi. Vielen Dank für die Einladung.«

»Oh, wir freuen uns, dich bei uns zu haben, Ravi«, sagt Dad.

Dann wendet Ravi sich an Kitty, er lächelt, hebt grüßend die Hand und sagt etwas verlegen: »Hi, Kitty.«

Kitty nickt nur, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Hallo.«

Margot starrt Kitty immer noch ungläubig an.

Weil wir im gleichen Haus leben, fällt es mir schwer zu sehen, wie sehr Kitty sich im vergangenen Jahr verändert hat – aber es stimmt, sie hat einen gewaltigen Sprung gemacht. Es ist nicht unbedingt so, dass sie einen Busen bekommen hätte – der BH ist eigentlich eher ein dekoratives Accessoire –, aber sie hat sich auf andere Weise verändert.

»Ravi, kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«, zwitschert Ms. Rothschild. »Wir haben Saft, Fresca, Cola light oder Wasser.«

»Was ist Fresca?«, erkundigt Ravi sich neugierig.

Ihre Augen leuchten auf. »Eine sehr leckere Limonade mit Grapefruitgeschmack. Und null Kalorien! Die musst du unbedingt probieren!«

Margot beobachtet, wie Ms. Rothschild in die Küche geht und den Schrank öffnet, in dem unsere Gläser stehen. Sie füllt Eis in ein Glas und ruft: »Margot, was ist mit dir? Kann ich dir auch etwas bringen?«

»Nein, vielen Dank«, antwortet Margot scheinbar freundlich.

Ich spüre, dass es ihr nicht gefällt, in ihrem Zuhause etwas zu trinken angeboten zu bekommen, von einer Frau, die nicht mal hier wohnt.

Ms. Rothschild kommt mit Ravis Getränk zurück und reicht ihm mit großer Geste das Glas.

Er bedankt sich und trinkt einen Schluck. »Sehr erfrischend.«

Sie strahlt.

Daddy klatscht in die Hände. »Sollen wir eure Koffer hochbringen? Dann könnt ihr euch vor dem Essen noch kurz frisch machen. Wir haben das Gästezimmer schon hergerichtet.« Mit einem liebevollen Blick zu mir sagt er: »Lara Jean hat extra Hausschuhe und einen Bademantel für dich besorgt, Ravi.«

Bevor Ravi antworten kann, meint Margot: »Oh, das ist nett von dir. Aber Ravi kann bei mir im Zimmer schlafen.«

Die Nachricht explodiert wie eine Stinkbombe in unserem Wohnzimmer. Kitty und ich schauen uns mit großen Oh-mein-Gott-Augen an, und Dad ist total verdattert und weiß nicht, was er sagen soll.

Als ich im Gästezimmer einen Stapel mit Handtüchern neben das Bett gelegt und Morgenmantel und Hausschuhe für Ravi bereitgestellt habe, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, er könnte in Margots Zimmer schlafen. Und Daddy geht es offensichtlich genauso.

Sein Gesicht läuft knallrot an. »Oh … ähm … ich weiß nicht, ob …«

Margot schürzt nervös die Lippen und wartet, dass er seinen Satz beendet. Wir warten alle darauf, aber ihm scheint nichts mehr einzufallen. Hilfe suchend huschen seine Augen zu Ms. Rothschild, die ihm aufmunternd die Hand auf den Rücken legt.

Dem armen Ravi ist sichtlich unwohl zumute. Meine erste Vermutung war, er könnte ein Ravenclaw sein wie Margot, aber jetzt kommt er mir eher wie ein Hufflepuff vor, so wie ich. Mit leiser Stimme wirft er ein: »Es macht mir wirklich nichts aus, im Gästezimmer zu schlafen. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn es deshalb Probleme gibt.«

Dad will ihm antworten, doch Margot kommt ihm zuvor. »Nein, ist schon gut«, versichert sie Ravi. »Komm, wir holen die restlichen Taschen aus dem Auto.«

Sobald sie weg sind, schauen Kitty und ich uns an. Und sagen gleichzeitig: »Oh mein Gott.«

»Warum müssen sie im gleichen Zimmer schlafen? Müssen sie so dringend Sex haben?«, fragt Kitty.

