Am nächsten Morgen ist es grau und regnerisch. Wir Mädchen sind allein zu Hause; Dad hat eine Nachricht an den Kühlschrank gehängt, er müsse ins Krankenhaus und würde erst abends zum Essen wieder da sein. Weil Margot noch unter Jetlag leidet, ist sie früh aufgestanden und hat uns Rührei mit Speck gemacht. Genüsslich gebe ich das Ei auf eine Scheibe gebutterten Toast und lausche den Regentropfen, die auf das Dach trommeln. »Wie wär’s, wenn ich heute nicht in die Schule gehe und wir was zusammen unternehmen?«
Kittys Augen leuchten auf. »Was denn?«
»Du nicht. Du musst trotzdem zur Schule. Ich bin ja praktisch mit allem fertig. Wenn ich schwänze, stört das keinen.«
»Daddy würde es bestimmt stören«, meint Margot.
»Aber wenn ich heute nicht zur Schule müsste … auf was hättest du Lust?«
»Egal was?« Margot beißt in ihre Speckscheibe. »Wir würden mit dem Zug nach New York fahren und versuchen, eine Karte für Hamilton zu ergattern. Und natürlich welche bekommen.«
»Ihr dürft aber nicht ohne mich gehen«, beschwert sich Kitty.
»Du weißt ja nicht mal, worüber wir reden, also reg dich nicht auf.«
»Ich weiß, dass ihr so hässlich kichert wie zwei Hexen. Außerdem kenne ich Hamilton sehr wohl, weil du den ganzen Tag den Soundtrack hörst.« Sie singt: »Talk less, smile more.«
»Nur zu deiner Information: Das ist eine Musicalaufnahme und kein Soundtrack«, sage ich, woraufhin sie völlig übertrieben die Augen verdreht.
Wären wir Figuren in Hamilton, dann wäre Kitty Jefferson. Schlau, elegant, schlagfertig. Und Margot wäre auf jeden Fall die Angelica. Sie hat, schon seit sie ein kleines Mädchen war, ihren eigenen Kopf. Ich wäre vermutlich die Eliza, obwohl ich viel lieber wie Angelica wäre. Ehrlich gesagt könnte ich sogar die Peggy sein. Dabei möchte ich in meiner eigenen Geschichte nicht die Peggy sein. Ich möchte Hamilton sein.
Es regnet den ganzen Tag. Sobald Kitty und ich von der Schule nach Hause kommen, schlüpfen wir sofort wieder in unsere Schlafanzüge. Margot hat ihren gar nicht erst ausgezogen. Sie trägt ihre Brille und hat die Haare zu einem Knoten hochgesteckt (weil sie zu kurz sind, rutschen immer wieder Strähnen heraus). Kitty trägt ein großes T-Shirt, und ich freue mich darüber, dass es kalt genug ist für meine rote Flanellhose. Dad ist der Einzige, der noch seine Arbeitskleidung trägt.
Zum Abendessen bestellen wir zwei große Pizzen, einmal Margherita (für Kitty) und eine Pizza Supreme mit allen Extras. Wir sitzen auf dem Sofa und schieben uns die triefenden Pizzastreifen in den Mund, als Dad plötzlich sagt: »Ich möchte etwas mit euch besprechen, Mädchen.« Er räuspert sich, wie immer, wenn er nervös ist. Kitty und ich sehen uns neugierig an, da platzt es aus ihm heraus: »Ich möchte Trina fragen, ob sie mich heiratet.«
Ich schlage die Hände vor den Mund: »Oh mein Gott!«
Kitty reißt die Augen auf, schleudert ihr Pizzastück weg und kreischt so laut, dass Jamie Fox-Pickle erschrocken aufspringt. Sie wirft sich auf Dad, der lacht. Ich springe ebenfalls auf und schlinge die Arme um ihn.
Ein breites Grinsen klebt auf meinem Gesicht, bis mein Blick auf Margots ausdruckslose Miene fällt. Daddy sieht sie ebenfalls an, hoffnungsvoll und nervös zugleich. »Margot? Was meinst du dazu, Liebes?«
»Ich finde es toll.«
»Wirklich?«
Sie nickt. »Absolut. Ich finde Trina super. Und Kitty, du hast sie doch auch sehr gern, oder?« Kitty ist zu sehr damit beschäftigt, zu quietschen und mit Jamie auf dem Arm herumzuhüpfen, um zu antworten. Leise sagt Margot: »Ich freue mich für dich, Daddy. Wirklich.«
Dieses »Absolut« hat sie verraten. Dad ist zu erleichtert, um es zu merken, aber ich habe es gehört. Natürlich ist es komisch für sie. Sie ist nicht daran gewöhnt, Ms. Rothschild in unserer Küche zu sehen. Sie hat noch nicht mitbekommen, wie gut Ms. Rothschild und Daddy zusammenpassen. Für Margot ist Trina nach wie vor eine Nachbarin, die in Frottee-Hotpants und Bikinitop ihren Rasen mäht.