»Das reicht, Kitty«, sagt Dad deutlich schärfer als gewohnt. Er marschiert aus dem Zimmer, kurz darauf knallt er die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich zu. Dorthin zieht er sich zurück, wenn er richtig sauer ist.

Ms. Rothschild wirft Kitty einen tadelnden Blick zu und folgt ihm.

Kitty und ich schauen uns wieder an.

»Oje«, stöhne ich.

»Er hätte mich nicht so anzuschnauzen brauchen«, sagt Kitty mürrisch. »Ich bin nicht diejenige, die mit ihrem Freund in einem Bett schlafen will.«

»Das hat er nicht so gemeint.« Ich ziehe sie an mich und lege die Arme um ihre knochigen Schultern. »Gogo hat echt Nerven, was?« Meine Schwester ist wirklich beeindruckend, auch wenn Daddy mir leidtut. Solche Kämpfe ist er nicht gewohnt. Oder überhaupt Auseinandersetzungen.

Natürlich berichte ich sofort Peter davon. Er schickt jede Menge großäugiger Emojis zurück. Und: Glaubst du, dein Dad würde uns im gleichen Zimmer schlafen lassen??

Ich antworte nicht darauf.

Ravi geht nach oben, um sich umzuziehen, und Ms. Rothschild verkündet, dass sie sich mit ihren Freundinnen zum Essen verabredet hat, worüber Margot sichtlich erleichtert ist.

Nachdem Ms. Rothschild sich verabschiedet hat, geht Kitty mit Jamie Fox-Pickle Gassi, und Margot und ich verziehen uns in die Küche, um einen Salat zu Dads Grillhähnchen zu machen. Ich brenne darauf, mit ihr allein zu sein, damit wir über die ganze Schlaf-Situation reden können, habe aber keine Gelegenheit, danach zu fragen, weil Margot gleich loszischt: »Warum hast du mir nicht gesagt, dass es zwischen Daddy und Ms. Rothschild so ernst ist?«

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie fast jeden Abend zum Essen da ist!«, flüstere ich zurück und wasche ein Körbchen mit Kirschtomaten, damit das Wasser unsere Unterhaltung übertönt.

»Sie stolziert durch unser Haus, als würde sie hier wohnen! Und seit wann gibt es bei uns dieses Diätzeug? Wir haben noch nie Fresca getrunken!«

Ich schneide die Tomaten in zwei Hälften. »Sie mag es eben, deshalb bringe ich vom Einkaufen immer einen Kasten mit. Es schmeckt wirklich erfrischend. Und Ravi scheint es auch zu mögen.«

»Darum geht es nicht!«

»Was hast du eigentlich auf einmal für ein Problem mit Ms. Rothschild? An Weihnachten habt ihr euch doch super verstanden …« Ich verstumme, weil Dad in die Küche kommt.

»Kann ich kurz mit dir reden, Margot?«

Margot tut so, als sei sie mit dem Besteck beschäftigt. »Klar. Um was geht’s, Daddy?«

Dad schaut mich an. Ich starre auf die Tomaten vor mir und beschließe, als moralische Unterstützung zu bleiben. »Ich würde es vorziehen, wenn Ravi im Gästezimmer schläft.«

Margot beißt sich auf die Lippe. »Warum?«

Nach einer verlegenen Pause antwortet Dad: »Mir ist einfach nicht wohl dabei …«

»Aber Dad, wir sind zusammen auf dem College … Dir ist klar, dass wir schon in einem Bett geschlafen haben, oder?«

Trocken sagt er: »Das habe ich vermutet, aber danke für die Bestätigung.«

»Ich bin fast zwanzig. Seit fast zwei Jahren wohne ich Tausende von Kilometern entfernt von zu Hause.« Margot schaut zu mir, und ich mache mich sofort ganz klein. Ich hätte mich verdrücken sollen, als ich noch die Chance dazu hatte. »Lara Jean und ich sind keine kleinen Kinder mehr …«

»He, zieh mich da nicht mit rein«, sage ich so scherzhaft wie möglich.

Dad seufzt. »Margot, wenn du so erpicht darauf bist, werde ich dich nicht daran hindern. Aber ich möchte dich nur daran erinnern, dass das immer noch mein Haus ist.«

»Ich dachte, es wäre unser Haus.« Ihre Stimme klingt jetzt süß wie Zuckerwatte, weil sie weiß, dass sie den Kampf gewonnen hat.

»Na ja, den Kredit dafür muss ich abbezahlen, nicht ihr, deshalb habe ich vielleicht ein kleines bisschen mehr Anrecht darauf.« Nach diesem letzten Dad-Spruch zieht er die Ofenhandschuhe an und holt das brutzelnde Hähnchen aus dem Ofen.

Als wir uns zum Essen um den Tisch versammeln, bleibt Dad am Kopfende stehen und schneidet das Huhn mit dem tollen neuen Elektromesser auf, das Ms. Rothschild ihm zum Geburtstag geschenkt hat. »Ravi, möchtest du lieber Brust oder Keule?«

Ravi räuspert sich. »Ähm, tut mir leid, aber ich esse kein Fleisch.«

Dad sieht Margot entsetzt an. »Warum hast du nicht gesagt, dass Ravi Vegetarier ist?«

»Tut mir leid«, meint sie schuldbewusst. »Das habe ich ganz vergessen. Aber Ravi liebt Salat!«

»Das stimmt wirklich«, versichert er meinem Vater.

»Ich nehme Ravis Portion«, biete ich an. »Zwei Schenkel, bitte.«

Dad schneidet zwei Schenkel für mich ab. »Gut, Ravi, dann mache ich dir morgen eine wunderbare Enchilada zum Frühstück. Ganz ohne Fleisch!«

Lächelnd wendet Margot ein: »Wir wollten morgen ganz früh nach Washington fahren. Vielleicht an dem Morgen, bevor er fährt?«

»Abgemacht«, sagt Dad.

Kitty ist ungewöhnlich still. Ich weiß nicht, ob es sie nervös macht, dass ein fremder Junge bei uns am Esstisch sitzt, oder ob sie einfach älter wird und nicht mehr so unbefangen auf neue Leute zugeht. Und ein zwanzig Jahre alter Junge ist immerhin fast schon ein erwachsener Mann.

Ravi hat sehr gute Manieren – vermutlich, weil er Engländer ist. Es heißt doch immer, Engländer würden sich besser benehmen als Amerikaner. Ständig entschuldigt er sich. »Entschuldigung, könnte ich bitte …« Sein Akzent ist wahnsinnig charmant. Immer wieder sage ich: »Wie bitte?«, nur damit er weiterredet.

Außerdem versuche ich, die Stimmung aufzulockern, indem ich ihn über England ausfrage. Ich will wissen, warum die Engländer Privatschulen als »public schools« bezeichnen, ob seine Schule Ähnlichkeit mit Hogwarts hatte und ob er schon mal der königlichen Familie begegnet ist.

Seine Antworten sind: Weil sie für die zahlende Allgemeinheit zugänglich sind, sie hätten auch Vertrauensschüler und Schulsprecher gehabt, aber kein Quidditch, und einmal hätte er Prinz William in Wimbledon gesehen, aber nur seinen Hinterkopf.

Nach dem Abendessen wollen Ravi, Margot, Peter und ich ins Kino. Margot lädt Kitty ein mitzukommen, aber sie schiebt ihre Hausaufgaben vor und lehnt ab. Ich glaube, Ravi macht sie einfach nervös.

Ich gehe in mein Zimmer, trage einen Spritzer Parfüm und einen Hauch Lipgloss auf und ziehe einen Pulli über meine Bluse, weil es im Kino kühl sein kann. Kurz darauf bin ich fertig und gehe auf den Flur. Hinter Margots Tür kann ich die beiden leise, aber eindringlich miteinander sprechen hören. Der Anblick der geschlossenen Tür ist irgendwie seltsam. Ich komme mir vor wie ein Spion und traue mich nicht zu klopfen. Vielleicht zieht Ravi sich gerade um. Es wirkt so erwachsenenmäßig, mit der geschlossenen Tür und den gedämpften Stimmen.