»Ich brauche eure Hilfe für meinen Heiratsantrag«, meint Dad. »Lara Jean, du hast sicher ein paar Ideen für mich, oder?«
Zuversichtlich sage ich: »Ja, klar. Bei uns in der Schule laufen gerade jeden Tag Aktionen für die Prom-Dates, da kriege ich jede Menge Inspiration.«
Margot lacht, und es klingt beinahe echt. »Bestimmt stellt Daddy sich etwas Anspruchsvolleres vor, als mit Rasierschaum ›Willst du mich heiraten?‹ auf eine Kühlerhaube zu schreiben, Lara Jean.«
»Seit deiner Schulzeit sind die Prom-Einladungen deutlich niveauvoller geworden, Gogo.« Ich spiele mit und necke sie, damit sie die Bombe, die Dad soeben hat platzen lassen, besser verkraftet.
»Zu meiner Zeit? Ich bin gerade mal zwei Jahre älter als du.« Margot bemüht sich, unbeschwert zu klingen, aber ihre Stimme ist angespannt.
»Zwei Jahre sind wie Hundejahre, wenn es um die Highschool geht. Stimmt’s, Kitty?« Ich ziehe meine kleine Schwester zu mir her und drücke sie fest an mich. Sofort windet sie sich aus meinem Griff.
»Ich finde, ihr seid beide uralt«, meint Kitty. »Darf ich dir bei deinem Antrag helfen, Daddy?«
»Natürlich. Ohne euch drei kann ich doch nicht heiraten.« Er bekommt feuchte Augen. »Wir sind doch ein Team, oder?«
Kitty hüpft wie ein kleines Kind auf und ab. »Ja!«, jubelt sie. Sie ist überglücklich, und selbst Margot kann sehen, wie viel ihr das bedeutet.
»Wann willst du sie denn fragen?«, fragt Margot.
»Heute Abend!«, mischt Kitty sich ein.
Tadelnd sehe ich sie an. »Nein! Das ist viel zu wenig Zeit für einen perfekten Antrag. Wir brauchen mindestens eine Woche. Außerdem hat Daddy noch keinen Ring. Moment mal – oder hast du schon einen, Dad?«
Dad nimmt seine Brille ab und fährt sich über die Augen. »Natürlich nicht. Ich wollte erst mit euch Mädchen reden. Ihr sollt alle drei dabei sein, wenn ich sie frage, deshalb warte ich damit, bis du in den Sommerferien wieder hier bist, Margot.«
»Das dauert viel zu lange«, widerspricht Kitty.
»Ja, so lange solltest du nicht warten, Daddy«, stimmt Margot ihr zu.
»Okay, aber dann musst du mir wenigstens helfen, den Ring auszusuchen«, meint er.
»Lara Jean hat ein besseres Auge für so was«, meint Margot heiter. »Außerdem kenne ich Ms. Rothschild kaum. Ich habe wirklich keine Vorstellung davon, was für ein Ring ihr gefallen könnte.«
Ein Schatten huscht über Daddys Gesicht. Vermutlich, weil Margot gesagt hat, sie würde Ms Rothschild kaum kennen.
Hastig knipse ich meine beste Hermine-Stimme an. »Du hast ›keine Vorstellung davon‹?«, necke ich sie. »Hast du vergessen, dass du immer noch Amerikanerin bist, Gogo? In Amerika drücken wir uns nicht so gestelzt aus.«
Sie lacht, wir alle lachen. Dann sagt sie, vermutlich weil sie den Schatten auf Dads Gesicht auch gesehen hat: »Vergesst nicht, jede Menge Fotos zu machen, damit ich es hinterher anschauen kann.«
Dankbar verspricht Dad: »Das machen wir. Am besten, wir filmen das Ganze, wie auch immer es dann aussehen wird. Gott, ich hoffe nur, sie sagt auch Ja!«
»Das wird sie, natürlich sagt sie Ja«, rufen wir im Chor.
Margot und ich packen die übrig gebliebenen Pizzastücke ein.
»Ich habe euch doch gesagt, dass zwei Pizzen zu viel sind«, meckert sie.