Schließlich räuspere ich mich und frage laut: »Seid ihr so weit? Ich habe Peter gesagt, wir sind um acht da.«

Margot öffnet die Tür. »Wir kommen.« Sie sieht nicht sehr glücklich aus.

Ravi kommt hinter ihr aus dem Zimmer, seinen Koffer in der Hand. »Ich stelle den nur kurz ins Gästezimmer, dann bin ich so weit«, sagt er.

Sobald er verschwunden ist, flüstere ich Margot zu: »Ist was passiert?«

»Ravi will keinen schlechten Eindruck auf Dad machen, indem er in meinem Zimmer schläft. Ich habe ihm zwar gesagt, es wäre okay so, aber er fühlt sich nicht wohl dabei.«

»Das ist ziemlich rücksichtsvoll von ihm.« Und auch wenn ich das nicht laut sage, finde ich doch, dass das genau die richtige Entscheidung war. Meiner Achtung vor Ravi steigt.

Widerstrebend gibt sie zu: »Er ist eben ein rücksichtsvoller Mensch.«

»Und er sieht super aus.«

Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. »Das auch, ja.«

Peter steht schon vor dem Kino. Bestimmt wegen Margot. Er hat kein Problem damit, mich warten zu lassen, aber bei meiner großen Schwester traut er sich das nicht.

Ravi kauft für uns alle die Tickets, was Peter tief beeindruckt. »Echt nobel von ihm«, flüstert er mir zu, als wir zu unseren Plätzen gehen.

Geschickt sorgt Peter dafür, dass er neben Ravi sitzt, damit er sich mit ihm über Fußball unterhalten kann. Margot wirft mir über ihre Köpfe hinweg einen amüsierten Blick zu. Die Missstimmung von vorhin ist zum Glück vergessen.

Nach dem Film schlägt Peter vor, ein Softeis essen zu gehen. »Hast du das schon mal probiert?«, fragt er Ravi.

»Noch nie«, antwortet der.

»Die Eisdiele verkauft das beste Softeis der Welt, Rav«, meint Peter. »Es ist hausgemacht.«

»Klasse«, sagt Ravi.

Während die Jungs sich in die Warteschlange stellen, sagt Margot zu mir: »Ich glaube, Peter ist verliebt – in meinen Freund«, und wir kichern beide.

Wir lachen immer noch, als sie zu unserem Tisch zurückkommen.

Peter reicht mir meinen Becher. »Was ist denn so lustig?«

Ich schüttele nur den Kopf und stecke meinen Löffel in das Eis.

Margot sagt: »Moment, wir müssen noch darauf anstoßen, dass meine Schwester einen Platz am William and Mary bekommen hat.«

Mein Lächeln erstarrt, während die anderen mit ihren Eisbechern gegen meinen stoßen.

Ravi sagt: »Das ist toll, Lara Jean. Hat nicht Jon Stewart dort studiert?«

Ich bin überrascht. »Ja, kann sein. Woher weißt du das?«

»Ravi weiß alle möglichen seltsamen Fakten«, meint Margot und leckt ihren Löffel ab. »Frag ihn bloß nicht nach den Paarungsgewohnheiten von Bonobos.«

»Zwei Worte«, sagt Ravi, dann schaut er von Peter zu mir und flüstert: »Penis-Duell.«

Margot strahlt richtig in Ravis Gegenwart. Früher dachte ich, Josh und sie wären füreinander bestimmt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn es um Politik geht, sind Ravi und sie ganz leidenschaftlich bei der Sache. Es ist ein richtiger Schlagabtausch zwischen den beiden, sie widersprechen einander oder stimmen sich gelegentlich auch zu. Sie sind wie zwei Feuersteine, die Funken schlagen. In einer Arztserie wären sie die rivalisierenden Oberärzte, die sich erst widerwillig respektieren und dann leidenschaftlich ineinander verlieben. Oder zwei politische Berater im Weißen Haus oder zwei Journalisten. Ravi studiert Biotechnik, was nicht viel mit Margots Anthropologiestudium zu tun hat, aber sie sind auf jeden Fall ein tolles Team.

Am nächsten Tag fahren Margot und Ravi nach Washington, um ein paar Museen und das Lincoln Memorial und das Weiße Haus zu besichtigten. Sie haben Kitty und mich eingeladen mitzukommen, aber ich habe für uns beide abgesagt, weil die zwei bestimmt ein bisschen Zeit für sich haben möchten. Außerdem bleibe ich lieber gemütlich zu Hause und bastle an Peters Scrapbook weiter.

Abends frage ich Ravi, was ihm am besten gefallen hat, und er sagt, das National Museum of African American History. Daraufhin bereue ich meine Entscheidung, nicht mitgefahren zu sein, weil ich dort noch nie gewesen bin.

Wir schauen uns eine BBC-Serie auf Netflix an, von der Margot so schwärmt und die dort gedreht wurde, wo Ravi aufgewachsen ist. Er zeigt uns die Orte, die früher für ihn wichtig waren. Wo er seinen ersten Ferienjob hatte und wo er sich zum ersten Mal mit einem Mädchen getroffen hat. Wir löffeln Eis direkt aus der Packung, und ich merke, dass Daddy Ravi richtig gut leiden kann, weil er ihn immer wieder drängt, sich nachzunehmen. Bestimmt hat er mitbekommen, dass Ravi im Gästezimmer schläft, und weiß die Geste zu schätzen. Hoffentlich trennen Ravi und Margot sich nicht. Er würde gut in unsere Familie passen. Zumindest sollten sie lange genug zusammenbleiben, dass Margot und ich mal zusammen nach London reisen und bei ihm wohnen können.

Am nächsten Nachmittag fliegt Ravi nach Texas weiter, und obwohl ich das schade finde, freue ich mich darüber, dass wir Margot noch ein paar Tage für uns haben, bevor sie wieder abreist.

Bei unserem Abschied zeige ich auf ihn und sage: »Hufflepuff.«

Er grinst. »Treffer! Gleich beim ersten Versuch.« Dann zeigt er auf mich. »Hufflepuff?«

Ich grinse ebenfalls. »Treffer!«

Als wir abends in meinem Zimmer sitzen und eine Serie auf meinem Laptop gucken, fängt Margot noch einmal mit dem College an. Offenbar hat sie darauf gewartet, bis Ravi abgereist ist, um mit mir über die wichtigen Themen zu sprechen. Bevor wir die nächste Folge herunterladen, fragt sie: »Können wir über die UVA reden? Wie geht es dir damit?«

»Erst war ich furchtbar traurig, aber jetzt ist es okay. Ich werde trotzdem dort studieren.«

Margot sieht mich fragend an.

»Ich werde einfach nach dem ersten Jahr die Uni wechseln. Ich habe mit Mrs. Duvall geredet, und sie meinte, wenn ich am William and Mary gute Noten hätte, würde der Antrag bestimmt genehmigt werden.«

Sie runzelt die Stirn. »Warum redest du schon davon, dich wegzubewerben, wenn du noch nicht mal dort angefangen hast?« Als ich nicht gleich antworte, hakt sie nach: »Ist es wegen Peter?«

»Nein! Ich meine, schon, teilweise, aber nicht ganz.« Ich zögere, bevor ich ausspreche, was ich noch niemals laut gesagt habe. »Kennst du das, wenn man an einen Ort kommt und weiß: Hier gehöre ich hin? Als ich das William and Mary besucht habe, hatte ich dieses Gefühl nicht. Nicht so wie an der UVA.«

»Vielleicht kann keine Uni dir so ein Gefühl geben wie die UVA«, wendet Margot ein.