»Kitty kann die Reste nach der Schule essen. Peter hilft ihr bestimmt dabei.« Ich schaue zum Wohnzimmer rüber, wo Kitty und Dad sich auf dem Sofa zusammengekuschelt haben und fernsehen. Dann flüstere ich: »Mal ehrlich, wie findest du es, dass Daddy Ms. Rothschild einen Antrag machen will?«
»Ich finde das total daneben«, zischt sie. »Was soll das? Sie wohnt direkt gegenüber! Da könnten sie doch ganz normal wie zwei Erwachsene eine Beziehung führen. Wieso müssen sie unbedingt heiraten?«
»Vielleicht wollen sie einfach, dass es offiziell ist. Oder sie machen es wegen Kitty.«
»Aber sie sind doch noch gar nicht so lange zusammen! Höchstens ein halbes Jahr, oder?«
»Ein bisschen länger. Aber Gogo, sie kennen sich schon seit Jahren.«
Sie stapelt die eingepackten Pizzastücke aufeinander und sagt: »Kannst du dir vorstellen, wie seltsam es sein wird, wenn sie hier wohnt?«
Ihre Frage lässt mich innehalten. Ms. Rothschild ist oft bei uns, aber das ist nicht das Gleiche, wie hier zu wohnen. Sie hat ihre Gewohnheiten und wir haben unsere. Zum Beispiel trägt sie auch im Haus Straßenschuhe, und wir tun das nicht, deshalb zieht sie ihre immer aus, wenn sie zu uns kommt. Und wenn ich recht überlege, fällt mir auf, dass sie noch nie hier übernachtet hat. Sie geht immer spätabends wieder zu sich nach Hause. Das könnte auch merkwürdig sein. Außerdem bewahrt sie ihr Brot im Kühlschrank auf, was ich hasse, und ehrlich gesagt verliert ihre Hündin Simone ganz schön viele Haare. Angeblich hat sie sogar schon mal auf den Teppich gemacht. Aber da ich keinen Studienplatz an der UVA bekommen habe, wohne ich sowieso nicht mehr lange hier – bald werde ich auf dem College sein. »Nach dem Sommer wird keiner von uns beiden mehr richtig hier wohnen«, meine ich schließlich. »Nur Kitty – und die freut sich total.«
Margot antwortet nicht gleich. »Ja, sie scheinen sich sehr nahezustehen.« Sie geht zum Kühlschrank und schafft Platz für die Pizza, dann sagt sie mit dem Rücken zu mir: »Vergiss nicht, wir müssen noch ein Prom-Kleid für dich kaufen, bevor ich abreise.«
»Oh, okay!« Mir kommt es so vor, als wären gerade zwei Sekunden vergangen, seit wir Margots Prom-Kleid gekauft haben, und jetzt bin schon ich an der Reihe.
Dad, der unbemerkt in die Küche gekommen ist, meldet sich. »Was meint ihr, könnte Trina auch mitkommen?« Er mustert mich hoffnungsvoll. Dabei geht es gar nicht um mich. Ich mag Ms. Rothschild. Margot ist diejenige, die noch von ihr überzeugt werden muss.
Margot sieht mich mit großen Augen panisch an.
»Ähm …«, zögere ich. »Ich finde, das ist eine Aktion für uns Song-Mädchen.«
Dad nickt, als würde er das verstehen. »Ah. Kapiert.« Dann sagt er zu Margot: »Vielleicht können wir zwei noch was zusammen unternehmen, bevor du wieder fliegst? Eine kleine Runde mit den Mountainbikes drehen?«
»Klingt gut«, meint sie.
Sobald er uns den Rücken zuwendet, haucht sie »Danke«.
Ich fühle mich so, als hätte ich Ms. Rothschild verraten, aber Margot ist nun mal meine Schwester. Ich muss auf ihrer Seite sein.
Vermutlich hat Margot ein schlechtes Gewissen, weil sie Ms. Rothschild nicht bei unserer Shoppingtour dabeihaben wollte, jedenfalls bemüht sie sich sehr, einen richtigen Event daraus zu machen. Als wir am nächsten Tag nach der Schule ins Einkaufszentrum fahren, verkündet sie, dass jeder von uns zwei Kleider aussuchen dürfe und ich sie alle anprobieren müsse, egal wie ich sie finde, und dann würden wir sie bewerten. Sie hat sogar kleine Papptafeln mit Daumen-hoch- und Daumen-runter-Emojis gebastelt.
In der Umkleide ist es eng, und überall hängen Kleider. Margot überträgt Kitty die Aufgabe, alle Sachen wieder ordentlich auf die Bügel zu hängen, aber die verliert schnell die Lust und spielt lieber Candy Crush auf Margots Handy.