»Vielleicht. Deshalb will ich ja nach einem Jahr wechseln.«

Sie seufzt. »Ich möchte nur nicht, dass du dich am William and Mary nicht richtig einlebst, weil du dir die ganze Zeit wünschst, mit Peter an der UVA zu sein. Gerade das erste Jahr ist so wichtig, da passiert so viel. Du solltest dem College wenigstens eine faire Chance geben, Lara Jean. Vielleicht gefällt es dir ja richtig gut.« Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Du weißt doch noch, was Mommy immer über College und Jungs gesagt hat?«

Wie könnte ich das vergessen?

Sei bloß keins dieser Mädchen, die aufs College gehen und einen Freund haben.

»Ich weiß«, sage ich.

Margot nimmt meinen Laptop und ruft die Internetseite des William and Mary auf. »Der Campus ist richtig hübsch. Schau dir die Wetterfahne an. Es sieht aus wie in einem englischen Dorf.«

Meine Stimmung hellt sich sofort auf. »Ja, das stimmt.« Aber ist es dort so schön wie auf dem Campus der UVA? Nein, nicht für mich, aber vermutlich ist es nirgendwo so schön wie in Charlottesville.

»Und schau mal, es gibt einen Guacamole-Club. Und einen Club der Gewitterbeobachter. Und – oh mein Gott! Einen Zauberer-und-
Muggel-Club! Angeblich der größte Harry-Potter-Club an einer amerikanischen Uni.«

»Wow. Wie cool. Gibt es auch einen Back-Club?«

Sie schaut nach. »Nein. Aber du könntest einen gründen.«

»Vielleicht … Das könnte Spaß machen …« Möglicherweise sollte ich wirklich einem oder zwei Clubs beitreten.

Sie strahlt mich an. »Siehst du? Es gibt jede Menge, worauf du dich freuen kannst. Und vergiss nicht den Cheese Shop

Margot spricht von dem Feinkostgeschäft direkt neben dem Campus, in dem Käse verkauft wird – wie der Name schon sagt –, aber auch besonders feine Marmeladen, Brot, Wein und Pasta. Und es gibt dort richtig leckere Braten-Sandwiches mit einem Senf-Ma­yonnaise-Dressing. Ich habe sogar schon versucht, das Dressing nachzumachen, aber es schmeckte lang nicht so gut wie das Original auf dem selbst gebackenen Brot, das sie dort verkaufen. Dad liebt es, im Cheese Shop neue Senfsorten zu probieren und ein Sandwich zu essen. Er wird sich über jede Gelegenheit freuen, dort hinzufahren. Und Kitty liebt das Outlet-Center in Williamsburg. Da bekommt man Popcorn frisch aus dem Kessel, das süchtig macht. Es ist so heiß, dass die Tüte fast schmilzt.

»Vielleicht könnte ich versuchen, einen Job in Colonial Williamsburg zu bekommen.« Ich versuche, mich von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen. »Ich könnte Butter stampfen und dabei eine historische Tracht tragen. Ein Kattunkleid mit Schürze oder was man in den Kolonien früher getragen hat. Angeblich ist es den Mitarbeitern verboten, modernes Englisch zu sprechen, und immer wieder versuchen Kinder, sie reinzulegen. Das könnte Spaß machen. Ich weiß nur nicht, ob sie auch asiatischstämmige einstellen, wegen der historischen Genauigkeit …«

»Lara Jean, wir leben im Zeitalter von Hamilton! Phillipa Soo ist Halbchinesin, hast du das vergessen? Wenn sie die Eliza Hamilton spielen kann, kannst du auch Butter stampfen. Und wenn sie sich weigern sollten, dich einzustellen, werden wir das in den sozialen Medien öffentlich machen und sie dazu zwingen.« Margot legt den Kopf schief und schaut mich an. »Siehst du! Es gibt so viel, worüber du dich freuen kannst, wenn du es nur zulässt.« Sie legt mir die Hände auf die Schultern.

»Ich gebe mir Mühe«, sage ich. »Wirklich.«

»Gib dem William and Mary eine Chance. Schreib es nicht schon ab, bevor du überhaupt da gewesen bist. Okay?«

Ich nicke. »Okay.«