Margot reicht mir eins der beiden Kleider, die sie ausgewählt hat. Es ist ein fließendes schwarzes Kleid mit weiten Flügelärmeln. »Dazu würde eine Hochsteckfrisur passen.«
Ohne den Kopf zu heben, meint Kitty: »Ich finde Locken besser.«
Margot streckt ihr im Spiegel die Zunge raus.
»Ist Schwarz wirklich meine Farbe?«, überlege ich.
»Ich finde, du solltest öfter Schwarz tragen«, sagt Margot. »Das steht dir.«
Kitty kratzt ein Stück Schorf von ihrem Bein. »Wenn ich zum Abschlussball gehe, ziehe ich ein enges Lederkleid an«, verkündet sie.
»Im Mai kann es ganz schön heiß sein«, gebe ich zu bedenken, während Margot den Reißverschluss an meinem Rücken schließt. »Aber beim Homecoming-Ball kannst du ein Lederkleid tragen. Der ist im Oktober.«
Wir mustern mein Spiegelbild. Das Kleid ist an der Taille zu weit, und in dem Schwarz sehe ich aus wie eine Hexe. Eine Hexe in einem zu großen Kleid.
»Ich finde, für dieses Kleid bräuchtest du einen größeren Busen«, sagt Kitty und hält die Daumen-runter-Tafel in die Höhe.
Beleidigt schaue ich sie im Spiegel an. Aber sie hat recht. »Ja, stimmt.«
»Hatte Mommy einen großen Busen?«, fragt Kitty plötzlich.
»Hmm. Ich glaube, er war eher klein«, sagt Margot. »Körbchengröße A vielleicht?«
»Welche Größe hast du?«, will Kitty von ihr wissen.
»B.«
Kitty mustert mich. »Lara Jeans Busen ist winzig, so wie der von Mommy.«
»He, ich habe praktisch Größe B«, protestiere ich. »Ich bin ein großes A. Ein Fast-B. Könnte mir jetzt bitte jemand den Reißverschluss aufmachen?«
»Tri hat einen großen Busen«, erklärt Kitty.
»Ist er echt?«, fragt Margot und zieht den Reißverschluss auf.
Ich steige aus dem Kleid und gebe es Kitty zum Aufhängen. »Ich glaube schon.«
»Der ist echt. Ich habe sie schon im Bikini gesehen, und ihre Brüste sind ganz platt, wenn sie liegt. Daran sieht man das nämlich. Silikonbrüste bleiben, wie sie sind, wie Eiskugeln.« Kitty nimmt wieder Margots Handy. »Außerdem hab ich sie gefragt.«
»Sie hätte es dir bestimmt nicht gesagt, wenn sie Silikonbrüste hätte«, meint Margot.
Kitty funkelt sie zornig an. »Trina belügt mich nicht.«
»Ich sage ja nicht, dass sie lügen würde; ich sage nur, dass sie es vielleicht für sich behält, wenn sie eine Schönheits-OP hatte. Das ist ihr gutes Recht!«
Kitty zuckt nur kühl mit den Schultern.
Um von Ms. Rothschilds Brüsten abzulenken, ziehe ich schnell das nächste Kleid an. »Wie findet ihr das?«
Beide schütteln den Kopf und greifen gleichzeitig nach den Daumen-runter-Tafeln. Wenigstens darin sind sie sich einig.
»Wo sind meine Kleider? Zieh mal eines von meinen an.« Kitty hat ein hautenges weißes Bandage-Kleid ausgewählt, das ich in einer Million Jahre nicht anziehen würde, was sie auch genau weiß. »Ich möchte nur mal sehen, wie du darin aussiehst.«
Ich probiere es an, um sie zu besänftigen, und Kitty besteht darauf, dass es das schönste Kleid von allen ist, weil sie die Siegerauswahl treffen will. Am Ende gefällt mir keins der Kleider so richtig, aber das stört mich nicht. Der Prom ist erst in über einem Monat, und ich will noch in ein paar Secondhandläden stöbern, bevor ich etwas Neues kaufe. Ich finde die Vorstellung schön, ein Kleid zu tragen, das eine Vergangenheit hat, das besondere Orte gesehen und viel erlebt hat, ein Kleid, das von einem Mädchen wie Stormy auf einem Ball getragen wurde.
Bevor Margot am nächsten Morgen nach Schottland zurückfliegt, muss ich ihr versprechen, Bilder von den Kleidern zu schicken, die in die engere Wahl kommen, damit sie mitreden kann. Sie verliert kein Wort mehr über Ms. Rothschild, aber das habe ich auch nicht erwartet. Das ist nicht ihr Stil.